„Als Hirn und Zunge zusammenfanden“
Überlegungen zum Übersetzen exophoner Literatur am Beispiel des englischen Romans Wo die Wasser sich begegnen der chinesischen Autorin Zhang Ling
Exophonie oder translinguales Schreiben – der Vorgang, dass Autorinnen und Autoren für ihre literarischen Texte eine andere Sprache als die Muttersprache verwenden – ist nicht neu. Joseph Conrad und Vladimir Nabokov haben die anglo-amerikanische Literatur um unsterbliche Romane bereichert, und die Gedichte eines Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt alias Adelbert von Chamisso gehören zum deutschen Lyrikkanon.
Gründe für einen solchen Sprachwechsel gibt es viele, und er geschieht nicht immer aus freien Stücken. „Der ausgewanderte Autor“ – so der Titel eines Essaybands von Ha Jin zum Thema1 – distanziert sich notgedrungen von seiner Muttersprache und dem damit verbundenen „mindset“, weil er/sie sich im Vaterland politischer Verfolgung ausgesetzt sieht. In einer sogenannten „kleinen Sprache“ Schreibende möchten sich neue Publikationsmöglichkeiten eröffnen und eine größere Leserschaft erreichen. Es gibt aber auch Autorinnen und Autoren, die den Sprachwechsel ganz bewusst zum literarischen Programm machen, um ihren Schreibstil durch die Widerständigkeit einer Fremdsprache zu dekonstruieren und neu zu erfinden: „A new language is almost a new life, grammer and syntax recast you, you slip into another logic and another sensibility“, sagt dazu die amerikanische, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autorin mit bengalischen Wurzeln Jhumpa Lahiri, die seit einigen Jahren konsequent auf Italienisch schreibt, eine Sprache, die sie sich erst als Erwachsene angeeignet hat.2
In Zeiten, in denen das Einsprachigkeitsparadigma und das Konzept der Nationalliteratur aufgegeben werden und das Schreiben „Beyond the Mother Tongue“ (Yasemin Yildiz, 2012) immer mehr in den Blick gerät, lohnt es sich, den Sprachabenteuern von Sprachwechslern nachzugehen. Zumal dann, wenn der Text einen weiteren sprachlichen und kulturellen Horizont überschreitet, denn auch wir literarische Übersetzer·innen bekommen es immer häufiger mit solchen Texten zu tun, und müssen uns fragen, wie wir sie in einen dritten Sprach- und Kulturraum übertragen und was es dabei zu beachten gilt.
Sofern man die Muttersprache der Autorin oder des Autors beherrscht, wird der muttersprachliche Hintergrund automatisch mitgedacht. Der Übersetzungsprozess findet also in einem sprachlichen Dreieck statt. Und wie bei jeder Dreiecksbeziehung muss ich mich fragen, wo die eigenen Loyalitäten liegen und wie sie gewichtet werden. Mein erster Übersetzungsauftrag dieser Art im Jahr 2000 war die Übersetzung von „Waiting“, der auf Englisch verfasste Roman des chinesischen Autors Ha Jin. Schon damals hat mich dieser sehr spezielle Übersetzungsvorgang fasziniert.3
In meinem weiteren Arbeitsleben habe ich dann immer wieder Romane von Autor·innen übersetzt, die zeitweilig oder dauerhaft vom Chinesischen ins Englische (meine beiden Arbeitssprachen) gewechselt sind – Ha Jin, Qiu Xiaolong und Zhang Ailing. Das hat immer besonderen Spaß gemacht, denn bei der Arbeit an solchen Texten konnte ich neben dem sprachlichen Hintergrundwissen auch Kenntnisse über die Kultur mit einbringen, aus dem die Schreibenden kommen.
