Ursprung und Trümmer
Journal zur Übersetzung von Isozaki Arata: „Das Japanische“ in der Architektur
Dabei ist wesentlich, dass meine Generation die Zerstörung ihrer Städte erlebt hat. Die Städte, die konstruiert werden sollten, waren zuvor eingestürzt. Die Wunden dieses Zusammenbruchs schmerzten besonders, da wir akzeptieren mussten, dass es nun nicht mehr unsere oberste Pflicht war, die Großostasiatische Wohlstandssphäre zu errichten, sondern unsere eigenen Städte wiederaufzubauen und so ein neues Idealbild der Zukunft zu entwerfen. War es nicht an uns, gerade diese Wunden offenzulegen? Indem wir die Städte auf die Seite der Dekonstruktion zurückbrachten, richteten wir den Fokus auf den Kreislauf von Werden und Vergehen.1
Was ist „japanisch“? Ist es die Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Ethnie, einer Sprachgemeinschaft? Ist es eine Kultur, eine bestimmte Ästhetik? Ist es der Bezug auf Traditionen? Beruht die Bestimmung des Japanischen auf den Selbstbeschreibungen der in Japan lebenden Japaner·innen oder auf den Zuschreibungen eines von außen wahrgenommenen Landes? Ist die Frage nach dem Wesen eines Landes eine Frage, die sich für Japan mehr als für andere Länder stellt? Fragen sich Italienisch-Liebhaber·innen auch, was eigentlich „italienisch“ ist? Haftet Japan ein besonderes Enigma an?
Die Frage nach dem Japanischen hat mich umgetrieben, seit ich mit Japan in Berührung kam. Am Anfang schien mir vieles fremd, unverständlich, undurchsichtig. Mittlerweile bin ich mehrfach in Japan gewesen, habe viele Facetten des Landes kennengelernt, diverse Bücher übersetzt, die alle von Japan handeln und alle unterschiedlich sind. Beim Übersetzen finde ich mich immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie sich sprachliche oder kulturelle Besonderheiten Japans ins Deutsche übertragen lassen. Wie viel von dem, was dem deutschsprachigen Publikum fremd erscheinen könnte, deutsche ich ein, und was lasse ich als Fremdwort stehen? Schaffe ich damit ein besseres Verständnis oder erzeuge ich so womöglich erst ein Gefühl der Fremdheit?
1. Das Buch
In seinem Buch „Das Japanische“ in der Architektur, das 2003 in Japan publiziert wurde, geht der international bekannte Architekt Isozaki Arata drei architekturhistorisch bedeutsamen Zeitpunkten in der Geschichte Japans nach, als Bauweisen und -techniken aus dem Ausland übernommen wurden und eine Transformation erfuhren. In seiner historischen Analyse, die nicht nur die einzelnen Bauwerke, sondern vor allem auch den diskursiven Kontext in Augenschein nimmt, zeigt er, wie sich an diesen Transformationspunkten Baustile konstituierten, die sich, jeweils unterschiedlich, als „japanisch“ bezeichnen lassen. So entstand z.B. im 8. und am Ende des 12. Jahrhunderts mit der Einfuhr chinesischer Bautechniken ein sogenannter wayō-isierter oder japanisierter Stil, nach der Öffnung Japans ab der zweiten Hälfte des 19. und der Begegnung mit der westlichen Moderne im 20. Jahrhundert eine „japanisch-westliche“ beziehungsweise „japanisch-moderne“ Architektur.
Isozaki Arata: »Das Japanische« in der Architektur. Aus dem Japanischen von Nora Bierich, Edition AK, 2025.
Isozaki setzt den Begriff „des Japanischen“ in Anführungszeichen. Zum einen ist dieser nach 50 Jahren kriegerischer Machtausübung in Asien problematisch geworden, zum anderen geht es ihm gerade darum zu fragen, was es mit der Zuschreibung „des Japanischen“ in der Architektur auf sich hat. Er fragt dabei nicht, wie man aus westlicher Sicht vermuten könnte, nach „dem Japanischen“ in der japanischen Architektur, sondern nach „dem Japanischen“ in der Architektur als solcher, auch wenn die von ihm gewählten Beispiele der japanischen Architekturgeschichte entstammen.
