Anders Werden
Journal zur Übersetzung von Davi Kopenawa und Bruce Albert: Der Sturz des Himmels. Worte eines Yanomami-Schamanen
Deinem eigenen Gedanken Glauben zu schenken,
zu glauben, dass das, was für dein persönliches Herz wahr ist,
für alle Menschen wahr ist, das ist Genius.
R. W. Emerson
Was, wenn das, was sich der Übersetzung entzieht,
die Idee des Universalismus selbst ist?
O. Boehm
Und jeder Zwischenraum ob groß oder klein ist beseelt.
Plotin
Der Atem unseres Lebens ist viel mehr wert als das!
D. Kopenawa
I. Schamanisches Poem und kosmopolitisches Manifest
Ich besitze keine alten Bücher* wie die Weißen, in denen die Zeichnungen der Lehren meiner Vorfahren festgehalten sind. Die Worte der xapiri sind in meinem Geist, in meinem tiefsten Innern, verankert. Es sind die Worte Omamas. Sie sind sehr alt, doch die Schamanen erneuern sie ständig. Diese Worte haben den Wald und seine Bewohner von Anbeginn beschützt. Heute ist es an mir, sie zu besitzen. Später werden sie in den Geist meiner Kinder und meiner Schwiegerkinder eindringen und wiederum später in die Gedanken ihrer Kinder und Schwiegerkinder. Dann ist es an ihnen, sie zu erneuern. Anschließend wird es immer und immer wieder auf dieselbe Weise weitergehen. [...] Sie sind es, die ich dich bat, auf diesem Papier festzuhalten, um sie dann den Weißen zu geben, die bereit sind, ihre Spuren und Muster kennenzulernen. Vielleicht werden sie am Ende doch auf die Erzählungen der Bewohner des Waldes hören und beginnen, gerader über sie zu denken?
Davi Kopenawa (Der Sturz des Himmels, S. 80)
„Gegebene Worte“
„Ich, ein Yanomami, übergebe Euch, den Weißen, diese von mir kommende Bilderhaut.“
Als diese von Davi Kopenawa kommende Bilderhaut1 mich während des Corona-Lockdowns in Form eines mehr als tausendseitigen französischen Buchs mit dem Titel La chute du ciel. Paroles d’un chaman Yanomami erreichte, war mir nicht bewusst, auf welches Abenteuer ich mich mit seiner Übersetzung auf Anfrage des Verlegers Andreas Rötzer einlassen würde. Ein Abenteuer, bei dem ich Davi Kopenawa, dem inzwischen weltweit bekannten Schamanen und Wortführer der Yanomami in Brasilien, und dem französischen Anthropologen Bruce Albert – den beiden Autoren des Buches – folgen würde. Insbesondere der Erzählung ihres seit nunmehr vier Jahrzehnten geführten gemeinsamen Kampfes um den Erhalt des Amazonas-Regenwaldes. Und dabei sollte ich die mir damals noch gänzlich unbekannte Wald-Welt der xapiri-Geister, Urihi, den Lebensraum der Yanomami, kennenlernen. Eine Begegnung, die, um es in Davi Kopenawas Worten auszudrücken, uns Anders Werden ließ, denn Tim Trzaskalik und ich machten uns gemeinsam daran, dieses – in vielerlei Hinsicht – große Werk zu übersetzen: Drei Jahre Arbeit, intensiver Austausch und permanentes „Studieren“ und Lernen!
Davi Kopenawa, Bruce Albert: Der Sturz des Himmels. Worte eines Yanomami-Schamanen. Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer und Tim Trzaskalik. Matthes & Seitz Berlin, 2024.