Es hat mich daher gefreut, als der C.H.Beck Verlag anfragte, ob ich Where Waters Meet für deren kleines, aber feines literarisches Programm übersetzen wolle. Es handelt sich um den ersten auf Englisch verfassten Roman der in Toronto lebenden, in China aber bereits vielfach publizierten und ausgezeichneten Autorin Zhang Ling. Ich möchte die Arbeit an diesem literarisch anspruchsvollen und stilistisch experimentierfreudigen Buch zum Anlass nehmen, mir noch einmal Gedanken darüber zu machen, wie sich die Besonderheiten eines solchen Textes auf die Übertragung in eine Drittsprache auswirken, und hoffe, dass sich einiges davon auch auf andere Sprachkombinationen übertragen lässt.
Als „Writer in Residence 2024“ am Grinnell College, Iowa, durfte ich einen Kurs „Kreatives Schreiben in der Fremdsprache Deutsch“ unterrichten und konnte dabei unmittelbar miterleben, welche Verunsicherung, aber auch Kreativität ein solcher Sprachwechsel freisetzen kann. Das von einer amerikanischen Studentin auf Deutsch verfasste japanische Haiku, das in diesem Schreibseminar entstanden sind, möchte ich meinen Überlegungen als eine Art Motto voranstellen, mahnt es uns doch zur Behutsamkeit im Umgang mit interkulturellen Übertragungsprozessen:
Wie schreibt man auf Deutsch
Ein japanisches Gedicht?
Mit großer Vorsicht!
Nora Kohnhorst
Über die Autorin
Zhang Ling, 1957 in Wenzhou, Provinz Zhejiang, geboren, lebt seit 1986 in Toronto. Sie begann Mitte der 1990er-Jahre neben ihrer Arbeit als klinische Audiologin zu schreiben, zunächst auf Chinesisch und nun erstmals auf Englisch. Für ihre mittlerweile zehn Romane und zahlreichen Sammlungen mit Kurzgeschichten wurde sie vielfach ausgezeichnet. In deutscher Sprache ist bisher der Roman 金山 (dt. Der Traum vom Goldenen Berg, Schöffling & Co. 2014, original 2009) in der Übersetzung von Marc Hermann erschienen.
Zhang Ling: Wo die Wasser sich begegnen. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. C.H.Beck, 2024.
Wo die Wasser sich begegnen. Zum Roman
Where Waters Meet ist der zweite Teil einer Trilogie mit dem Titel Kinder des Krieges. Der erste Teil, 劳燕 [engl. A Single Swallow, 2020, übers. von Shelley Bryant] erschien im chinesischen Original 2017. Die Romane erzählen eigenständige Geschichten, befassen sich jedoch alle mit dem sogenannten „spillover“, den Auswirkungen von traumatischen Kriegs- und Gewalterfahrungen auf ganz normale Menschen, die sich auch viele Jahre später noch in nachfolgenden Generationen zeigen können. Als Audiologin hatte die Autorin Gelegenheit, mit Veteranen und Kriegsopfern zu arbeiten. „Ihre Überlebensgeschichten haben mich stark beeinflusst und mich zur Beschäftigung mit den Themen Krieg, Trauma und Heilung angeregt.“4 Auch ihre Kindheitserfahrungen in China, und ihre Beschäftigung mit der langen Geschichte von Kriegen und dramatischen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihres Heimatlandes lieferten ihr mehr als genug Stoff für die literarische Auseinandersetzung mit dem, was sie „den tödlichsten Feind der Menschlichkeit“ nennt.
Das historische Panorama in Where Waters Meet ist weit gespannt. Es reicht vom Antijapanischen Krieg und Bürgerkrieg, über den Koreakrieg und die Kulturrevolution bis heute. Doch anstatt chronologisch zu erzählen, schraubt sich der Plot immer weiter in der Zeit zurück und hinein in die schmerzlichen Geheimnisse der Mutter der Erzählerin. Damit gelingt es Zhang Ling, den Spannungsbogen bis zuletzt aufrechtzuerhalten und die eigentliche Bombe erst ganz zum Schluss platzen zu lassen. Sie zeichnet eindrückliche Frauenfiguren, die eine Flexibilität und Resilienz besitzen, wie sie sonst nur dem Wasser – einer zentralen Metapher des Textes – zu eigen ist.
