Stadtplanung und Gesellschaftsfragen
Zur Übersetzung der vielschichtigen Welt von Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand
An diesem heißen Sonntagnachmittag hat Dynamo Dresden 3:1 gegen Eintracht gewonnen. Als mein Zug eine Haltestelle vor Hoyerswerda (Sachsen) hält, sehe ich fünf Männer in gelben Fußballtrikots auf dem Bahnsteig zusammenstehen, die mindestens zwei Kästen Bier dabeihaben. Die Tür öffnet sich und die sonnengebräunten Jungs drängen hinein. Ihr Gesang und Gebrüll sind ohrenbetäubend. Alle im Wagen warten angespannt, was nun passieren wird. Nach den panischen Gesichtsausdrücken zu urteilen, erwarten wir alle Ärger – einen Kampf, aggressive Trunkenheit, etwas in der Art. Denn so etwas geschieht hier nun einmal, nicht wahr? Aber dann, ganz plötzlich, senken sie wie brave Schuljungen ihre Stimmen zum Flüsterton herab, während sie durch den Wagen laufen. Die Stille nach ihrem Verschwinden ist unheimlich, als wären sie von einem Schwarzen Loch verschluckt worden.
In Hoyerswerda nehme ich an einem Stadtspaziergang entlang der Wohnorte der Schriftstellerin Brigitte Reimann teil, die von 1960 bis 1968 hier lebte. In Hoyerswerda spielt auch der größte Teil ihres Romans Franziska Linkerhand (1974 in der DDR erschienen, bei Aufbau 2009 und 2023 wiederaufgelegt), den ich momentan für Penguin Modern Classics übersetze. Anschauungsmaterial hilft immer beim Übersetzen, aber wenn es um Franziska Linkerhand geht, wo ständig Wohnkomplexe und Plattenbauten beschrieben werden, ist es unerlässlich, Hoyerswerda selbst in Augenschein zu nehmen. Franziska, die titelgebende Hauptfigur des Romans, ist eine junge sozialistische Architektin, die nach Neustadt (hier tatsächlich eine „neue“ Stadt) entsandt wird, um dort Wohnungen für Arbeiter zu entwerfen, die in dem Tagebau arbeiten wollen, der den Aufbau des jungen sozialistischen Staates befeuert. Reimanns fiktive Stadt ist Hoyerswerda nachempfunden, dessen Einwohnerzahl, die in den 1950ern noch 9.000 betragen hatte, durch den Zufluss von Arbeitsmigranten bis 1981 auf 70.000 anstieg. Die Architektin Franziska kommt frisch vom Diplomstudium und stellt sich vor, dass ihre Entwürfe den Menschen mehr bieten werden als nur Kammern, in denen sie nach einem harten Arbeitstag schlafen gehen. Ihr Ideal ist ein Ort, an dem eine neue Gesellschaft aus zufriedenen Leuten geschaffen wird und wo Familien leben, arbeiten und spielen, Natur und Kultur genießen werden.
Hoyerswerda liegt nur eine zweieinhalbstündige Zugfahrt südlich von Berlin, und die üppige Lausitzer Landschaft ist atemberaubend; da das Gaskombinat Schwarze Pumpe der Hauptarbeitgeber der Region gewesen ist, hatte ich erwartet, dass die Schwerindustrie diese Agrarregion dauerhaft verändert habe. Aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich zuvor noch nie darüber nachgedacht habe, hierher zu kommen: Meine Wahrnehmung der Region ist von zahlreichen negativen Schlagzeilen geprägt – die ausländerfeindlichen Angriffe eines wütenden Mobs auf Vertragsarbeiter in den frühen 1990er Jahren, und in der jüngeren Vergangenheit der Aufstieg der AfD, deren Programm ich im Zug lese und deren populistische Rhetorik unumwunden rassistisch, homophob und sexistisch ist.
Es ist nichts Neues, dass Ostdeutschland ein so großes Imageproblem hat, dass man oft den Eindruck gewinnt, es sei von Westdeutschland komplett abgeschrieben worden. In seinem Buch Der Osten: Eine Westdeutsche Erfindung (Ullstein 2023) beschreibt der Publizist Dirk Oschmann das „Problem“ des Ostens als eine Liste von „Vorurteilen, Stereotypen [und] Ressentiments“ vonseiten des Westens. Wenn an einem Ort wie Hoy etwas Schlechtes geschieht, bestätigt das diese negative Erwartungshaltung des Westens. Misstrauen und Feindseligkeit wirken in beide Richtungen. Die eingefahrenen Positionen haben sich in den vergangenen fünfzig Jahren stetig verhärtet, sodass es für jede der beiden Seiten schwer ist, auf eine Versöhnung hinzuarbeiten. Das behindert jeden Fortschritt und bewirkt eine politische Stagnation. Obwohl viele Gesellschaften auf der Welt durch Klassen- und Wohlstandsunterschiede sowie die Chancenungleichheit, welche diese mit sich bringen, gespalten sind, ist die Lage in Deutschland anders, vielleicht sogar einzigartig. Eine ganze Generation Ostdeutscher hat beispielsweise nicht viel dabei mitzubestimmen gehabt, wie sich ihre Leben nach dem Mauerfall entwickelt haben. Nach den feierlichen Umarmungen haben die BRD und die ehemalige DDR einander die Rücken zugekehrt. Ich hoffe, in Hoyerswerda über diese Schwarz-Weiß-Erzählung von Ost gegen West hinauszukommen. Denn es ist dieses Entweder-Oder der Debatten, das mich stört: diese Teilung in an-aus, laut-still, ernst-komisch, gut-böse, die in der Presse und auf literarischen Podien endlos wiedergekäut wird.