„Wenn Ich ein anderer ist (und umgekehrt). Die Abenteuer eines Manuskripts“
Zuallererst aber waren es Davi Kopenawa und Bruce Albert, die mit diesem gemeinsamen Buch ein Abenteuer wagten. Albert bezeichnet es in seinem Postskriptum als solches, wenn er die „Herstellung des Textes“ beschreibt. Entstanden ist dieses vielschichtige Werk aus der jahrzehntelangen Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen dem Schamanen und dem Anthropologen. Im Rahmen ihres Engagements für die Rechte der Indigenen2 wird ihnen zusehends klar, wie wichtig es ist, „den Weißen“ das Denken der Yanomami vorzustellen.3 Und das bedeutet, es in zugänglicher Form zu verschriftlichen. Zwischen 1989 und 2001 führen sie in unregelmäßigen Abständen Gespräche auf Yanomami, die sie auf Tonband aufnehmen. Albert transkribiert dieses Material, annähernd 100 Stunden auf Yanomami – in einer Umschrift, die er selbst mitentwickelt hat und die seit 1995 in den Schulen vor Ort gelehrt wird –, um damit auf Betreiben Davi Kopenawas eine Erzählung auf Französisch in der Ich-Perspektive, also als Davi Kopenawa, zu schreiben. Diesem poetischen Kernstück von ungefähr 550 Seiten – in ihm wird Kopenawas persönliche Geschichte erzählt: seine ersten Kontakte zu den Weißen, sein Versuch, „selbst ein Weißer zu werden“, seine Abkehr davon, seine schamanische Initiation und Lehre, sein gesammeltes Wissen, die Kosmologie seines Volkes, und insbesondere seine entschlossene Verteidigung der Geschichte und der Rechte der sogenannten „indigenen“ Völker, seine strikte Verurteilung der Verwüstung des Lebendigen durch „die Weißen“. Alledem verleiht Bruce Albert einen Rahmen in Form von zwei dialogisch und chiastisch montierten Vorworten sowie zwei Nachworten. Außerdem schreibt er einen 250 Seiten umfassenden Anhang mit ausführlichen Anmerkungen zu jedem Kapitel. Er stellt die Sprache sowie die Redensarten der Yanomami vor, beschreibt ihre politische Situation in Brasilien und erhellt ihre Sitten und Bräuche. So erklingt eine Art zweiter Geschichte in der Geschichte, eine zweite Stimme in der Erzählstimme. Hinzukommen ein ethnobiologisches und ein geografisches Glossar, eine einschlägige Bibliografie, thematische Register und Karten. Zudem akzentuieren zahlreiche Zeichnungen von Davi Kopenawa den Text und es gibt einen Bildteil mit großartigen Fotos.
Claudia Andujar – Napëyoma
Neben den Zeichnungen von Davi Kopenawa wird der Text ergänzt von einer umfangreichen Serie mit Fotografien, u.a. von Claudia Andujar, der heute berühmten Fotografin.
So ist in mehr als 20 Jahren Entstehungszeit ein einzigartiges poetisches Werk entstanden, eine kooperative Gegen-Anthropologie, die, man kann es ohne Übertreibung sagen, die Ethnografie revolutioniert. Denn hier beschreibt nicht ein Ethnologe, Ethnograf oder Anthropologe die Indigenen, sondern ein indigener Schamane „gibt seine Worte den Weißen“, damit sie gehört und verstanden werden! „Ein neues Genre indigenen philosophischen Denkens“ (New York Review Of Books), eine für das Menschheitsgedächtnis bedeutende Erzählung, ein schamanisches Poem und kosmopolitisches Manifest. Das Gemeinschaftsprojekt zweier Denker, die einen „ethnografischen, politischen und literarischen Pakt“ eingehen, in der Überzeugung, dass Worte wirken, die Welt verändern, und die beide – so pathetisch es klingen mag – dieser Sache ihr Leben widmen.
„Letztlich ist dieses Buch also ein »zu zweit geschriebener-gesprochener Text« – ein Gemeinschaftswerk, in dem zwei Personen – der Autor der übermittelten Worte (die ihrer Verschriftlichung vorausgegangen sind und über sie hinausreichen) und der Autor dieser Verschriftlichung (der den Stoff, so wie er zu einem gegebenen Zeitpunkt fixiert vorlag, neu zusammensetzt) – danach streben, nur eine Person zu sein. [...]
