Eine Reise durch Raum und Zeit
Journal zur Übersetzung von Ruth Zylbermans Rue Saint-Maur 209
Als Ruth Zylberman in den frühen 2010er Jahren das Haus in der Rue Saint-Maur 209 im 10. Pariser Arrondissement entdeckt, ist es der Beginn einer langen Reise.
Ich träumte von einem Haus, das ich wie eine terra incognita erkunden würde, von oben bis unten, vom Fundament bis zur Dachspitze, um meine Obsession endlich auszuleben. Ich musste mich nur entscheiden. Für ein Mietshaus. Ein einziges. Ein Mietshaus, zu dem ich keinerlei Verbindung hatte und über das ich trotzdem alles in Erfahrung bringen würde. Ich wollte es filmen, eventuell auch darüber schreiben.
Ruth Zylberman, Rue Saint-Maur 209. Übers. von Patricia Klobusiczky und Ela zum Winkel. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2025, S. 14.
Sie hat beides getan: In ihrem 2018 ausgestrahlten Film Die Kinder aus der Rue Saint-Maur rekonstruierte Ruth Zylberman nach jahrelangen Recherchen die Mikrogeschichte(n) des Hauses und seiner Bewohner·innen zur Zeit der deutschen Besatzung; 2020 folgte das Buch 209 rue Saint-Maur, Paris Xe. Autobiographie d’un immeuble, in dem sie ihre Spurensuche noch einmal deutlich verlängert: von der Pariser Kommune über den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Terroranschlägen 2015 ging sie in Anlehnung an Georges Perec mit detektivischer Akribie dem „Infra-Gewöhnlichen“1 nach, um alles über dieses Haus herauszufinden.
Januar 2024: Als ich nach ersten Gesprächen mit Patricia Klobusiczky anfange zu übersetzen, fühlt es sich ein wenig an wie ein Besuch bei alten Freunden. Das Haus mit der Nummer 209 kenne ich zu diesem Zeitpunkt „nur“ aus Film und Buch, die Umgebung der Rue Saint-Maur aber ist mir vertraut. Ich selbst habe ein paar Straßen weiter gelebt, ich kenne das Viertel, seine Straßen und Fassaden, Formen, Farben und Gerüche. Doch vor allem finde ich wieder, was schwerer fassbar ist: eine Art, die Stadt, ihre Straßen, Plätze und Häuser als Orte wahrzunehmen, deren Beständigkeit die Unbeständigkeit des Lebens birgt. Vermutlich rührt dieses unbestimmte Gefühl auch aus den Lektüren, die mich geprägt haben und auf die ich im Lauf meiner Arbeit an der Übersetzung immer wieder zurückgreife: zunächst von jenen Autoren, die mir im Buch selbst begegnen, Perec, Proust, Benjamin, aber auch viele andere, die mir auf unterschiedliche Art miteinander verwandt scheinen. Grob gesagt lässt sich jener Kosmos aus Gelesenem, Gesehenem und Gehörtem, der mich während der Arbeit an der Übersetzung begleitet, in drei Kategorien einteilen:
1 – Da ist zunächst meine private kleine Echokammer, zu der auch o.g. Autoren gehören. Obwohl sie in der Regel keine sichtbaren Spuren in der Übersetzung hinterlassen, bilden sie in meiner Vorstellung doch ihr Fundament; Parallelen, Gleichklänge aufzuspüren, zu notieren, wo sie sich unterscheiden und ergänzen, ebnet mir gewissermaßen den Weg in den Text, hilft mir, eigene Gedanken zu ordnen und gleichermaßen in neuen Zusammenhängen zu denken.
2 – Jene, in die alles Eingang findet, wo ich gezielter nach etwas suche oder nachlese
3 – und schließlich all die im Netz aufgestöberten Funde, von denen ich einige abspeichere und/oder ausdrucke (und die somit in eine der oberen Gruppen wandern) und viele andere nur flüchtig streife.