Mein Interesse an diesen Themen ist enorm gewachsen, seit ich Reimanns Buch übersetze; vielleicht fange ich an, den Westen durch ihre Augen zu sehen. Die Mentalität von Reimanns Figuren – Franziska Linkerhand ist das beste Beispiel – ist voller Widersprüche; nichts an ihr ist Entweder-Oder, und das macht sie so überzeugend. Sie ist aus Fleisch und Blut, nicht die willenlose Erfüllungsgehilfin eines Regimes. Franziska trifft in Neustadt schon bald auf Schwierigkeiten; Funktionäre stutzen ihre Träume zurecht, während ihr Liebhaber, der Arbeiter Trojanowicz, sie als bürgerlichen Snob abstempelt. Doch sie bleibt und kämpft. Reimann selbst gefiel das Stadtbild von Hoyerswerda überhaupt nicht, als sie in den 1960ern mit ihrem Mann Siegfried Pitschmann als Teil des Bitterfelder Wegs dorthin zog, eines Kulturprojekts, das Künstler in die Betriebe schickte, um dort Zirkel schreibender Arbeiter zu gründen und damit der Aufforderung der Partei zu folgen, ihre „Elfenbeintürme“ zu verlassen und ihren Beitrag zum Aufbau des neuen sozialistischen Staates zu leisten. Trotzdem entschied auch sie sich dafür, zu bleiben und zu kämpfen, statt zu gehen, weil sie hier das Potenzial für eine neue Gesellschaftsordnung sah. Ihre oft scharfe Kritik an der DDR passt nicht zu der im Westen verbreiteten Ansicht, Ostdeutschland sei so repressiv gewesen, dass Schriftsteller·innen dort ihre Stimmen nicht hätten erheben können. Dass der Staat etwas verbietet, bedeutet eben nicht unbedingt, dass man es nicht trotzdem tut, schätze ich. Reimann machte sich auch über die lächerlichen Vorurteile zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs lustig. In ihren Tagebüchern verspottet sie sogar die West-Journalist·innen, die sie und all ihre Kolleg·innen für mundtot und dauerzensiert hielten:
‘(...) eine richtige Diskussion kam nicht zustande, weil die Leute zuviel Zeit damit verbrachten, sich totzuwundern, dass wir so „liberal“ sind, dass wir so „frei“ schreiben dürfen. (…) es gab ein halbes Dutzend Mikrophone, und die Fotografen waren aufdringlich, fidelten mir mit ihren Kameras unter der Nase herum, „bitte lächeln“, und die Journaille machten mich unsicher (sie mögen uns nicht, und ihre Artikel werde ich besser gar nicht erst lesen). (…) Es gab ein paar ausgesprochen idiotische Fragen nach Franziskas Entwicklung: bleibt sie zweiflerisch oder wird sie linientreu? u dgl. Merkwürdige Vorstellung über „Parteileben“ und „politische Menschen“. Aber trotzdem: dass man überhaupt schon miteinander sprechen kann, dass man sich trifft, einander zuhört (…) In der Tat, ich stieß auf Unglauben, als ich sagte, ich spräche hier nicht anders als bei uns drüben. Manfred war überrascht von meiner Art zu schreiben – sie denken, wir sind geistig verkrüppelt (…).‘1
Inzwischen sind wir am Bahnhof Hoyerswerda angekommen und die gelben Fußballtrikots zerstreuen sich in alle Richtungen. Zum ersten Mal betrete ich die Stadt, die ich in meinem Kopf so oft durchwandert habe, seit ich Reimanns Tagebücher und Die Geschwister übersetzte, und sie sieht ganz anders aus als in meiner Vorstellung.
Wir steigen aus und ein Bus bringt uns ins Stadtzentrum, das an diesem unerträglich heißen, sonnigen Tag so verlassen wie eine Geisterstadt wirkt. Der Beton wirft die gleißende Sonne zurück und ich versuche, zunächst einmal etwas Schatten unter den Bäumen entlang der Hauptstraße zu finden. In Franziska Linkerhand wird die Magistrale, die ich entlanglaufe, wie folgt beschrieben:
Ich schreibe Straße, und vor die hundert Straßen, die sich blitzschnell aufrollen, überschneiden, ineinander schachteln, schiebt sich, als habe sie das Gedächtnis schärfer fotografiert als andere, das Bild der Straße, auf der du mir entgegenkommst: die Magistrale, ein Wohnblock, ochsenblutrot, davor der übliche Rasen mit einem unüblichen Saum von Stiefmütterchen, am Straßenrand das gelbe Schild, das eine Bushaltestelle anzeigt (auch die Stiefmütterchen, fällt mir ein, sind gelb, rapsgelb, sonnengelb), die breite Straße, Stromtal aus Beton, überbreit, weil menschenleer; Verstecken oder Ausweichen war nicht möglich, einzige Rettung der Fahrplan, der nicht vorhandene, hinter der zerschlagenen Scheibe. Ich las von der leeren Tafel ab, sogar mit dem Finger, um geschäftig zu wirken, in Eile, nicht aufgelegt zu einem Gespräch (…).2
Endlich habe ich also ein Bild der Magistrale vor Augen, jener Straße in der Neustadt, auf der Reimanns Charaktere auf und ab laufen. Die Größe des deutschen Wortes, das manchmal als „Boulevard“ übersetzt wird, lässt mich an die Champs Élysées denken, einen baumgesäumten Ort für Flaneure, dessen Architektur nicht dem Gehen dient, sondern der Schönheit und Ablenkung. Jetzt sehe ich, dass die Straße den Elementen ausgesetzt ist – in diesem Fall der unbarmherzigen Sonne – wie auch Reimanns Hauptfiguren ungeschützt aufeinander zugehen, ein gescheitertes Liebespaar, dem weder Bäume noch andere grüne Hindernisse Deckung bieten. Franziskas Empfinden einer Entfremdung wird durch die Geradheit und Unumgänglichkeit der Straße noch betont. Ich mache mir eine Notiz zur Anschauung: Sie ist eine Arterie, eine Verbindung zwischen den Arbeiterwohnungen und Bushaltestellen. Die Magistrale – eine zweckmäßige Straße, auf der Busse die Menschen von A nach B bringen; kein Ort zum Verweilen.