Dem Plot dieses Romans ist Bikulturalität durch die autobiographischen Erfahrungen der Autorin, die sie mit ihrer Protagonistin teilt, auch thematisch eingeschrieben. Die Chinesin Ah Feng/Phoenix lebt als Lehrerin für Englisch als Fremdsprache in Toronto und ist mit dem Audiologen George verheiratet. Sie bringt ihre Mutter Chunyu/Rain mit in die Ehe, denn die beiden sind nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht haben, unzertrennlich. Als bei der alten Dame die Demenz einsetzt, brechen die gegen das Erinnern hochgezogenen Mauern ein. Ihr zunehmend erratisches Verhalten und ein geheimnisvoller Koffer, den sie aus China mitgebracht hat, zwingen Phoenix, sich nach Rains Tod mit dem ihr bislang unbekannten Teil der mütterlichen Vergangenheit zu befassen. Und so reist sie mit der Asche ihrer Mutter nach China, wo sie sich von Gesprächen mit deren Schwester eine Aufklärung der wohlgehüteten Geheimnisse verspricht. Da die Autorin sehr wohl weiß, dass verdrängte Traumata oft bis in die nächste Generation hineinwirken, wird diese Reise für die Protagonistin zu einer schmerzlichen Erfahrung der Selbstfindung.
Nicht zuletzt aus therapeutischen Gründen schreibt Phoenix die von ihr rekonstruierte Geschichte ihrer Mutter auf, und schickt die einzelnen Kapitel an ihren Mann, der ihr Erstleser und Lektor ist. Augenzwinkernd lässt die Autorin uns Leser·innen praktisch am Entstehen des Textes und dem Austausch kommentierender E-Mails zwischen den Ehepartnern teilhaben.
Auch stilistisch hat der Sprachwechsel Spuren hinterlassen.
Eine kurze Leseprobe aus Phoenix‘ erster Textlieferung an ihren Mann, dem Kapitel „Erinnerungen an eine Hungersnot und einen Schwachkopf“, in dem es um ihre eigene Kindheit und die Vorgeschichte des Vaters geht, gibt einen Eindruck von Zhang Lings englischem Schreibstil. Ironisch und prägnant fasst sie die militärische Laufbahn des bereits mit siebzehn eingezogenen, mehrfach verwundeten Kriegshelden zusammen, der schließlich im Koreakrieg am Kopf verletzt wurde und seither geistig eingeschränkt ist, um dann zu resümieren:
“Three months later, he boarded the same train, traveling back to China to recover from his head injury. By the time he was basking in the glorious morning sun of southern China, on the balcony of a Wenzhou hospital ward, he had been a veteran of three wars, having served, at the age of hardly twenty-four, two governments, and been wounded by weapons manufactured in Japan, Germany, and the United States of America, in that order.”5
Da mir die chinesische Schreibweise der Autorin vertraut war – ich hatte ein Verlagsgutachten für den 2014 auf Deutsch erschienenen Roman Der Traum vom Goldenen Berg gemacht –, war ich erstaunt, wie anders Zhang Ling im Englischen klang. Ihr Stil ist knapp und zupackend, humorvoll und lakonisch. Ganz bewusst scheint sie die Freiräume der neuen Sprache zu nutzen, findet aber auch ein treffendes Bild für die Schwierigkeiten, vor die dieser prekäre Schreibprozess sie stellt. Im Nachwort schildert sie, wie Hirn und Zunge zunächst auseinanderklafften und eine Distanz bestand zwischen dem hyperaktiven Gehirn und der teilweise gelähmten Zunge. „Als Hirn und Zunge schließlich zusammenfanden, entdeckte ich eine neue Welt, völlig verschieden von der vertrauten, alten Welt, die aus meiner Muttersprache gebaut war. Ich bin dankbar für diese Herausforderung, die sich am Ende als Gewinn erwiesen hat.“6 Diesen Zugewinn hat die Autorin für ihre literarische Arbeit zu nutzen gewusst; sie hat sich freigeschrieben.