Dieser Weg der Einfühlung unterscheidet sich nicht von der Arbeit an anderen Übersetzungen, doch einen – für mich bedeutenden – Unterschied gibt es: In der Rue Saint-Maur 209 steht ein echtes Haus und ebenso echt sind die Menschen, die dort gelebt haben oder leben; manche von ihnen kann ich im Film sogar in Bild und Ton erleben. Dass ich mich nicht allein auf die Bilder in meinem Kopf verlassen kann, verschiebt den Anspruch an die Übersetzung und rückt für mich auch die Frage der Verantwortung noch einmal mehr in den Vordergrund: weil diese Menschen dem, was ich von ihnen überliefere, mehr oder weniger ausgeliefert sind, aber auch, und da wird es etwas komplizierter, weil ich meine, dass es – wie u.a. auch in Texten von Perec, Modiano und einigen von Walter Benjamin – im Kern darum geht, Spuren zu bewahren und eine Kontinuität zu schaffen, und so dem, was entrissen wurde und gänzlich zu verschwinden droht, etwas entgegenzusetzen; mit einer Akribie, die also auch ich mir für die Arbeit an der Übersetzung als Beispiel nehme.
Kosmogonie der 209
Die 209, das sind vier sechsstöckige Gebäude und ein Hof in ihrer Mitte. Ein einfaches Haus im Nordosten von Paris, zu Anfang des 20. Jahrhunderts von Handwerkern, Angestellten und Arbeitern bevölkert, sie kommen aus Paris und ganz Frankreich, aus Ost-und Südeuropa, aus Marokko und Algerien.
Ich fange also an, zu sammeln: Ich lese, so viel ich kann, befrage Bekannte und Verwandte zu Organisationsstrukturen der Kommunistischen Partei Frankreichs in den 1920er Jahren (und lerne dabei, dass die sogenannten rayons – also Sektionen, Kreisverbände –, ein im Zuge der Bolschewisierung der Partei sprachlicher Reimport aus dem Russischen waren), tauche selbst in diverse Archive ein, schlage vieles in den Publikationen von Serge Klarsfeld nach, wo ich stets fündig werde (zur Verfolgung der Juden in Frankreich gibt es meines Wissens nach kein vergleichbar genaues und umfassendes Werk wie Vichy-Auschwitz2). Vieles bleibt aber auch, bis zur weiteren Klärung, gelb markiert.
Immer wieder stoße ich auf den accent parigot oder accent de titi, einst „Akzent“ der Pariser Arbeiterviertel, der dem Text selbst nicht zu entnehmen ist, aber den allermeisten französischen Leser·innen wohl zumindest vage im Ohr klingt. Ich experimentiere ein bisschen, in meiner ersten Fassung bleibt an einer Stelle zunächst das parigot, welches vorübergehend zum Akzent der Pariser Faubourgs und zum Pariser Arbeiterakzent wird, dann zum breiten Pariser Dialekt, und schließlich, in den Druckfahnen, zu einem breiten Pariser Akzent. Einen Eindruck, wie sich Pariser·innen zu Anfang des 20. Jahrhunderts anhörten, bekomme ich z.B. hier.
Ein paar Wochen vor Abgabe der Übersetzung befällt mich immer wieder eine Unruhe, ich könnte im Labyrinth der Namen, Daten, Beziehungen und Verbindungen etwas durcheinandergebracht oder übersehen haben, den Film sehe ich mir auszugsweise mehrmals pro Woche an, immer wieder auch zur Gänze. Schließlich schicke ich die Fragen, die noch offen geblieben sind, an die Autorin. Manche scheinen mir so pedantisch, dass es mir unangenehm ist (neigt sie den Kopf vor der Kamera wirklich nach rechts? Oder doch eher nach links, aber nach rechts für jene, die das Bild betrachten?), vor allem aber solche zu Informationen, die im Geflecht der Erinnerungen in schriftlichen wie mündlichen Überlieferungen auseinandergehen (so z.B. zur Todesursache einer Concierge, die je nach Auskunft mal an einem Herzinfarkt, mal an einem Hirnschlag gestorben ist. Als ich nachfrage, muss ich nicht lange warten, bis mir die Autorin antwortet: ja, das wisse niemand so genau, gewiss sei nur: sie starb sehr plötzlich).