Es geht ihm nicht um eine Gegenüberstellung von „chinesisch“ oder „westlich“ versus „japanisch“, sondern darum, wie sich bautechnische und stilistische Einflüsse aus dem Ausland auf die japanische Bauweise ausgewirkt haben. „Das Japanische“ steht dabei für eine zu einem bestimmten Zeitpunkt neu konstituierte Form des Bauens, die erst in der Konfrontation und der Auseinandersetzung mit dem Außen möglich wurde. Die Wahrnehmung des Innen findet immer im Wechselspiel der Begegnung mit dem Außen statt.
Auch Isozaki selbst lässt sich weder in seiner Architektur noch in seinem Denken in ein dichotomes Muster von japanisch versus westlich stecken. Die architekturhistorischen, kulturwissenschaftlichen und literarischen Quellen, auf die er in dem vorliegenden Buch Bezug nimmt, sind universell. Mit den Fotos, grafischen und einzelnen konstruktionstechnischen Abbildungen sowie den etwa 120 „Vignetten“ erhalten die Bezugspunkte in Isozakis Denken eine besondere Sichtbarkeit, die das große Spektrum dieses im westlichen und östlichen Horizont umfassend gebildeten Denkers und Architekten auch visuell aufspannt.
Die japanische Architektur spielt im internationalen Kulturvergleich eine herausragende Rolle. Beeinflusst von den mächtigen Kulturen Chinas und des Westens hat sie deren Einflüsse aufgenommen, transformiert und Bauwerke in divers ausgeformten Stilen geschaffen. Unter den seit 1979 ausgezeichneten insgesamt 52 Preisträger·innen des Pritzker-Preises, des „Nobelpreises“ für Architektur, sind neun Japaner·innen. Isozaki, der diese Auszeichnung 2019 erhielt, ist einer von ihnen.
Der Autor
Isozaki Arata wurde am 23. Juli 1931 geboren, er gehörte einer Generation an, deren Kindheit und Jugend vom Krieg und von der Nachkriegszeit bestimmt war. Isozaki war einer der renommiertesten Architekten Japans, galt als Vertreter des Metabolismus und später der Postmoderne. Er schuf viele bekannte Bauwerke in seiner Heimat und weltweit, in Berlin baute er das Gebäude der Volksbank am Potsdamer Platz und ein Wohnhaus in Kreuzberg. Isozaki wurde mehrfach ausgezeichnet und lehrte als Gast an diversen Universitäten wie Harvard, Yale und der UCLA. Er publizierte zahlreiche Bücher und Schriften, einige seiner Essays sind auch auf Deutsch erschienen. Sein schriftliches Werk beeindruckt durch ein immenses Wissen, nicht nur in der Architektur- und Kulturgeschichte Japans, sondern auch in der Asiens und der westlichen Hemisphäre. Isozaki war mit vielen Architekten und Philosophen weltweit im Gespräch, er war ein einflussreicher Juror bei Wettbewerben, war in nationalen und internationalen Netzwerken aktiv und beteiligte sich an diversen, oft kontroversen Debatten. Er starb am 28.12.2022 in Naha, Okinawa.