Doch was genau hat die Autorin, die ja bereits zwei Jahrzehnte lang auf Chinesisch publiziert hat, veranlasst, die Komfortzone ihrer Muttersprache zu verlassen?
In einem Interview im Juli 2024 schildert sie ihre Beweggründe:
„Where Waters Meet (2023), mein zehnter Roman, nimmt einen besonderen Platz in meinem Herzen ein, denn es ist mein erster Versuch, auf Englisch zu schreiben. Die Entscheidung zum Sprachwechsel hatte vielfältige Gründe; einer davon ist rückblickend betrachtet der Wunsch, eine größere Leserschaft zu erreichen. Mit ihr wollte ich spezifische Ereignisse aus der jüngeren chinesischen Geschichte teilen, die zugleich Teil einer allgemein menschlichen Erfahrung sind. (…)
Eine Sprache ist nicht nur eine Ansammlung von Wörtern und grammatischen, phonetischen und syntaktischen Regeln; sie transportiert auch eine Fülle von kulturellen, historischen und sozialen Konnotationen, die ihren Nutzern eigenen sind. Wenn wir die Sprache wechseln, bemerken wir in unterschiedlichem Maße, dass auch solche Konnotationen Teil der gewählten Sprache sind. Eine neue Sprache erfordert außerdem ein neues Empfinden für Rhythmus, für kontextuelle Assoziationen und Musikalität, die mich als Schreibende verjüngen. (…)
Das Schreiben in zwei Sprachen verleiht uns ein zusätzliches Auge, mit dem wir uns und die umgebende Welt sehen. Dieses dritte Auge hilft uns dabei, sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten der beiden Sprachen wahrzunehmen, und kann im interkulturellen Denken Raum für unvorhergesehene Inspirationen schaffen. Bei der Erforschung dieses Geländes stoßen wir nicht selten auf unerwartete Pfade, die in die Tiefen des menschlichen Geistes führen.“7
Kleiner Exkurs in die Sprachtypologie
Indem sie auf Englisch schreibt, ist mir die Autorin auch sprachtypologisch einen Schritt nähergekommen; der Übertragungsweg hat sich verkürzt.
Auf der Skala der agglutinierenden bzw. isolierenden Sprachen (nach Wilhelm von Humboldt) liegt das Chinesische ganz auf der Seite der isolierenden Sprachen, das Deutsche ziemlich weit auf der Seite der agglutinierenden Sprachen. Während Letztere die grammatischen Bezüge im Satzgefüge durch Flexionsendungen markieren, entscheidet im Chinesischen oft allein die Position eines Wortes im Satz darüber, ob es als Subjekt oder Objekt fungiert, ob es im jeweiligen Kontext ein Substantiv oder ein Verb ist. Da den Wörtern im Deutschen ihre grammatische Funktion im Satz durch Affixe quasi eingeschrieben ist, kann man sie an unterschiedlichen Positionen im Satz platzieren, ohne dass diese Information verlorengeht. Außerdem können durch die Verschiebung von Satzteilen auf betonte Satzpositionen Bedeutungsnuancen hervorgehoben werden. Das gibt uns Übersetzer·innen die wunderbare Freiheit einer flexiblen Satzstellung, die wir nach Kräften nutzen sollten.
Das Englische liegt irgendwo dazwischen. Konjugation und Deklination werden zwar teilweise markiert, aber der Satzstellung kommt ebenfalls eine determinierende Bedeutung zu. Es herrscht die SPO-Satzstellung vor, die im Deutschen auf Dauer eine gewisse Langeweile hervorruft. Auch da ist beim Übersetzen ins Deutsche also eine kreative Nutzung der syntaktischen Freiheit angeraten. Hier ein ganz einfaches Beispiel für die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit flexibler Satzstellung in den unterschiedlichen Sprachtypen:
我爱你 I love you Ich liebe dich
Während im Deutschen auch die Übersetzung „Dich liebe ich“ (und sonst keine!) als besonders emphatische Zuneigungsbekundung denkbar wäre, würde die Umstellung im Englischen zu dem ungrammatischen „You love I“ führen, und im Chinesischen eine gänzlich andere Aussage ergeben 你爱我 (Du liebst mich) weil das vormalige Subjekt durch die Umstellung zum Objekt wird.