Die zu Reimanns Zeiten gepflanzten Setzlinge sind gewachsen, aber trotzdem fühle ich mich auf meiner Suche nach einer Essgelegenheit oder auch nur ein paar Geschäften sehr ungeschützt. Niemand in diesem Stadtteil ist ausländisch. Niemand unter den wenigen Leuten, die ich aus der Ferne gesehen habe, hat dunkle Haut; es erregt schon Aufmerksamkeit, wenn man einfach nicht wie „von hier“ aussieht, und ich bereue es, meine lavendelfarbene Hose angezogen zu haben. Alle vermeiden gezielt jeglichen Augenkontakt mit mir – die Frau in den rosafarbenen Leggings, der tätowierte Mann, die verdrossen an mir vorbeischlurfende Jugendliche. Ein paar alte Leute auf ihren Balkonen werfen mir neugierige Blicke hinterher. Ich halte Google Maps geöffnet und meinen Blick auf den kleinen blauen Punkt gerichtet, weil ich niemanden nach dem Weg fragen möchte. Angesichts ihrer Verlassenheit fühlt es sich an, als sei die Stadt gerade vom Himmel gefallen; die heiße Luft, zerklüftet zwischen Betonwohnblöcken, kenne ich aus den Sommern meiner Kindheit. Beim Anblick einer Gruppe Kinder auf Fahrrädern, die ein Spiel spielen, bei dem sie durch eine große Regenpfütze fahren, erinnere ich mich plötzlich an etwas. Im Schatten des Baums auf dem Fußweg ziehen sie mit ihren feuchten Reifen Streifen auf dem Asphalt. Auch ich bin in einem Neubauviertel am Rande von London aufgewachsen, das nicht historisch gewachsen war und wo grüne Treffpunkte von Menschenhand geschaffen waren; wir haben damals genauso gespielt wie diese Kinder – immer lieber auf dem Gehweg improvisiert als die eigens dafür angelegten, für uns gedachten Spielplätze zu benutzen. Die gebauten und demographischen Strukturen von Hoyerswerda ähneln denen von Bezirken wie der Banlieue in Paris oder dem Londoner Einzugsgebiet: in den Wachstumsjahren ziehen dort die Armen und die Migranten hin, später folgen Massenarbeitslosigkeit und Verfall. Die Enttäuschungen, die ich als Kind beobachten konnte, entluden sich in Gewaltausbrüchen, die der Schlägerei in jener Kneipe ähneln, die Franziska mit ihrem Vorgesetzten in der Neustadt besucht. Chefarchitekt Schafheutlin glaubt, die Ursache für die ständigen Schlägereien zu kennen:
„Immer dieselben Kunden, Grenzgänger und arbeitsscheues Gesindel, das uns Berlin nach dem Dreizehnten August auf den Hals geschickt hat. Umerziehung im Arbeitsprozeß, gut, und ich will auch nichts sagen, das ist eine nützliche Maßnahme. Aber was machen die Schlauköpfe von der Wohnungsverwaltung? Sie konzentrieren alle diese – Elemente in einem Block, und was bisher nicht einer Gang angehört hat, das organisiert sich jetzt.“3
Es ist ganz typisch für Reimann, dass ihre schlauen, zackigen Dialoge voll von Dingen sind, die sie in den Gesprächen der Leute in den Kneipen Hoyerswerdas aufgeschnappt haben muss, als sie in den 1960ern dorthin zog. Ihre Leser·innen müssen die Bedeutsamkeit des Datums sofort erkannt haben. Wie viele Leser·innen außerhalb Deutschlands wissen, dass der 13. August der Tag des Mauerbaus war? Soll ich einen heimlichen Hinweis einfügen? Und was mache ich mit dem Wort „Grenzgänger“? Ist klar, dass damit eine Person gemeint ist, die vor dem Mauerbau einen wirtschaftlichen Nutzen aus dem sozialistischen Staat zog, indem sie im Westen verdiente und im Osten lebte? Meine Übersetzung enthält Dutzende von Kommentaren zu diesen Problemen, um die ich mich später im Lektorat kümmern werde. Da sind Begriffe wie „antifaschistischer Schutzwall“, die allen ostdeutschen Leser·innen vertraut sind, aber in der originalgetreuen Übersetzung als „anti-fascist defence barrier“ eher umständlich klingen und auch nicht ganz das Ironische an dieser ostdeutschen Bezeichnung herüberbringen, oder was ihr Gebrauch über die Charaktere aussagt. Diese Ausdrücke müssen auf eine flotte, schwungvolle Art übersetzt werden und dem anglophonen Publikum genauso einleuchten, wie das bei Reimanns Leser·innen der Fall war.
Ich entdecke einen Dönerimbiss – scheinbar die einzige Essgelegenheit in dieser Gegend – der von einem türkischen Mann in den Dreißigern betrieben wird. Während ich bestelle, versuche ich, ein Gespräch anzufangen: Wie findet er das Leben hier? Was sind die Vor- und Nachteile? „Es ist sehr leicht, Geld anzusparen,“ sagt er, „weil man abends nirgendwo hingehen kann. Es ist eine Rentnerstadt, keine Bars, nix.“ Wie ist er hier gelandet? Er hat den Laden von seinem Vater übernommen, es ist ein Familiengeschäft. Sofort habe ich das Gefühl, als ob der Mann am Flipperautomaten, dessen Haare kurzgeschoren sind und der Tattoos in Frakturschrift trägt, uns zuhört. Ich schätze, dass auch er um die Dreißig sein muss – also noch nicht einmal geboren war, als die Mauer fiel. Es ist vermutlich keine gute Idee, den Ladenbesitzer in Verlegenheit zu bringen.
Das Thema Außenseiter ist in Franziska Linkerhand allgegenwärtig. Reimann war selbst eine. Sie trug Arbeitsoveralls und Lippenstift, und ein Tuch um den Kopf gewickelt wie die Frau auf dem Rosie-the-Riveter-Plakat. Unser Stadtspaziergang beginnt in der Liselotte-Hermann-Straße, wo Reimann eine Eckwohnung im Obergeschoss bewohnte. An diesem heißen Sonntag hat sich eine Gruppe von etwa zehn Leuten eingefunden, von denen die meisten zu einem Kulturverein aus Künstler·innen, Schriftsteller·innen und Reimann-Fans gehören, der mit wenig Geld die Erinnerung an Reimann wachzuhalten versucht. Der Leiter dieses Stadtspaziergangs erklärt uns auch, dass Reimann nicht nur aus ideologischen Gründen hierherkam – sie war auch einfach froh darüber, eine Wohnung mit Bad und fließendem Wasser angeboten zu bekommen, was in den 1950ern noch immer ein Luxus war, weit entfernt von den armseligen Wohnbedingungen, die Menschen in größeren Städten wie Berlin zu ertragen hatten.