Man hört folglich einem Autoethnograf gewordenen kollektiven Ich zu, das von dem zugleich intellektuellen, ästhetischen und politischen Begehren angetrieben ist, das kosmologische Wissen und die tragische Geschichte der Seinen denjenigen Weißen nahezubringen, die imstande sind, dieses Ich zu verstehen.“ (S. 680ff.)
Weltbuch. Schamanischer Universalismus und Übersetzen als Teilnahme
Der Impuls war Kopenawas Drang, den Weißen seine Worte „zu geben“; er benutzt den Anthropologen ganz bewusst dazu und verkehrt die in der Anthropologie – noch immer – gängige Bewegung. Bruce Albert hob es bereits in einem 1997 veröffentlichten Artikel hervor4: Für den Ethnologen (Ethnografen oder Anthropologen) kann es heute nicht mehr darum gehen, sich in, wie Bronislaw Malinowski es nannte, teilnehmender Beobachtung zu üben. Er muss zum beobachtenden Teilnehmer werden. Dies gilt ebenso für uns, die Übersetzer·innen von La chute du ciel, einem Buch, dessen Anliegen insbesondere darin besteht, über die Verbrechen in Kenntnis zu setzen, die „einst“ verübt wurden und die heute in weitaus größerem Maßstab tagein tagaus verübt werden, jetzt, in diesem Moment, da wir diese Zeilen schreiben, in all der Zeit, während wir übersetzt haben. Als Übersetzer und Übersetzerin sind wir Teilnehmer im politischen Überlebenskampf der Yanomami, der sogenannten „indigenen“ Völker, wobei dieser Kampf auf mehr oder minder lange Sicht im Grunde ein Kampf um „unser“ Überleben ist.5
Und wir werden Akteure dieses politischen und literarischen Projektes, das nichts Geringeres sein möchte als ein Weltbuch, das sich „an alle“ wendet! Denn wie fremdartig uns die darin geschilderte Welt der xapiri-Geister auch erscheinen mag, mit den das Buch eröffnenden „Gegebenen Worten“ wird eine explizite Stoßrichtung klar: Es handelt sich um ein Manifest für einen – wenn nicht gar für den – Universalismus. Er ist die Bedingung der Möglichkeit für das, was das Buch bewirken möchte im Denken jener, die keine Yanomami sind. Sie sollen diese Worte verstehen und sich sagen:
„Die Yanomami sind ganz anders als wir, doch ihre Worte sind gerade und klar. Jetzt verstehen wir, was sie denken. Es sind Worte der Wahrheit! Ihr Wald ist sehr schön und ruhig. Sie wurden dort erschaffen und leben dort seit Anbeginn der Zeit ohne Angst um ihre Existenz. Ihr Denken folgt anderen Wegen als denen der Waren. Sie wollen so leben, wie es ihnen entspricht. Ihre Bräuche* sind anders. Sie besitzen keine Bilderhäute, dafür kennen sie die xapiri-Geister und ihre Gesänge. Sie wollen ihr Land verteidigen, weil sie dort weiterhin so leben möchten wie früher. Und so soll es auch sein!“ (S. 78f.)
Eine selbstbewusste Behauptung des Fremd- und Andersseins! Die Andersheit steht für Eigenständigkeit und für ein wertvolles, grundlegendes Wissen. Das Konzept des Anders-Werdens, wörtlich: »den Wert des Anderen annehmen«, ist dagegen ein komplexer Prozess: die in der schamanischen Lehre durch die halluzinogene Wirkung des yãkoana-Pulvers hervorgerufene Veränderung und Erweiterung der Bewusstseinszustände. Dieses Anders-Werden ist die Bedingung für Schöpfung, Transformation, Fruchtbarkeit und Erkenntnis. Mehrfach vergleicht Kopenawa es mit dem, was in unserer Welt „Studieren“ genannt wird, womit er zu verstehen gibt, dass es sich um einen Erkenntnisprozess handelt, der sich als solcher, so besonders er in formaler Hinsicht auch sein mag, mit anderen Erkenntnisprozessen in Beziehung setzen lässt. Es gibt nur einen Diskurs ...