Ruth Zylberman: Rue Saint-Maur 209. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky und Ela zum Winkel. Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2025.
Eine diskrete Präsenz
Im Grunde hat dieses Buch neben den ehemaligen wie gegenwärtigen Bewohner·innen der 209 noch drei weitere Hauptfiguren: Die Stadt, das Haus, und die Autorin selbst.
Die Autorin nimmt als Erzählerin insofern eine besondere Rolle ein, als sie stets präsent ist und zugleich im Hintergrund bleibt: Natürlich ist es ihr Blick, dem wir folgen, ihre Stimme und ihre Gedanken, die uns durch das Buch leiten. Doch es ist eine diskrete Präsenz, ein Ich, das mir weder autobiografisch noch autofiktional scheint, sondern ein Ich, das sich durch die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der Welt um sich herum konstituiert. An der Erzählung haftet die Spur des Erzählenden3, schreibt Benjamin – und ich glaube, es ist auch umgekehrt.
Schon bald merke ich, dass diese Haltung auf meine eigene Haltung als Übersetzerin abfärbt und mit jedem Durchgang scheint mir ihre Stimme zunehmend mit meiner eigenen zu verschwimmen. Ich fühle mich selbst ein bisschen als Teil des Hauses, drücke das Eingangstor auf, überquere den Hof und gehe seine Treppenaufgänge hinauf und hinab (später habe ich dann tatsächlich Gelegenheit, das Haus mit eigenen Augen zu sehen und als ich mich in den Hof stehle, stellt sich das seltsame Gefühl ein, an einem Ort zu sein, der mir zwar so vertraut scheint, aber dem ich völlig fremd bin.)
Aber zurück zu Ruth Zylbermans Stimme: tatsächlich hat jene diskrete Präsenz auch zur Folge, dass ich mich ständig frage: Würde die Autorin, wenn sie Deutsch spräche, es tatsächlich auch so, mit diesen Worten sagen? Oder würde sie es an dieser Stelle doch eher anders formulieren? Oder womöglich gar die Augen verdrehen und irritiert die Stirn runzeln? Eine Stimme ist immer intim und individuell, doch sie scheint mir ungleich näher, wenn sie wie im Flüsterton mitdenkt, zugleich erzählt und erzählt wird. (Eine Form der Narration, die mich als Leserin wie als Übersetzerin auf besondere Art und Weise bannt; immer wieder denke ich in diesem Zusammenhang auch an Emmanuel Carrère, der sich in vielen seiner Bücher auch zwischen einem Innen und Außen bewegt, „wahre“ Geschichten von anderen erzählt und zugleich selbst Teil der Handlung wird; und damit auch an seine Übersetzerin Claudia Hamm, die u.a. in etlichen Gesprächen, Vorträgen und Texten über das Übersetzen von Stimmen nachdenkt.4) Das schlägt sich auch im Satzbau nieder. Ruth Zylbermans Sätze sind oft lang und von Einschüben und Parenthesen durchsetzt: als würde sie sich kurz aus einer Szene herauszoomen, um sie innerlich zu rekapitulieren, auf ein Detail, einen Gedanken zurückzukommen oder diesen weiterzuführen:
Was könnte ich sagen, wenn mich jemand zu meinem Haus, meinen damaligen Nachbarn befragen würde? Ich muss zugeben, nicht viel. Ich bin in friedlichen Zeiten aufgewachsen, Ende der Siebziger, in einem Haus, das mit seinem großen Innenhof und den vier Treppenaufgängen der 209 nicht ganz unähnlich ist. Was das Haus, die Concierge, meine Nachbarn betrifft, so kann ich mich an nichts Greifbares erinnern. (Natürlich sind da Lichter, Gerüche, Geräusche – sozusagen das Fruchtwasser meiner räumlichen Umgebung –, ein paar Namen, aber es sind wenige, und vor allem ist es wenig im Vergleich zum Wesentlichen: zu dem Glücksgefühl, das ich noch heute wiederbeleben kann und das mich durchströmte, wenn meine Mutter nach der Arbeit zur Tür hereinkam, oder beim täglichen Radioquiz, das ich in der Mittagspause, ehe ich zurück in die Schule musste, mit meinem Vater anhörte.)