Theorie wird selten übersetzt
In der Statistik der meist übersetzten Sprachen ins Deutsche rangiert Japanisch auf Platz 2, was vor allem den vielen Manga-Übersetzungen zu verdanken ist, die seit vielen Jahren auch in Deutschland rezipiert und erfolgreich vermarktet werden. In der Literatur werden neben dem Bestseller-Autoren Murakami Haruki gegenwärtig einige (auch jüngere) Schriftstellerinnen verlegt. Außerdem gibt es Ratgeber-Bücher, vom richtigen Wäsche-Falten und Ordnung-Halten bis hin zu buddhistisch angehauchten Anleitungen zum Glücklichsein. Theoretische Werke werden dagegen selten ins Deutsche übersetzt. Damit tritt ein wesentlicher Aspekt der Übersetzungs(schief)lage aus dem Japanischen zutage: In Deutschland wird nur eine kleine Auswahl dessen rezipiert, was in Japan verlegt und gelesen wird, meist sind es Bücher, die aus nicht-japanischer Perspektive etwas repräsentieren, das als „japanisch“ gilt. Theoretische Werke, die nicht in einem der westlichen Vorstellung nach erkennbar „japanischen“, sondern in einem eher westlich-japanischen Diskurs oder Kontext verortet sind, so z.B. philosophische Texte, die sich mit „westlicher“ Philosophie auseinandersetzen, haben es besonders schwer. Die umfangreiche japanische Hegel-, Marx- oder Freud-Rezeption etwa oder die auf westlicher Theorie aufbauende japanische Philosophie ist im deutschsprachigen Raum so gut wie unbekannt, die 2023 erschienene Übersetzung des Rereading-Marx-Bestsellers Systemsturz von Saitō Kōhei bestätigt als Ausnahme die Regel. In Japan hingegen sind fast alle wesentlichen deutschsprachigen Titel, ob Belletristik oder Theorie, in (teilweise mehreren) Übersetzungen zu lesen.
2. Sprachliches und kulturelles Übersetzen
Die Herausforderung beim Übersetzen von Isozakis Buch fand auf mehreren Ebenen statt: Zunächst galt es, seine Beschreibung und Analyse spezifischer japanischer Bauwerke und Gegebenheiten der japanischen (Architektur)Geschichte so zu übertragen, dass die deutschsprachigen Leser·innen, denen diese eher nicht geläufig sind, angesichts der vielen fremden Namen und Begrifflichkeiten nicht zu sehr in Verwirrung geraten und den innovativen und eher philosophischen Gedankengängen Isozakis folgen können. Konkret bedeutete dies, die Personen- und Ortsnamen sowie die spezifischen Fachbegriffe so gut es ging verständlich in den deutschen Text zu integrieren und zuweilen durch kurze Einschübe oder Umschreibungen zu erklären. Oberstes Ziel war es, in der Übersetzung möglichst „klare Verhältnisse“ zu schaffen, um eine Fokussierung auf Isozakis anspruchsvolle Thesen zu gewährleisten.
Namen, Orte, Fachbegriffe
Neben den vielen japanischen Personennamen, die in der in Japan üblichen Reihenfolge stehen – erst Nach-, dann Vorname – sowie den vielen Orts-, Tempel- und Schrein-Bezeichnungen, finden sich in Isozakis Beschreibungen eine Menge von Begriffen aus der japanischen Architektur, Geschichte und Religion.
Während manche Besonderheiten des japanischen Hauses wie Tatami (Reisstrohmatten), Shōji (mit Papier bespannte, lichtdurchlässige Schiebetüren) oder Fusuma (mit festem Papier oder Stoff bespannte Schiebetüren) mittlerweile Eingang ins Deutsche gefunden haben und als mehr oder weniger bekannt vorausgesetzt werden können, sind andere Begriffe wie zum Beispiel Tokonoma (Schmucknische), Ranma (geschnitzte Zierbretter oberhalb der Schiebetüren) nicht so geläufig; hier habe ich zumindest bei der Erstnennung eine erklärende Umschreibung hinzugefügt.
Spezielle Begriffe – wie sie im Kontext von Schrein- und Tempelbauten oder Shintoismus und Buddhismus auftauchen – habe ich mal auf Japanisch belassen und die deutsche Übersetzung angefügt, mal übersetzt und den japanischen Terminus in Klammern dahinter gesetzt, um eine begriffliche Genauigkeit sicherzustellen und zugleich die konzeptuelle Andersheit zu markieren. Viele dieser Begriffe kannte ich vorher nicht, ich habe also recherchiert und mich in Fachbüchern und im Internet schlau gemacht. Hier war besonders das digitale Nachschlagewerk für japanische Architektur JAANUS hilfreich, aber auch anschauliche Illustrationen und Videos zu japanischer Architektur.