Die Straßenschilder sind alle auf Deutsch und Sorbisch. Die DDR erkannte den Sorben ihren Status als nationale Minderheit, den ihnen das NS-Regime aberkannte hatte, wieder zu. Die Sorben und Wenden waren die einzige anerkannte nationale Minderheit in der DDR, und stammten aus dieser Region.
An einer Straßenkreuzung bekommen wir eine Lesung aus Franziska Linkerhand: Franziska, die zusammen mit den anderen Arbeitern früh den Schichtbus zum Kombinat nimmt, wird von dem „Höllengestank“ des Kombinats überwältigt, einer Mischung aus „Schwefel und faulen Eiern.“ Ein (sorbischer) Bauer, der erkennt, dass sie „wohl nicht von hier“ ist, nutzt sofort die Gelegenheit, sich über die Zugezogenen auszulassen. „[L]auter fremdes Volk … sie haben die Erde um und dumm gewühlt … sie haben uns von Haus und Hof vertrieben ….“ Franziska erwidert, sie hätten doch sicher eine großzügige Abfindung erhalten. Er gibt mürrisch zurück, mit Geld ließe „sich nichts gutmachen.“ „Wir“ sagt er und betont durch die Wiederholung des Pronomens, dass sie nicht zu seiner Sippe gehört, „wir haben über hundert Jahr auf unserem Hof gesessen.“
Franziska hält ihn aber nur für hoffnungslos altmodisch, weil er so an seiner Scholle klebt. Ihr Auftrag ist es, Wohnungen für diese neuen Fabrikarbeiter zu errichten, die im örtlichen Braunkohlekombinat „die Erde umwühlen“ werden. Während der Bauer noch erzählt, entwirft sie in Gedanken bereits ein Stadtzentrum und Gebäude für den sozialistischen Staat.
Als ich diesen Abschnitt übersetzte, fiel mir seine Ironie ins Auge: Die Sorben wollten diese zugezogenen Arbeiter nicht – und einige ebendieser Neulinge vertrieben später, nach dem Mauerfall, die Gastarbeiter aus Mosambik und Vietnam, indem sie ihre Häuser anzündeten, während die Polizei tatenlos zusah. Nach mehreren Tagen wurden die Gastarbeiter evakuiert und nach jahrzehntelanger Arbeit per Flugzeug „nach Hause“ geschickt, oft ohne Lohn oder Rente. Für das Schicksal der Gastarbeiter in der DDR fühlte sich plötzlich niemand mehr zuständig.4
Für Fremde ist es nicht einfach, sich in Hoyerswerda zu orientieren: Die Stadt ist keinem erkennbaren Plan zufolge angelegt, und ich bin froh, in einer Gruppe herumgeführt zu werden. Von Reimanns Haus laufen wir über diverse kleine Nebenstraßen der Magistrale in Richtung Altstadt, einem Bilderbuchdorf mit Marktplatz und Schloss. Im Gegensatz dazu schoss die Neustadt mit ihren drei- bis fünfstöckigen Plattenbauten in den 1950ern geradezu aus dem Boden. Es gibt ein Einkaufsviertel mit einem Brunnen in der Mitte, dahinter ein renaturierter Park, durch den Fußgänger in die Altstadt gelangen können. Das Gelände bietet einen schrittweisen Übergang vom Alten zum Neuen. Nachdem wir durch den Park wieder in Richtung Magistrale gelaufen sind, gelangen wir schließlich zum neuen Marktplatz, wo es keinen Meter Schatten gibt, in dem man ein Buch lesen oder einen Kaffee trinken könnte. Das Kino scheint auch als Theater zu dienen. Mit diesem Problem setzte sich Reimann auf die ihr eigene – sehr direkte – Art auseinander.
Am 17. August 1963 schickte sie einen Leserbrief an die Lokalzeitung Lausitzer Rundschau, unter der Überschrift „Kann man in Hoyerswerda küssen?“ Sie kritisierte den Mangel an Rückzugsmöglichkeiten im öffentlichen Raum, an einladenden Orten, an denen man ein Buch lesen – oder sich küssen konnte. Sprung ins Jahr 2023: Die gleiche Zeitung hat Reimanns Frage gerade für ihre Leserschaft zitiert und bittet die Anwohner, eine „Kusskarte“ der Orte zu zeichnen, an denen sie sich wohlfühlen.5 Ob man sich in Hoyerswerda (im Gegensatz beispielsweise zu Berlin) dabei wohlfühlt, öffentlich Zuneigung zu bekunden, hängt heute aber eindeutig eher von der eigenen Hautfarbe oder sexuellen Orientierung ab als von der Stadtplanung.
Beschreibungen von Menschen in Franziska Linkerhand sind sehr knapp: Ein Kneipenhocker und Aufwiegler wird auf Seite 152 als „kellerbleich“ beschrieben. Obwohl dieses Adjektiv kein Reimannscher Neologismus ist (ich habe auf Instagram Beschreibungen der Effekte von Gothic-Schminke gefunden, die den Begriff verwenden), ist es mit Sicherheit auch kein gebräuchliches deutsches Wort. Außerdem sind es Menschen, die bleich sind, nicht Keller. Sieht der Mann so aus, als verbringe er all seine Zeit im Keller? Bekommt er also zu wenig Sonne? Die schattenhafte, klamme Unterwelt, die in dem Wort „Keller“ steckt, hat etwas Unheimliches an sich. Diese beiläufige Art von Beschreibung ist im Deutschen möglich, erfordert im Englischen aber ausführlichere Analyse. Dass Reimann mit Vorliebe ausgesprochen anschauliche Begriffe erfindet, ist einer der Gründe dafür, dass es so viel Freude bereitet, ihr Werk zu übersetzen.