Besonderheiten des Übersetzungsprozesses
Die Autorin hat sich die Farbigkeit des Chinesischen bewahrt, was sich vor allem in Redewendungen, aber auch in syntaktischen Eigenarten äußert. Als literarische Übersetzerin aus beiden Sprachen kann ich den Interferenzen nachlauschen, die das Chinesische in ihrem englischen Text hinterlassen hat.
Zur Zeit meines Studiums – und das ist schon eine Weile her – war die sogenannte Fehlerlinguistik en vogue, in der man, wie schon der Name sagt, ein „Durchscheinen“ der Muttersprache vorwiegend als Fehlleistung sah, die sich durch strukturelle Unterschiede zwischen Erst- und Zweitsprache erklären und systematisieren ließ. Auf dieser Basis wurden Handreichungen entwickelt, wie der abweichende Gebrauch zu „verbessern“ sei. Aus heutiger Sicht können solche Abweichungen von der Norm in literarischen Texten aber auch ein ästhetischer Zugewinn sein.
In der Translationswissenschaft wiederum wurden Diskussionen geführt, inwieweit eine Übersetzung „exotisierend“, also am Ausgangstext orientiert, zu sein habe, oder ob man den Text im Dienst von Lesbarkeit und Funktionalität eher in die Zielsprache „herüberholen“ solle. Auch in der aktuellen Debatte geht es immer wieder um den Spagat zwischen dem ausgrenzenden Heraufbeschwören eines „Anderen“ oder „Fremden“ beziehungsweise einer unzulässigen „Aneignung“.
Speziell mit Blick auf Übersetzungen aus dem Chinesischen hat sich in der Frühzeit der Rezeption chinesischer Literatur – etwa durch Übertragungen von Richard Wilhelm oder Franz Kuhn – eine Art Chinoiserie herausgebildet. Ein blumiger Stil, gekennzeichnet durch fremd anmutende Wortwahl und bewusst vage syntaktische Zuordnungen, der dem deutschen Lesepublikum daraufhin als typisch chinesisch erschien und das Bild der (vor allem klassischen) chinesischen Prosa prägte. Spätere Übersetzergenerationen, denen klar war, dass es sich hier nicht unbedingt um in der Ausgangssprache bewusst gesetzte Stilmittel, sondern um strukturelle Unterschiede handelt, mussten ihre Leserinnen und Leser erst wieder von dieser exotischen Droge entwöhnen. Inzwischen sind einige der großen klassischen Romane in philologisch und editorisch genauen und sprachlich entschlackten Neuübersetzungen greifbar, etwa durch Eva Schestag (Die drei Reiche) und Eva Lüdi Kong (Die Reise in den Westen).
Als Übersetzerin aus dem Chinesischen ist es mir ein Anliegen, „barrierefreie Lesbarkeit“ zu gewährleisten und nicht jede Widerständigkeit des Ausgangstextes mitzuvollziehen, ihm aber doch eine gewisse Fremdheit zu lassen. Wie aber verhalte ich mich, wenn sich die chinesische Autorin selbst einer Fremdsprache bedient und bestimmte Redewendungen und Merkmale ihrer Muttersprache ganz bewusst dorthin mitnimmt?
Blick in die Werkstatt
Im Folgenden möchte ich einige Beispiele aufzeigen, bei denen im englischen Original Formulierungen gebraucht werden, die auf gängige chinesischen Redeweisen zurückgehen. Es handelt sich also nicht um von der Autorin eigens erfundenen Sprachbilder – auch die gibt es in diesem stilistisch ambitionierten Roman in großer Zahl. Im englischen Text hingegen sind es bewusst gesetzte Stilmittel. Zur Absicherung der „Versuchsanordnung“ habe ich mir von einer chinesischen Muttersprachlerin bestätigen lassen, dass diese Formulierungen im allgemeinen Sprachgebrauch gängig sind.