Vor allem aber habe ich mich mit meinem japanischen Quasi-Ko-Übersetzer, Kobayashi Toshiaki, beraten und ausgetauscht. Er hat die gesamte Übersetzung gegengelesen und seinerseits viel nachgeforscht, denn Isozakis Text birgt auch für in der japanischen Kultur Kundige viel Unbekanntes.
Mit den folgenden Begriffsbeispielen will ich zeigen, wie kompliziert es sein kann, nicht nur eine fremde Sprache, sondern auch anders gedachte und praktizierte (Architektur)Konzepte in die eigene Sprache „rüberzubringen“ und den Leser und Leserinnen anschaulich zu vermitteln. Bei allen Beispielen handelt es sich um Begriffe, für die sich keine deutschsprachige Entsprechung finden ließ und die deshalb eine „kulturelle Übersetzung“ erforderten, die oft darin bestand, den japanischen Begriff stehen zu lassen.
Beispiele
間面記法 kenmenkihō
Ab etwa dem 9. Jahrhundert wurde in Japan die sogenannte kenmenkihô-Methode entwickelt, die zur Flächenbeschreibung traditioneller Tempel- und Schreinbauten diente. Der Begriff ken 間 bezeichnet dabei die Spanne zwischen zwei Pfeilern, men 面 die Fläche der umliegenden Veranden, kihō記法 ist die „Methode der Beschreibung“. Die kenmenkihô-Methode unterscheidet sich dadurch von der westlichen Berechnung von Gebäuden in Länge mal Breite mal Höhe. Für die Benennung der Höhe gibt es keine entsprechende Einheit, sodass sich diese Methode für die Beschreibung späterer Bauten als nicht mehr praktikabel erwies. Da für die Bezeichnung und das Konzept „kenmenkihō“ keine deutsche Entsprechung existiert, habe ich den japanischen Begriff übernommen. Zur Illustration wurde eine Skizze mit der auf der kenmenkihô-Methode beruhenden schematischen Darstellung verschiedener Tempelanlagen hinzugefügt.
神籬 himorogi 斎庭yuniwa 参道sandō プラザ puraza
Der Begriff des Platzes verkörpert laut Isozaki ein Konzept westlicher Dorf- und Stadtarchitektur, das es so in Japan nicht gibt; eine Erkenntnis, die mir während meiner diversen Japan-Aufenthaltte nie wirklich bewusst geworden ist. So gibt es beispielsweise keine Markt- oder Dorfplätze. In Japan finden sich Isozaki zufolge „Plätze“ traditionell nur in nicht fest determinierten Räumen, so im Schreingelände in dem umzäunten himorogi-Bezirk oder dem heiligen Bezirk yuniwa. Himorogi sind oft temporär genutzte Areale, die lediglich durch Bambus- oder Sasaki-Zweige oder auch durch ein Strohseil gekennzeichnet werden. Yuniwa sind mit Kies ausgelegte Areale zum Beispiel vor Schreinen. Auch die sandō genannten Zugänge zum Schrein können, bei Schreinfesten beispielsweise, die Funktion eines Platzes übernehmen.
In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dann der westliche „Platz“ in Japan eingeführt, allerdings eher als Vorplatz vor Bahnhöfen, oft als Parkplatz genutzt, oder als mit dem Lehnwort „Festival-Plaza“ benannter Platz bei Festivals und Events wie 1970 bei der Weltausstellung Expo ´70 in Ōsaka. Hier wurde der westliche Begriff „puraza (Plaza)“ als Lehnwort übernommen.