Auch ihr Satzbau ist sehr eigenwillig. In einem ihrer Tagebucheinträge erwähnt sie, dass ihr Ehemann Siegfried Pitschmann ihre Sätze als „Stacheldraht“ bezeichnete. Eine andere Beschreibung wäre „modernistisch,“ schätze ich, oder „von Rousseau beeinflusst.“ So wie diese typische Konstruktion, die kaum Satzzeichen, aber viel Bewusstseinsstrom enthält:
Hinter seinem Rücken sagte jemand leise und deutlich: »Wir rechnen noch ab, du Kopfjäger.« Das war nicht mehr Thekenblödelei, nicht die freigesetzte Aggressivität Betrunkener, und lächerlich nicht einmal der Western-Jargon der leisen, gemeinen Stimme, wir rechnen noch ab, das hieß Hinterhalt, Cliquenkampf, drei gegen einen, an einer dunklen Straßenecke, und Schafheutlin drehte den kurzen Hals, er suchte nach einer gewissen Ganovenfresse, und in seinen grauen, etwas vorstehenden Augen flackerten Haß und Angst, ja, er hatte Angst, aber er verriet sich nicht, er stemmte die Fersen gegen den Boden, entschlossen, sich hier und sofort zu stellen.6
In meiner vorläufigen Übersetzung:
Behind his back, someone said quietly and clearly, ‘We’ll settle our score yet, you bounty hunter.’ This was no longer bar oafishness, not the unleashed aggression of a drunkard; and not even the Western jargon, spoken in a low, mean-sounding voice, was ridiculous. ‘We’ll settle our score yet’ was a threat, gang warfare, three against one on a dark street corner. Schafheutlin craned his short neck, looking for a particular hoodlum’s mug, and in his grey, slightly bulging eyes, flickered hatred and fear – yes, he was afraid, but he didn’t let it show. He planted his heels in the ground, determined to face it, here and now.
Ich versuche hier, ein Gleichgewicht zu erreichen – der Satz muss in der Übersetzung Sinn ergeben, aber ich möchte nicht die Dringlichkeit und Atemlosigkeit des Originals aufgeben. Wo einen Punkt setzen, ohne das Englische zu gestelzt zu machen? Und wie die Absicht des Originals bewahren, dass wir in Schafheutlins Gedanken sind?
Ein wesentlicher Gedanke in Franziska Linkerhand (und ein Ergebnis ihrer Erfahrungen in Hoyerswerda) ist Reimanns Überzeugung, dass gesellschaftliche Probleme entstehen, wenn Stadtplaner es versäumen, Orte zu schaffen, an denen Menschen zusammenkommen (oder sich sogar küssen) können. Zu diesen Problemen gehören Misshandlung und häusliche Gewalt, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, sogar Selbstmord und schwere Körperverletzung. Diese Themen waren Reimann sehr wichtig, und durch ihre Darstellung als Teil ihrer fiktiven Neustadt forderte sie die Zensur heraus. Eine der Figuren ist beispielsweise so einsam, dass sie Selbstmord begeht; in einer anderen Szene wird ein Mädchen auf einer leeren Baustelle vergewaltigt, ohne dass es irgendwen zu kümmern scheint. Voll von idealistischem Eifer nimmt Franziska an einem Wettbewerb teil, um ein neues Zentrum zu entwerfen – die Leute müssen zusammen ins Kino und ins Theater gehen können! Wenn die Gesellschaft funktionieren soll, müssen sie da zusammenkommen, wo die Kunst ist! Architekt·innen dürfen Städte nicht einfach nur als Orte begreifen, an denen Menschen arbeiten – die Arbeiter müssen auch in ihnen leben. Als ihr Vorgesetzter Schafheutlin allerdings erklärt, dass im Zentrum ihrer gemeinsamen Arbeit das Konzept des WK – des Wohnkomplexes – steht, begreift sie, dass ihr Aufruf zur Errichtung eines kulturellen Zentrums auf taube Ohren stößt. Jeder WK, erklärt Schafheutlin, ist seine eigene Kleinststadt, mit einem Gemeindezentrum, Kindergarten, Läden und anderen Einrichtungen – wie kleine Satelliten, die ohne Mittelpunkt umeinanderkreisen. In Wahrheit fehlt ihm Franziskas Idealismus völlig: Sein Ziel ist es schlichtweg, die größtmögliche Zahl Arbeiter auf kleinstmöglichem Raum unterzubringen. Das ist nur schlecht und billig! In Reimanns Darstellung ist das DDR-Wohnungsbauprogramm ausschließlich an Zahlen interessiert, nicht an Menschen.
Viele der alten Gemeindezentren und Kneipen in den WKs von Hoyerswerda sind seitdem abgerissen oder mit Brettern vernagelt worden, so auch die Freundschaft, die in Franziska Linkerhand vorkommt. Jemand aus unserer Stadtwandergruppe weist auf einen Vorzug der dezentralen Stadtviertel hin: geringer Benzinverbrauch. Wenn jede Gemeinschaft über ihre eigene Schule verfügt, müssen Kinder nicht mit dem Auto hin- und hergefahren werden. Wie Franziska frage allerdings auch ich mich, ob der Mangel an Möglichkeiten, Menschen von außerhalb der eigenen Blase kennenzulernen, ein Problem für Innenstädte in ganz Europa darstellt, nicht nur hier. Wenn wir nie hinaustreten, lernen wir nie andere Meinungen kennen. Reimanns Gedanken zum sozialen Aspekt des Städtebaus sind höchst aktuell; eine erfolgreiche, von gegenseitiger Hilfsbereitschaft geprägte Gemeinschaft kann nicht entstehen, wenn die Architektur nur der Arbeit ihren Ort zuweist, Kulturausgaben aber als unnötigen Luxus betrachtet. (Die gegenwärtige Berliner Regierung ist in die gleiche Falle getreten, indem sie Kultur als entbehrlichen Luxus einstuft, statt sie als Brandmauer gegen die wiedererstarkte Rechte zu begreifen.) Die Verantwortlichen in Neustadt, verblendet von den dortigen Idealen der Produktivität und Effizienz, behandeln ihre Arbeiter als gesichtslose Masse statt als Menschen mit individuellen Bedürfnissen.