Sosehr Davi Kopenawa immer wieder dieses der schamanischen Lehre wesentliche Anders-Werden hervorhebt, so sehr lässt er sich selbst wiederum auf etwas ein, das aus seiner Sicht als ganz Anderes gelten darf: auf die Bilderhaut. Mit seinem Manifest bezeugt Kopenawa sein Vertrauen in dieses „andere“, ihm fremde Medium. La chute du ciel erschien 2010 in der renommierten anthropologischen Buchreihe Terre Humaine der Éditions Plon, in der als große Klassiker geltende Werke wie Claude Lévi-Strauss‘ Traurige Tropen publiziert sind. Bei Terre Humaine Poche wurde dann 2014 die leicht überarbeitete Taschenbuchausgabe publiziert, die unsere Textgrundlage war.
Davi Kopenawa wird von Javier Pérez de Cuéllar, Generalsekretär der Vereinten Nationen, in New York empfangen, 1991.
©J. Daher
II. Die Übersetzung einer Übersetzung einer Übersetzung
„Wenn du meine Worte nehmen willst, zerstöre sie nicht. Es sind die Worte Omamas* und der xapiri.“ (S. 77)
Diese Originalversion stellt, wie eingangs angezeigt, an sich schon eine Übersetzung dar. Alle am Buch Beteiligten übersetzen! Wenn „der Schamanismus im Wesentlichen eine kosmische Diplomatie zur Übersetzung ontologisch disparater Standpunkte ist“6, dann beruht La chute du ciel auf der mündlichen Übersetzung in Yanomami der Worte Omamas, des Schöpfers, und der Gesänge der xapiri, wie sie vom „kosmischen Diplomaten“ Kopenawa formuliert wurde, die dann von Bruce Albert transkribiert und schließlich ins Französische übersetzend neugeschrieben wurde. Folglich übersetzen wir als deutsche Übersetzer·innen die übersetzende Neuschreibung einer Transkription einer Übersetzung.
Und wir gehen – ebenso als Duo – einen übersetzerischen Pakt ein: Den universalistischen Anspruch Kopenawas ernst zu nehmen und zu verstehen, wie er sich zum partikularen Gehalt seiner Aussagen über die Wald-Welt der Geister verhält – so könnten wir die Aufgabe bestimmen, die sich uns dabei durchgängig stellt. Wie auch Bruce Albert werden wir beim Übersetzen zu Lernenden, die der Erzähler Kopenawa lehrt, was die xapiri lehren. „Lerne“ – so lautet der Imperativ des Gelesenen und zwar umso mehr, als das Buch selbst aus einer Folge von Lehren und Initiationen hervorgegangen ist. Lernen ist eines der Schlüsselworte des gesamten Werks, in dem Kopenawa eindrücklich darstellt, wie die Yanomami „studieren“ und lernen. Dieses Lernen ist für ihn die grundlegende Bedingung jeder Form von Erkenntnis. Und es impliziert eine Forderung an die Weißen: Es fordert sie zum Umlernen auf.
Mehr noch als bei anderen Übersetzungen ist Lernen, lernend anders werden, für die zu bewältigende Aufgabe unerlässlich. Und genau wie bei allen Übersetzungen heißt Übersetzen zunächst Lesen. Neben dem Eintauchen in die schwindelerregende Logik des animistischen Denkens der Indigenen in Südamerika7 heißt es, uns einlesen in das zu übersetzende Werk, uns einlassen auf diese Worte aus der fremdartigen Wald-Welt, auf diese Stimme, diese Sprache, diese Übersetzung, versuchen zu verstehen, was in ihr gesagt wird, was impliziert wird, sehen, wie sie gemacht ist; lesend Bruce Albert und dem Werden des Textes folgen, in dieses Werden eintreten und dabei anders werden; und je mehr wir anders / zu Anderen8 werden, desto besser lesen, desto besser verstehen wir.
Danach den Schritt wagen und anfangen, unsere Lektüre der zu übersetzenden Rede, unsere Vision über das Wie-es-gemacht-ist wiederzugeben.9
Davi Kopenawas Schwiegervater, ein angesehener Schamane und »großer Mann« der Gemeinde von Watoriki, 2008.