Augenbrauengymnastik
In der chinesischen Körpersprache sind, wie in vielen anderen Kulturen auch, die Augenbrauen ein wichtiger Indikator für die Befindlichkeit des Gegenübers. Doch während sich im Deutschen die Brauen allenfalls drohend zusammenziehen oder die Stirn gerunzelt wird, können sie sich im Chinesischen regelrecht verknoten (眉毛拧成一个疙瘩). Bei einer Übersetzung aus dem Chinesischen würde ich wohl eher auf das deutsche Bewegungsmuster zurückgreifen, wohl wissend, dass es sich hier um kulturelle Unterschiede in der Beschreibung von Mimik handelt. In Zhang Lings Text heißt es etwa: „a soft knot started to form on Mei‘s brows where her thoughts traveled”. In meiner Übersetzung habe ich den Knoten beibehalten, da sich die Autorin ja ganz bewusst für diese dramatischere Ausdrucksvariante entschieden hat. In der deutschen Fassung heißt es daher: „zwischen Meis Brauen, dort wo ihre Gedanken wanderten, bildete sich ein sanfter Knoten.“
Sprichwörtliches
„A water-soaked head“ (脑子进水了)
In diesem Fall benutzt die Autorin einen im Chinesischen geläufigen Ausdruck, mit dem man jemanden für verrückt erklärt, wie sie ihre Protagonistin selbst erläutern lässt: „a Chinese way (…) of saying going bananas“ Da der Ausdruck hier im Kontext bereits als fremd markiert wird, habe ich mir erlaubt, ihn noch wörtlicher zu übersetzen, als die Autorin selbst. Bei mir wurde daraus: „… mit leisem Lachen erklärte sie sein Ansinnen als albern. Ihre genaue Formulierung war, ihm sei wohl Wasser ins Hirn gelaufen, angeblich die chinesische Art, jemanden für verrückt zu erklären.“
„The salt he has eaten is more than your rice“ (他吃的盐比你吃的饭还多)
Um die größere Lebenserfahrung einer Person hervorzuheben, wartet das Chinesische gleich mit zweierlei Lebensmitteln auf. Ich habe der Versuchung widerstanden, daraus die sprichwörtlichen (bayerischen) Semmeln zu machen, die einer mehr gegessen hat, sondern beließ es bei „Er hat mehr Salz gegessen als du Reis.“
„Mei had found a steel roof that could withstand any rainstorm“ (找到了一个能遮风挡雨的人)
Hier hat Zhang Ling aus dem Menschen – typischerweise ein Mann –, der „vor Sturm und Regen Schutz bietet“ im Fall des Genossen Chen ein „Stahldach“ gemacht, ist er doch dank seiner Position als Parteikader ein (vermeintlich) besonders sicherer Hafen. Die deutsche Version lautet: „Und in dem Genossen Chen hatte sie ein Stahldach gefunden, das jedem Wetter standhielt“.
„A skin as thick as a chopping block“ (脸皮比城墙还厚)
Hier geht es nicht um irgendein Stück Haut, sondern um die Gesichtshaut, wie das Chinesische klarstellt und damit auf das in vielen asiatischen Kulturen verbreitete Konzept des „Gesichts“ verweist. Eine Form der Höflichkeit und Rücksichtnahme, die den anderen nicht bloßstellt (ihm also das Gesicht raubt), sondern ihm im Gegenteil möglichst viel „Gesicht gibt“ (给面子), das heißt, ihn gut aussehen lässt. Wer sich hingegen stur und unsensibel verhält, hat eine dicke Gesichtshaut. Zhang Ling setzt mit ihrem „Hackstock“ (vermutlich ist hier das Schneidbrett in der Küche gemeint) noch eins drauf, wobei das Chinesische aber eine weitere Steigerung kennt, nämlich „Gesichtshaut so dick wie die Chinesische Mauer“. Ich habe mich mit „Haut so dick wie ein Schneidbrett“ beschieden, da der Hintergrund dem deutschen Lesepublikum mehrheitlich nicht bekannt sein dürfte.