Wohnungen, die für alle gleich sind, dienen als Symbol für die Macht industrieller Arbeit und betonen nicht das Individuum, sondern das arbeitende Kollektiv. Wer nach Hoy zog, tat das allerdings nicht aus festem Glauben an die Weltanschauung des ostdeutschen Staates, sondern wegen der Aussicht auf ordentliche Löhne, eigene Toilette und Zentralheizung. In einem Tagebucheintrag vom 12. März 1962 beschwert sich Reimann, die DDR habe sich eine „Konsumenten-Ideologie gezüchtet. Sozialismus ist Lebensstandard: Fernsehapparat, Kühlschrank und als Krönung der Trabant.“7 Aktivisten im Kombinat, so klagt sie, hätten sich in pantoffeltragende Stubenhocker verwandelt. Ganz gleich, ob die Häuser identisch waren – wer darin lebte, wusste sehr genau, wer sich was leisten konnte und wer zu welcher Klasse gehörte.
In Franziskas Augen wird Neustadt durch den unterschiedslosen Einsatz der Plattenbauweise ohne höheres Stadtplanungskonzept zu einer Art Unheimat. Diesen Begriff prägt der Architekturhistoriker Ed Taverne in seinem Aufsatz „Rise and fall of the second socialist city: Hoyerswerda-Neustadt.“8 Auch er erklärt, die Gestaltung des Lebensraums Neustadt/Hoyerswerda sei ganz bewusst erfolgt: Die Privatsphäre wurde der Mobilmachung aller verfügbaren Produktivkräfte untergeordnet. Dem Blick der Nachbarn blieb nichts verborgen, was zu einer kollektiven Ablehnung jeglicher Großtuerei führte, aber paradoxerweise auch zum ständigen Vergleich der eigenen Lebensweise mit anderen. Sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne herrschte Durchsichtigkeit: So war beispielsweise die Einförmigkeit der Wohnbauten ein Symbol für die Gleichheit Aller im Staate, aber deutlich greifbarer waren die schlechte Schalldämmung und das beengte Wohnen, die dazu führten, dass Nachbarn einander nur allzu deutlich wahrnahmen. Ob nun metaphorisch-weltanschaulich oder real, zwei sehr unterschiedliche Kräfte wirkten in der öffentlichen und der privaten Sphäre: in der ersteren wurde das Ideal eines Kollektivs mit gemeinsamen Zielen hochgehalten, während in der letzteren Unterschiede im individuellen Geschmack oder der Klassenzugehörigkeit existierten und Reibungen verursachten.
Reimann nutzt diese Doppeldeutigkeit in ihrem Roman für einen schöpferischen Konflikt: Trojanowicz, den Franziska beim Tanzen in Neustadt kennenlernt, ist Lastwagenfahrer und automatisch Mitglied des Proletariats – während sie zur Intelligenz gehört. Für sie ist er ein Buch mit sieben Siegeln; sie kann ihn nicht verstehen, was einen Teil seiner Anziehungskraft auszumachen scheint. Franziskas allmähliche Einsicht, dass die Stadtverwaltung nicht an ihren utopischen Visionen eines Stadtzentrums interessiert ist, wirkt wie ein Echo ihrer Ernüchterung gegenüber Trojanowicz und ihres Glaubens daran, dass sie ihre Unterschiede überwinden können.
Ein Teil des sozialistischen Traum war es, dass Kultur allen zugänglich sein sollte; dass Kranführern die Gelegenheit geboten werden sollte, Tolstoi zu lesen und sich am kreativen Schreiben zu versuchen, während Schriftsteller in Arbeitskleidung schlüpfen und an Schwermaschinen arbeiten sollten, um zu verstehen, wie sich die Arbeit an der Basis anfühlte. Trojanowicz bringt Franziska von ihren Höhenflügen zurück auf den Boden der Tatsachen, als er ihr erklärt, die Stadt sei „eine Siedlung von Fernsehhöhlen (…), eine vertane Chance, ein städtebauliches Debakel (…) weil die Stadt ihre Funktion verfehlt, indem sie Kommunikationen nicht fördert, sondern verhindert, Lebensbereiche und Tätigkeiten ihrer Bewohner nicht vermischt, sondern trennt. Eine amputierte Stadt!“9 Für dieses Desaster macht er Menschen wie Franziska verantwortlich, und an dieser Stelle stößt ihr Idealbild von Trojanowicz mit dem wirklichen Mann zusammen, genau wie beim Konflikt zwischen architektonischem Idealismus und Lebensrealität in Neustadt.
Die Spannungen zwischen Trojanowicz und Franziska entstehen also aus ihren Klassenunterschieden und widerlegen damit den Anspruch der DDR, ein klassenloser Staat zu sein. Reimann stammte selbst aus einer Familie, die als bürgerlich galt, und hatte in ihrem Elternhaus Zugang zu einer großen Bibliothek – ihr Vater war Kunstbuchverleger. Sie bewunderte die französischen und russischen Klassiker enorm, las aber auch Werke von James Baldwin, Carson McCullers, Natalia Ginzburg und Hemingway, die allesamt in der frühen DDR übersetzt wurden.10 Der Gegensatz zwischen den hehren Idealen der Intelligenz und den knallharten Arbeitern findet sich auch in den Ansichten von Reger, Franziskas Architekturprofessor, einem alten Romantiker, und Schafheutlin, ihrem pragmatischen Vorgesetzten in Neustadt. Der Roman folgt auf diese Weise einer Identitätssuche in dieser Stadt, die von null anfängt und wo Klassenunterschiede in gewissem Ausmaß verwischt worden sind. Franziska stößt jedoch immer wieder an Grenzen, wenn sie sich von ihren Wurzeln zu lösen hofft, um dadurch eine neue Identität anzunehmen. Ist es überhaupt möglich, sich von seinen Wurzeln zu lösen, sich neu zu erfinden? Diese Frage zieht sich durch den ganzen Text.
Um die Größenordnung der DDR-Bauprojekte zu verdeutlichen: Es wurden etwa 4 Millionen Wohnungen errichtet, davon etwa 90% aus Betonplatten. Fast die Hälfte aller Ostdeutschen lebte irgendwann im Plattenbau.11 Richard Paulick, der für den Entwurf von vielen von ihnen verantwortlich zeichnete, arbeitete Ende der 1920er Jahre in Walter Gropius’ Büro am Bauhaus in Dessau. Zusammen mit Hermann Henselmann entwarf Paulick die Karl-Marx-Allee in Berlin, die damals Stalinallee hieß (und jetzt zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt werden soll12). Und als Beleg dafür, wie schwer es war, das Konzept der Gleichheit in der sozialistischen Realität umzusetzen, baute sich Richard Paulick eine große Penthouse-Wohnung an der Stalinallee, spielte öffentlich aber weiterhin seine Rolle als Architekt des „Wohnungsbaus für die einfachen Leute“.