©R. Depardon, Palmeraie et désert
III. In der Übersetzerwerkstatt
Bruce Alberts Mittelweg
Ein Schritt, bei dem wir beherzt Bruce Albert folgen können, der eine uns überzeugende „experimentelle Schreibweise“ erfindet und sich beim Übersetzen seines Yanomami-Transkripts für einen „Mittelweg“ entschieden hat:
„Im Übrigen habe ich eine sehr große Vertrautheit mit Davi Kopenawas singulärer Sprechweise erlangt, denn ich habe ihm ja über Hunderte von Stunden unentwegt zugehört, als ich akribisch unsere Gespräche transkribierte. Vor diesem Hintergrund habe ich mich also dazu autorisiert, beim Übersetzen seiner Zeugenschaft einen »Mittelweg« einzuschlagen zwischen Wörtlichkeit, die Gefahr läuft, zur Karikatur zu werden, und literarischer Transposition, die sich viel zu weit von den sprachlichen Konstruktionen in Yanomami entfernen würde.“ (S. 690)
Bruce Albert übersetzt Kopenawas Worte aus dem Yanomami, „um ihre poetische Sensibilität und konzeptionelle Dichte in einer Übersetzung wiederzugeben, die so nah wie möglich an seinen Worten bleibt, dabei jedoch ganz offenkundig eine Schreib- und Kompositionsform verwendet, die sie einem nichtspezialisierten Publikum leichter zugänglich macht.“ (S. 62) Wir sind diesem Prinzip der Übersetzung gefolgt und haben vor allem die Bilder und Ausdrücke ernst genommen, die offensichtlich Yanomami-Konzepte ausdrücken, wie zum Beispiel das geistige Stärke und Klarheit beschreibende „gerade denken“ und das gegenteilige „Denken voller Vergessen“ oder die „Wiedergängersprache“ für unbeholfenes, unangemessenes Sprechen und den „Wiedergängerzustand“ für ebensolches Verhalten. Die Tatsache, dass bei Angst „der Magen in sich zusammen fällt“, ebenso wie jene, dass das Gedächtnis der Weißen „zwar erfinderisch [ist], doch verwoben mit verräucherten und dunklen Worten“.
Gleichwohl lesen wir im Französischen in großen Teilen eine relativ klassische Sprache, die jedoch kunstvoll mit solchen Wendungen aus dem Yanomami und den Charakteristika von Davi Kopenawas singulärer und schillernder Rede durchzogen ist. Eine faszinierend mehrstimmige Textur. Die übersetzerische Herausforderung dabei war es, den Ton von Kopenawas mündlicher Ausdrucksweise zu treffen. Er spricht zwar umgangssprachlich, einfach, bildhaft, emotional und appellierend, aber:
„Es konnte nicht infrage kommen, nach einer zugleich umgangssprachlichen und exotisierenden »Behelfssprache« zu streben. Davi Kopenawa ist ein Schamane, das heißt ein intellektueller Yanomami, der sich als solcher in seiner Sprache ausdrückt. Doch ebenso ausgeschlossen war es, auf einen besonderen und zu affektierten Stil zurückzugreifen, der unseren standardisierten literarischen Diskurs simulieren würde.“ (S. 692)
Mit anderen Worten: Es gilt unbedingt, eine Stilisierung des Sprechers zum „edlen Wilden“ zu vermeiden, aber er darf auch nicht überzogen westlich intellektuell klingen. Allerdings müssen wir in unserer Übersetzung das Verhältnis Yanomami-Deutsch neu und eigenständig austarieren und dazu spezifische Paradigmen erfinden.