間 ma, ken, kan, aida
Das Zeichen 間 umfasst ein besonders komplexes Bedeutungsfeld und kann auf unterschiedliche Weise gelesen werden, als ma, ken, kan oder aida, und hat entsprechend mehrere Bedeutungen: 1. Als aida oder ma gelesen, bedeutet es „zwischen“, wobei dem Begriff des „Zwischen“ im japanischen Denken und Raum-Zeit-Verständnis eine zentrale Rolle zukommt. 2. Als ma oder kan gelesen, bedeutet es „Zimmer“ bzw. „zeitlicher oder räumlicher Abstand“, so wird beispielsweise sowohl „Zeit“ 時間 (jikan) als auch „Raum“ 空間 (kūkan) mit dem Zeichen 間geschrieben. 3. Als ken gelesen, bezeichnet es ein Längenmaß: 1 ken = ca. 1.8 m. Als Längenmaß bleibt „ken“ oft unübersetzt.
Die besonderen Bedeutung des „Zwischen“ (ma oder aida) in Japan wurde in mehreren philosophischen und wissenschaftlichen Werken untersucht, so zum Beispiel in dem auch ins Deutsche übersetzten Zwischen Mensch und Mensch – Strukturen japanischer Subjektivität des Psychiaters Kimura Bin.
和様化 wayōka
Wayōka oder Wayō-isierung, wie ich es übersetzt habe, ist ein von Isozaki geprägter Begriff, der wörtlich „Umwandlung in den Wayō-Stil“ bedeutet. Wayō – Japanischer Stil – ist ein zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert in Japan etablierter, aber erst später so benannter Architekturstil, bei dem chinesisch-buddhistische Bauweisen übernommen und an die japanischen Gegebenheiten angepasst wurden. Er stellt somit eine der von Isozaki vorgestellten „Japanisierungen“ dar, die im Laufe der Geschichte je nach kulturellem Einfluss und seiner Umwandlung unterschiedliche Formen annahmen.
Den Begriff der Wayō-isierung gibt es im Deutschen nicht, ich habe hier die japanisch-deutsche Mischung gewählt, um die historisch spezifische Form dieser Japanisierung wiedergeben zu können.
Dies sind nur ein paar Beispiele von Begriffen, die auf für deutsche Leser·innen so fremden Kulturerfahrungen und -konzepten beruhen, dass ich sie als „unübersetzbar“ in den deutschen Text übernommen habe. Im Kontext aber und zusammen mit den angefügten Umschreibungen werden die räumlichen und kulturellen Konzepte vorstellbar, behalten jedoch zugleich ihre Fremdheit. Damit sind die Leserinnen und Leser aufgefordert, sich einen Denkraum zu schaffen, der jenseits der eigenen Erfahrungen angesiedelt ist, ein Raum zwischen dem Eigenem und dem Fremden gewissermaßen, einen Raum der Hybridität.
3. Übersetzen – Hybridität, Kreolisierung, Archipelisierung
„Das Japanische“ in der Architektur ist ein dichter, eher akademischer Text, in dem Isozaki anhand von drei zentralen Architekturbeispielen, dem als archaischem Ursprung erzählten shintoistischen Ise-Schrein in Ise, dem Ende des 12. Jahrhunderts erbauten buddhistischen Tōdaiji-Tempel in Nara sowie der im 17. Jahrhundert errichteten Kaiserlichen Villa Katsura bei Kyōto vorführt, wie sich der Einfluss ausländischer Bauweisen auf die japanische Architektur ausgewirkt hat.
Isozakis Buch handelt dabei zugleich vom Übersetzen, nämlich dem Übersetzen fremder Kulturtechniken, in diesem Fall von Bau- und Architekturweisen in die eigene Sprache und Kultur, wobei diese und damit auch die kulturelle Identität eine Veränderung erfahren. „Das Japanische“, so wie Isozaki es herausarbeitet, konstituiert sich erst in dem Wechselspiel von äußerem Einfluss und innerer Verwandlung, es ist nicht essentiell in Japan verortet und leitet sich nicht von einem Ursprung her. Es resultiert aus der Übersetzung von etwas Fremdem in Eigenes und manifestiert sich, entsprechend den historisch und gesellschaftlich gegebenen Bedingungen, in jeweils unterschiedlicher Form.