Die Figur des Professor Reger in Franziska Linkerhand beruht auf Henselmann, einem engen Freund Reimanns, mit dem sie während der Arbeit an ihrem Roman einen regen Briefwechsel zu Architekturfragen führte.13 In einem der Briefe schreibt sie: „Mir bereitet es physisches Unbehagen wenn ich durch die Stadt gehe – mit ihrer tristen Magistrale.“14 Die Reimann-Expert·innen, mit denen ich mich unterhalte, glauben, dass sie zu früh nach Hoy zog (neu gepflanzte Bäume brauchen eine Weile, um zu wachsen) und zu ungeduldig war. Im gleichen Brief beschwert Reimann sich über „Typenläden, Typenhäuser und Typenlokale“. Während sie Franziska Linkerhand schrieb, abonnierte sie die Zeitschrift Deutsche Architektur und informierte sich über Branchendebatten. Außerdem hielt sie Henselmann über ihren Schreibfortschritt auf dem Laufenden: „Noch bewege ich mich in der Geschichte wie in einem dunklen Zimmer (…) das nächste Mal kann ich Ihnen schon besser sagen, wie das Interieur aussieht, und vielleicht habe ich auch dann den Lichtschalter gefunden.“15 Im Gegenzug bespricht Henselmann mit ihr das Konzept des „Stararchitekten“ (siehe Mies van der Rohe im Westen), das es in der DDR nicht gebe – wo Architekten, ganz wie andere Künstler, nicht einfach nur die Fähigkeit benötigten, Anweisungen auszuführen, sondern tatsächlich Talent brauchten. Wie allerdings soll der sozialistische Staat dem Konzept des talentierten Individuums Raum geben, wenn er gleichzeitig die Freiheit einschränkt, in der sich dieses Talent entfalten könnte? Und wie können jene, die für die Sache kämpfen, tatsächlich eingebunden werden, wenn der einfache Arbeiter sie als abgehobene Schnösel betrachtet?
Während ich weiter die Hauptstraße entlanglaufe, versuche ich die WK in Hoy mit ostdeutschen Augen zu sehen – als moderne, warme, bequeme Lebensräume. Warum genießen diese Wohnungen nicht das gleiche Ansehen wie beispielsweise Le Corbusiers Wohnhochhäuser in Berlin-Tiergarten, die in den 1950er Jahren für die Interbau errichtet wurden und heute UNESCO-Weltkulturerbe sind? Beide Arten von Wohnblöcken sind schließlich nach ähnlichen seriellen Produktionsprinzipien errichtet worden, um einer möglichst großen Zahl an Menschen Wohnraum zu bieten. „Im Westen,“ schreibt Regina Behrendt, „bedeutet Plattenbau selten etwas anderes als Endstation – für Sozialhilfeempfänger, Immigranten, sogenannte „kinderreiche“ Familien und andere „soziale Problemfälle“, die auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten wenig oder keine Chancen mehr haben.“16 Le Corbusier hin oder her, die Wohnbedingungen in den Hochhäusern der Banlieues von Paris, der Londoner Innenstadt – mir fällt sofort Grenfell Tower ein – und anderswo werden schon lange gebrandmarkt. Medienberichte sowie Filme und Bücher, die in diesen Anlagen spielen, betonen die armseligen Lebensbedingungen ihrer Bewohner, einer Gruppe, die von der westlichen Gesellschaft vergessen worden ist. Doch anders als in London, Paris und anderswo boten die Wohnhochhäuser in der DDR deutlich bessere Lebensbedingungen als die ausgebombten Altbauten in den Großstädten. In Grit Lemkes Kinder von Hoy (Suhrkamp Insel, 2021) beschreiben Menschen, die dort gelebt haben, eine Gemeinschaft, in der Nachbarn gemeinschaftlich auf die Kinder aufpassten und einander in den meisten Fällen unterstützten. Und dann fiel die Mauer. Die Westpresse sah brennende Wohnblöcke und nahm an, dass sie darin ihre eigene, abgeschriebene Unterschicht widergespiegelt sah. Die Brandbomben, die durch die Fenster von Asylbewerberheimen in Hoy geworfen wurden, standen in direktem Zusammenhang zu den Lebensbedingungen im Plattenbau. In Franziska Linkerhand kündigt Reimann diese Probleme bereits an. Sie erforscht sie in all ihrer Komplexität – wie man Menschen bessere Wohnbedingungen bieten kann und was passiert, wenn Stadtplaner Orte des gemeinschaftlichen Lebens aussparen. Als ich selbst in einer Neustadt aufwuchs, hielten sich Kinder und vor allem Jugendliche selten an den Orten auf, die für ihre Zusammenkünfte vorgesehen waren, sondern schufen spontan ihre eigenen – wie die Kinder, die ich mit ihren Fahrrädern durch die Pfütze fahren sah.
Am Ende des Spaziergangs verlasse ich Hoy, indem ich durch die wunderschönen Altstadtstraßen zurück zum Bahnhof laufe, über den Marktplatz und am Schloss vorbei, wo es eine sehr kundige und lehrreiche Reimann-Ausstellung gibt.