Zu bedenken gilt auch, dass das Französische – mehr als das Deutsche – eine klassische Sprache der Anthropologie ist – einer in ihrer Geschichte und in ihrem Wesen kolonialistischen und kolonisierenden Wissenschaft – und diese Geschichte mit sich trägt. Ein anschauliches Beispiel dafür ist Bruce Alberts konsequente Verwendung des französischen „indien“ anstatt des heute als politisch korrekt erachteten „indigène“, da Letzteres unmittelbar aus der sich in den Mantel einer Wissenschaft hüllenden kolonialistischen Anthropologie in französischer Sprache hervorgegangen ist. Mithin also eine „französische“ Entscheidung, die wir als solche nicht „verdeutschen“ konnten. Wir übersetzen „indiens“ als Selbstbezeichnung von Davi Kopenawa wie auch als historischen Begriff in Zitaten aus Medien, Missionsberichten, Papieren der FUNAI oder ähnlichen Dokumenten aus jener Zeit – in Absprache mit den Autoren – mit »Indianer«. Wo dieses Wort im französischen Original eher deskriptiv verwendet wird, greifen wir dafür entweder auf den heute im Deutschen im Allgemeinen als neutraler geltenden Begriff »Indigene« zurück, meist aber auf den Eigennamen der jeweiligen »indigenen« Gruppe.
Als übersetzende Teilnehmer·innen sind wir dazu verpflichtet, in der deutschen Sprache die alterierenden Eingriffe wiederzugeben, die Bruce Albert in der französischen Sprache mit seinem experimentellen Schreiben an der Sprache der klassischen Anthropologie vornimmt. Wobei Albert, der Übersetzer, uns dazu mit den Erläuterungen zu seinen eigenen Entscheidungen in gewisser Weise die Wegweiser mit an die Hand gibt: Neben dem Kurs des oben bereits erwähnten Mittelwegs, auf dem die Klippen der „unzulässigen Folklorisierung“ und der „literarischen Transposition“ (S. 690) umschifft werden, wären hier anzuführen: der dem militanten Anliegen geschuldete quasi-absolute Vorrang der Lesbarkeit; der Verzicht darauf, für die singulärsten und unübersetzbarsten Ausdrücke in Yanomami Äquivalente auf Deutsch zu suchen und stattdessen Paraphrasen zu erschaffen, die sich „dem System der Metaphern innerhalb der Sprache der Yanomami anschmiegen“ (S. 691); nach Möglichkeit idiomatische Wendungen des Deutschen vermeiden. Lauter kostbare Hinweise für die formale oder technische Seite unserer Arbeit.
Was unsere Zusammenarbeit anbelangt, so haben wir die Kapitel unter uns aufgeteilt, dann hat jeder seinen Teil übersetzt, diese Übersetzung haben wir uns zugesandt, der / die jeweils andere hat diese lektoriert und diese Version sind wir dann wieder miteinander – via Videotelefonie10 – durchgegangen, und dies mehrere Male. Wir haben uns die gesamte Übersetzung des poetischen Kernstücks auch laut vorgelesen, zuletzt in täglichen stundenlangen Video-Sitzungen. Am Ende haben wir nochmals gemeinsam eine Woche an einem Ort vereint und live am ganzen Text zusammengearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt hätten wir schon nicht mehr auswendig sagen können, wer was ursprünglich übersetzt hat ... Ein aufwändiges Vorgehen von Verifizieren, Umschreiben, Diskutieren mit Bruce Albert und uns darüber austauschen und schreiben und lesen und hinterfragen und wiederlesen und dies über viele, viele Durchgänge! So entstand unser „Mittelweg“, keineswegs im Sinne eines Kompromisses, sondern als das uns übersetzerisch Überzeugende, Notwendige. Dabei erwies sich der Austausch als essenziell und fruchtbar für das Prinzip: Mittelweg und Mischsprache!
Davi Kopenawas Mischsprache
Denn neben Alberts Mittelweg galt es auch, Kopenawas „Mischsprache“ ins Deutsche zu übertragen.
In einem Interview mit einem Vertreter der American Anthropological Association erklärt Davi Kopenawa seine Verwendung des Begriffs »Geist« auf Portugiesisch wie folgt: »[…] ›espírito‹ ist kein Wort aus meiner Sprache. Ich habe es gelernt und verwende es in der von mir erfundenen Mischsprache (um mit Weißen über diese Dinge zu sprechen) […]« (zitiert nach Der Sturz des Himmels, S. 699 f.)