Hier zeigen sich interessante Ähnlichkeiten zu dem Denken des indischen Theoretikers des Postkolonialismus Homi Bhabha und seiner Vorstellung der kulturellen Übersetzung, bei der es weniger um das Übersetzen von Sprachen geht, als um jenes von Ideen und Konzepten. Diese lassen sich nicht eins zu eins übertragen, sondern müssen in der Übersetzung stets „verhandelt“ werden, wodurch sie zu etwas Neuem, Hybridem führen. Hierzu bedarf es eines „Dritten Raums“, eines Raums des Denkens, der zwischen den Kulturen liegt, nicht binär strukturiert ist und kulturelle Differenz und Hybridität erst ermöglicht. Nur auf der Basis der Vermischung differenter Kulturen kann eine internationale Kultur entstehen, die, so Homi Bhabha „nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht.“ „Dabei sollten wir immer daran denken, daß es das „inter“ – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt.“2 Das Inter-Übersetzen findet im Zwischenraum der Kulturen statt und muss immer neu ausgehandelt werden.
Isozakis Denken weist aber auch Ähnlichkeiten zu Édouard Glissants (1928–2011) Idee der Kreolisierung auf, mit dem dieser die hierarchische Aufteilung der Welt in eine koloniale und kolonialisierte, in eine Erste und Nicht-Erste Welt unterläuft. „Kreolisierung“ meint die unvorhersehbare, weltweite Vermischung von Kulturen, sie „verlangt die gegenseitige Wertschätzung der heterogenen Elemente, die zueinander in Beziehung gesetzt werden.“3 In dieser kreolisierten Welt, in der „Totalität Erde“, gibt es keine „organische“ Autorität mehr, in ihr ist alles Archipel, das heißt, dass „entfernteste und völlig heterogene Elemente unvermutet miteinander in Beziehung gesetzt werden können“.4 Für Glissant war der Ausgangspunkt seines Denkens die karibische Insel Martinique, die er mit allen anderen Orten auf der Welt gleichsetzt. Auch Isozaki sieht die gegenwärtige kulturelle Welt als ein Archipel angeordnet:
Seit den 1990er-Jahren gliedern sich die kulturellen Räume der Welt wie in einem Archipel mit unzähligen Polen. Japan, das immer eine Insel war, wurde nun zu einer Insel inmitten vieler Inseln, die für einander die jeweils Anderen sind. Die Grenze zwischen Innen und Außen als bisher konstituierender Faktor für „das Japanische“ gibt es nicht mehr. Jetzt gilt es, die Probleme in der wechselseitigen Kommunikation über das Meer zu verorten, das bisher die Schwelle zwischen den einzelnen Inseln oder eine intermediäre Zone als Zwischen- oder Leerraum darstellte. Heute bringt jede Insel ihre Eigentümlichkeiten noch stärker zum Ausdruck, und das ist etwas anderes als der Blick zuvor von außen oder nach außen. Es gibt keinen Grund mehr, „das Japanische“ zu preisen, denn die Problematik „des Japanischen“ oder auch „des Europäischen“ – des Englischen, Deutschen und Italienischen etc. ist innerhalb eines Archipel-artigen, kulturellen Raums obsolet geworden.5
Obwohl Japan anders als Indien oder Martinique nie kolonisiert wurde und aufgrund seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke allgemein der Ersten Welt zugerechnet wird, kommt Isozaki den Ideen von Denkern, die allgemein dem postkolonialen Raum zugeordnet werden, überraschend nahe. Er verortet den Kulturraum Japan am Ende des 20. Jahrhunderts als eine Insel inmitten eines weltweiten Archipels, in dem kulturelle Beziehungen neu geknüpft und vermischt werden. Sicherlich ist das auch seiner Erfahrung als Architekt zu verdanken, als der er in vielen Teilen der Welt Projekte verwirklichen und seine Konzepte von Architektur in andere Kulturräume übersetzen konnte, ohne dass sie notwendig als „japanisch“ identifiziert werden. Und so lässt sich auch sein Denken in einen anderen Kulturraum übersetzen, als etwas, das zeigt, wie mit der Aufnahme und Transformation fremder Einflüsse ein neues hybrides Denken entsteht.