Zögerliche Zuschreibungen
Die Autorin hat eine Vorliebe dafür, Adjektive mit Ausdrücken wie „nearly“, „almost“, „largely“ oder „mostly“ abzutönen und in ihrer Bedeutung zu relativieren. Man kennt dieses Stilmittel aus dem klassischen Chinesisch, wo dafür vor allem der Ausdruck 几乎 (annährend, nahezu, ungefähr) verwendet wird. Was im literarisch hohen Ton als elegant gilt, würde im Deutschen in dieser Häufung keineswegs elegant, sondern unscharf und überladen wirken. Daher habe ich mich in den meisten Fällen dafür entschieden, es einfach wegzulassen.
Lautmalerei
Dasselbe gilt für die im Chinesischen so beliebten Onomatopoetika. Zhang Ling behält im Englischen die Vorliebe bei, Geräusche sprachlich nachzuahmen, obwohl ohnehin meist klar ist, um welchen Sound es sich jeweils handelt. „The water was soon boiling, the lid and the pot joining in an awful racket - click, click, click.” In meiner Version: „Bald kochte das Wasser - Topf und Deckel vereint in einem klappernden Duett.“
Landeskundliche Spezifika
Um ihrer Leserschaft entgegenzukommen, benutzt Zhang Ling im Roman, der ja mehrheitlich in China spielt, amerikanische Währungseinheiten. Das will vielfach nicht so recht in die geschilderte Lebenswelt passen. Ich habe sie in yuan, mao und fen zurückverwandelt, sofern die Handlung in China spielt. Aus dem Kontext wird jeweils klar, ob ein kleiner oder großer Betrag gemeint ist, auf die genaue Summe kommt es meist ohnehin nicht an.
Wer übersetzerisch im Dreieck springt, sollte also jeweils sorgfältigen abwägen, auf welche Seite er sich schlägt.
Nachbemerkung
Der Prozess sprachlicher Um- und Anverwandlung ist hier noch nicht zu Ende. Die Autorin hat den Roman selbst ins Chinesische übertragen. Oder sollten wir sagen, noch einmal neu geschrieben? Im Oktober 2023 ist er unter dem Titel 归海 beim renommierten Pekinger Autorenverlag (作家出版社) erscheinen. Sie schrieb mir dazu: „Yes, I did the translation myself, but it is not an exact translation as I rewrote some parts of it for smoother transition into Chinese.”
Eine erste kursorische Durchsicht der chinesischen Fassung bestätigt das. Und als Autorin kann ich nur beipflichten, dass man, was die eigenen Texte betrifft, niemals in denselben Fluss steigt. Spannend wäre herauszufinden, wo genau sie geändert, moduliert und moderiert hat, was sie aus der Fremdsprache mit zurück in die Muttersprache genommen hat.
Aber das ist ein anderes Thema.
Zu den Fotografien
Wasser spielt eine tragende Rolle in Zhang Lings Roman. Es kann Bedrohung sein, aber auch eine Metapher für die Flexibilität und Widerständigkeit. Die Autorin und ihre Protagonistin bestehen darauf, es im Titel in den Plural zu setzen. Im letzten Abschnitt des Buches heißt es:
„Auf seiner Reise durch die Welt bekommt es verschiedene Namen. Es kann Neunhügel heißen oder Oujiang oder Mirs Bay oder Lake Ontario. Ganz gleich, welche Form es annimmt, seiner Natur nach ist es einfach Wasser. Die Wasser laufen auseinander, finden aber stets wieder zusammen, sie sterben nie, und immer sind sie frei.“
Deshalb wurde dieser Beitrag mit den künstlerischen Wasserfotografien meiner Freundin und Kollegin Nelly Ma illustriert, die, wie ich finde, den Charakter dieses Elements besonders gut einfangen. Ihr sei hier ausdrücklich gedankt.