Der Sprecher Davi Kopenawa, der uns seine Worte gibt, reflektiert das auch im Text. Immer wieder erläutert er das Intervall zwischen seinen beiden Sprachen, zwischen seiner Muttersprache Yanomami und der Sprache der Weißen, dem brasilianischen Portugiesisch, das er sich angeeignet hat – das Intervall, in dem er als Dolmetscher und als Wortführer der Yanomami lebt. Es ist dieses Intervall selbst, das die Geschichte ebenso veranschaulicht wie in Erinnerung behält, insbesondere die Geschichte des Einfalls der Weißen in die Geschichte der Yanomami ... Es geht hier nicht nur um die zahlreichen modernen Ausdrücke, die es auf Yanomami nicht gibt oder nicht gab, wie zum Beispiel Blechdosen*, Plastik*, Medikamente*, Autos*, Flugzeuge*, Museum* – alle diese aus dem Portugiesischen in seine Muttersprache übernommenen Worte werden im Buch bei ihrem ersten Vorkommen mit Asterisk gekennzeichnet – sondern auch, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen, um das gesamte „theologische“ Vokabular der Missionare.
Zur von Bruce Albert komponierten Mischsprache von Davi Kopenawa gehört neben den als solchen gekennzeichneten Worten aus dem brasilianischen Portugiesisch die ungemeine Vielzahl der im französischen Originaltext präsenten Worte oder Ausdrücke auf Yanomami wie die Tier- und Pflanzennamen oder Bezeichnungen von Geistern oder Zeremonien. Diese Worte oder Begriffe entfalten in ihrer Klanglichkeit und Materialität eine genuine poetische Wirkungskraft.
Im Besonderen gilt das nach unserem Ermessen für die zahlreichen Interjektionen, mit denen Albert Kopenawas Rede gleichsam skandiert und die häufig zur Einführung von Zitaten und wichtigen Themen dienen. Diese lauten: asi!, das Wut anzeigt; awe!, das Zustimmung signalisiert; haixopë!, das die positive Reaktion auf eine Information ausdrückt; ha!, das Überraschung markiert; hou!, das Irritation bezeichnet; ma!, das Missbilligung ausdrückt und schließlich oae!, das eine plötzliche Rückerinnerung anzeigt. Sie werden durch Anmerkungen im Anhang erläutert.
Faszinierend, wie schnell wir diese Interjektionen verinnerlichen und auch alle anderen Ausdrücke auf Yanomami verstehen und sie als produktives Element in die Übersetzung einpassen können. So ist ein mehrsprachiger Text entstanden, in dem das Yanomami als eigenständige Sprache überaus präsent ist und sich den Lesenden zumindest in Versatzstücken erschließt. Freilich müssen diese Wendungen und Ausdrücke aus dem Yanomami dazu so in den deutschen Text integriert werden, dass es funktioniert, entweder als Komposita, mit Adjektiven oder mit deutschen Ergänzungen; wir haben dazu ein durchgängiges, schlüssiges System erschaffen:
„Unter diesen Vogelgeistern sind die der yõrixiama-Amseln wahrlich die Schwiegerväter der Gesänge, ihre wahren Meister*. Diese xapiri sind das Bild der Vögel, deren harmonischen Ruf man morgens und abends im Wald hört. So ist es. Alle xapiri haben ihre eigenen Gesänge: Die Geister der Tukane und Arassari-Vögel, die Geister der Papageien, die Geister des kleinen Aras wete mo, die der xotokoma- und yõriama-Vögel und all die anderen! Die Gesänge der xapiri sind so zahlreich wie die paa hana-Palmblätter, die wir sammeln, um die Dächer unserer Häuser zu decken, und sogar noch zahlreicher als alle Weißen zusammen! Deshalb sind ihre Worte unerschöpflich!“ (S. 143)
Des Weiteren war für uns bei all den Fragen, die sich zur Integrierung der Yanomami-Worte stellten, der Austausch mit der Ethnologin Gabriele Herzog-Schröder über anthropologische Fragen sehr hilfreich. Sie, die mit den Yanomami seit Jahrzehnten vertraut ist, hat uns nicht nur wichtige Hinweise und die korrekten Begriffe für Verwandtschaftsbezeichnungen, Riten und Dienste (z. B. den Brautdienst turahamu) gegeben sowie unsere übersetzten Glossare gegengelesen, sondern hat uns darüber hinaus in unserer „poetischen Mischung“ bestärkt.