Im Zug in Richtung Leipzig habe ich das Gefühl, mich einen Tag lang in einem fremden Land aufgehalten zu haben, einer anderen Art Deutschland mit einer Atmosphäre, die sich von der, die ich aus Berlin gewohnt bin, unterscheidet. Ein bleibender Eindruck ist der weite Raum, die Leere, so anders als in den überbevölkerten Berliner Bezirken, wo Profitgier und Wohnungsmangel zu aberwitzigen Mieten geführt haben. Ich denke darüber nach, dass die WK in Hoy das genaue Gegenteil der Wohnhochhäuser an den Stadträdern westeuropäischer Städte sind: sie sind voll von Rentnern und weißen Menschen, teilweise leerstehend, weil es eine stetige Abwanderung gen Westen gegeben hat; und dass an ähnlichen Orten am Rande westlicher Großstädte Hochhäuser gleichbedeutend mit armseligen, wenn nicht sogar gefährlichen Lebensbedingungen sind, mit nicht-weißen Bewohner·innen und Menschen, die hart arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. In einem anderen Artikel für die Lausitzer Rundschau schreibt Reimann 1963 als Reaktion auf den Furor, den ihre Fragen nach dem Küssen in Hoyerswerda ausgelöst hatte: „Eine Stadt der Typenbauten kann zum Problem werden denn die Umgebung, die Architektur, prägt das Lebensgefühl des Menschen im Gleichen Maße wie Literatur, Malerei, Musik, Produktionsprozeß, Physik und Automation. (...) Das Leben besteht nicht nur aus den acht Stunden Arbeitszeit.“17
Meine geistige Karte von Hoyerswerda wird mir gute Dienste leisten, wenn ich wieder in Berlin am Schreibtisch sitze, in meiner Altbauwohnung im ehemaligen Osten, in einem gentrifizierten Viertel, wo es schwer vorstellbar ist, dass Menschen einst nach Hoyerswerda zogen, um der Armut hier zu entfliehen. Die Gespräche mit Reimann-Expert·innen und Architekt·innen und die Einblicke in die sorbische Bevölkerung waren für meine Übersetzung von Franziska Linkerhand von unschätzbarem Wert. Wenn ich das Wort WK auf dem Papier sehe, stehen nun reihenweise Plattenbauten vor meinem geistigen Auge. Was aber den vermutlich tiefsten Eindruck hinterlassen hat, ist das Bild der langen, heißen Hauptstraße, wie ein Fluss aus Beton, menschenleer bis auf ein Paar Kinder, die mit ihren Rädern durch die Pfütze fahren und feuchte Spuren ziehen. Alle Stadtplanung der Welt kann die Menschen nicht davon abhalten, den städtischen Raum auf ihre eigene Weise zu nutzen.
Fußnote: Woher kommt das große Interesse an DDR-Literatur im Ausland in den letzten Jahren?
Diese Frage ist mir oft gestellt worden, seit 2023 meine Übersetzung von Die Geschwister erschien. Ich bin mir nicht sicher, was die Antwort ist, oder ob es überhaupt klug ist, eine Literatur, die aus vielen verschiedenen Genres, Ansätzen, Stilen und Standpunkten besteht, in eine einzige Schublade – die Staatsangehörigkeit der Schriftsteller·innen – zu packen. Simple Etiketten passen selten – man stelle sich nur einmal den Aufschrei vor, den es gäbe, wenn wir alle Literatur aus der alten Bundesrepublik als „westdeutsch“ bezeichneten. Aber ich will versuchen, so gut wie möglich zu antworten.
Zunächst einmal glaube ich, dass das Tauziehen zwischen der ostdeutschen und westdeutschen Literatur ein innerdeutscher Konflikt ist. Wer Literatur übersetzt und damit nach außen trägt und anderen Blicken aussetzt, lädt damit auch andere Menschen dazu ein, ihre Meinung zu äußern. Die Themen, die in Büchern wie Die Geschwister und Franziska Linkerhand behandelt werden, sind natürlich für Leser·innen aus dem Ausland leicht als „ostdeutsch“ einzustufen. Es kommen wiedererkennbare Figuren wie Stasileute und Arbeiter im Blaumann darin vor, wobei diese nie ganz dem Klischee entsprechen. Reimann schrieb diese Bücher, um ihre persönlichen Erfahrungen in der DDR zu verarbeiten – was sich durch die Lektüre ihrer Tagebücher nachverfolgen lässt, die bei Seagull Books schon 2008 übersetzt und veröffentlicht wurden, einem Verlag, der damit der aktuellen DDR-Literaturmode deutlich zuvorkam. Dem Echo von Leser·innen und anderen auf Siblings, meine Übersetzung von Die Geschwister, nach zu urteilen, sind englischsprachige Leser·innen dankbar dafür, einen Eindruck vom Leben hinter dem Eisernen Vorhang zu bekommen, zumal wenn es ein so lebendiger und humorvoller Eindruck ist wie in Reimanns Prosa.
Aber wer entscheidet sich dazu, ostdeutsche Literatur zu veröffentlichen? Verlage im Ausland werden immer öfter von Menschen geleitet, die eigene Erfahrungen mit dem Ostblock gemacht haben – mein erstes Gespräch bei Penguin Modern Classics beispielsweise führte ich mit einer rumänischstämmigen Person. Die Lektor·innen bei Seagull, die DDR-Schriftsteller·innen wie Hilbig und Reimann ins Programm geholt haben, blicken vermutlich aus größerer Distanz auf die Literaturen der Welt als europäische Verlagshäuser das tun. In einem kürzlichen erschienenen Artikel im Tagesspiegel beweist Julia Schoch, eine erfolgreiche deutsche Schriftstellerin, dass diese Sichtweise auch in Deutschland anzutreffen ist: Die Potsdamer Autorin, geboren 1974 in Bad Saarow, hat ihre Wurzeln im Osten,
schaut auf ihn aber (...) aus der Perspektive der großen geschichtlichen Bewegungen, so nennt sie das. Ägypter, Römer, Wikinger, alle seien verbunden durch Muster, durch „Wellen“ von Gewalt und Zerfall. „Und da ist die DDR tatsächlich nur eine Fußnote“, sagt sie. „Ein Wimpernschlag.“18
Wer mehr über den Prozess der Übersetzung von Die Geschwister und die Rezeption des Buches erfahren möchte, wird die folgenden Links vielleicht hilfreich finden:
– Interview zusammen mit Jenny Erpenbeck auf BBC 4 (25. Juni 2023)
– Interview auf Monocle Radio (17. Februar 2023)
– Interview im Freitag (3. Februar 2023)
– Artikel in der Süddeutschen Zeitung (31. März 2023)
– Fernsehsendung Titel Thesen Temperamente (9. Juli 2023)
Danksagung: Ich danke dem DÜF für das Stipendium, das es mir ermöglichte, im Sommer 2023 Hoyerswerda, Burg und das Reimann-Archiv in Neubrandenburg zu besuchen. Ich danke außerdem Galina Green für ihre Lektüre des ersten Entwurfs und die hervorragenden Verbesserungsvorschläge.