Übersetzen als Aktualisieren und Weiterschreiben
Bei diesem Werk mit einer intendierten großen politischen Wirkung und Reichweite ist die Aktualität von Bedeutung, damit es „lebendig“ bleibt und wirken kann. So sind wir schnell in direkten Austausch mit Bruce Albert getreten: mit unseren inhaltlichen Fragen ebenso wie mit Aktualisierungen. Er gab uns Hinweise auf verlässliche Quellen, z. B. das Instituto Socioambiental und die Yanomami-Organisation Hutukara.
Im Zuge der Vorbereitung einer spanischen Ausgabe hat Albert im Frühjahr 2023 zahlreiche inhaltliche Aktualisierungen vorgenommen sowie insbesondere sein Nachwort und den Anhang zur Sprache der Yanomami zum Teil beträchtlich überarbeitet. Wir haben sowohl diese Überarbeitungen als auch weitere inhaltliche oder semantische Aktualisierungen im engen Austausch mit ihm bei unserer Übersetzung miteinbezogen.
Auch das Vorwort von Eduardo Viveiro de Castro für die brasilianische Ausgabe haben wir in Absprache mit unserem Verleger – in der Übersetzung von Marie Trzaskalik – in die deutsche Fassung aufgenommen.
Somit ist das Buch anders geworden. Man kann sicher sagen, dass die deutsche Ausgabe derzeit am vollständigsten und aktuellsten ist. Dieser Prozess ist für die politische Wirkung und Reichweite ebenso von Bedeutung wie auch für das literarische Projekt, das die Autoren erschaffen: Eine Übersetzung einer Übersetzung einer Übersetzung. Übersetzen als Aktualisieren und Weiterschreiben, damit die Worte lebendig bleiben, damit ihre Kraft in unserer Welt wirken kann. Das Prinzip des Übersetzens selbst, die vielen zeitlich versetzten Übersetzungen von La chute du ciel, machen aus ihm das intendierte Weltbuch. Dies ist die Chance des Übersetzens im Sinne Édouard Glissants, als „eine Kunst der Kreuzung und Vermischung, [...] die nach dem Welt-Ganzen strebt“.
IV. Ausblick
Davi Kopenawas Mission
Davi Kopenawa, im unermüdlichen Einsatz für die Sache der Yanomami, ist im September 2024 zur Buchpräsentation von Der Sturz des Himmels in Berlin (Frankfurt und Heidelberg) und zur Amazonienwoche eigens aus Brasilien nach Deutschland gekommen, um seine Botschaft zu verbreiten. Diese Begegnung war für uns ebenso bewegend wie inspirierend und ermutigend. Wenn es auch beeindruckend ist, ihn als begnadeten Redner zu erleben, der sein Publikum völlig in Bann zieht, so ist für den Aktivisten Kopenawa das Buch nicht minder wichtig! Am 18. September 2024 fand in der Brasilianischen Botschaft in Berlin die gemeinsame Buchvorstellung statt, eine lebendige, fesselnde Veranstaltung, bei der Kopenawa deutlich machte, dass er weiter an die Wirkungskraft der Bilderhaut glaubt. Sehr viel weniger allerdings glaubt er an die Lernfähigkeit der Weißen!
Dennoch ist er entschieden, weiterzumachen. Und wir können nur sagen: Solange Davi Kopenawa und Bruce Albert Bücher „an die Weißen“ veröffentlichen, wollen wir ihre deutsche Stimme sein und sie übersetzen!
Der Geist und die Botschaft des Waldes
Morzaniel Iramami Yanomami: Urihi Haromatipë – Curadores da terra floresta (2014)
Raymond Depardon: Chasseurs et chamans (2003)
Right Livelihood Award: Davi Kopenawas Dankesrede (2019)
Democracy Now!: Interview mit Davi Kopenawa (2019)