Rue Saint-Maur 209, S. 181.
Da hat die französische Syntax und Prosodie für mich einen eindeutigen Vorteil gegenüber der deutschen: oft scheint es mir, als folge sie mühelos, fast wie von selbst, dem Gedankengang.
Der Raum als Zeitkapsel
Dass es ein räumliches Gedächtnis gibt, zieht sich als grundlegender Gedanke durch das ganze Buch. Bei Edmund de Waal lese ich:
[Geschichte] ist nicht Vergangenheit, sie ist ein unaufhörliches Entfalten des Augenblicks. Sie entfaltet sich in unseren Händen. Deshalb bergen Objekte so viel in sich, sie gehören zu allen Zeitebenen, unaufgelöst, verstörend, essais.5
Die Erinnerung ist gleichsam behaust, Orte und Objekte kapseln die Zeit – und erzählen uns durch ihre haptische Stofflichkeit auf sehr unmittelbare, greifbare Art etwas von der Fragilität der Leben, von Besitz und Verlust.
Bei Ruth Zylberman sind es das Haus, seine Räume, und winzige Puppenhausmöbel, mit denen ihre einstige Einrichtung rekonstruiert wird; Edmund de Waal erzählte die Geschichte seiner Familie anhand ebenso winziger japanischer Figuren:
Ich möchte in jeden Raum gehen, wo dieses Objekt existiert hat, möchte sein Volumen spüren, wissen, welche Bilder an der Wand hingen, wie das Licht aus den Fenstern einfiel. Und ich möchte wissen, in wessen Händen es war, was jemandem daran lag, was er darüber dachte – falls er das tat. Ich möchte wissen, wovon es Zeuge war.6
Und als ich abends einmal Zeit und Geschichte des Historikers Philippe Ariès aus meinem Bücherregal ziehe, kann ich unvermutet wieder daran anknüpfen:
(…) dass Zeugenschaft gleichzeitig dies ist: eine persönliche, eng mit den großen Strömungen der Geschichte verbundene Existenz, und ein Augenblick der Geschichte, der erfasst wird in seiner Beziehung zu einer besonderen Existenz. (…) die Zeugenaussage [ist] nicht der distanzierte Bericht eines Beobachters, der aufzählt, oder eines Gelehrten, der aufzeigt, sondern eine Vermittlung, eine leidenschaftliche Anstrengung, den anderen, die mit an der Geschichte tragen, seine eigene Erschütterung durch die Geschichte spürbar zu machen. (…) Daher ist die Zeugenaussage ein geschichtlicher Akt.7
Die Zeugenschaft, wie ich sie bei Ariès verstehe, scheint mir auch auf Ruth Zylbermans Zugang übertragbar, wenn sie, statt sich der Vergangenheit als hermetisch abgeschlossene Epoche zuzuwenden, sich selbst als Teil eines lebendigen Organismus begreift und ihren Blick auf das lenkt, was es einmal gegeben hat, bevor sich die vertraute Umgebung als bedrohlich entpuppte: ein Zuhause, einen Alltag. Hier kommt mir wieder Walter Benjamin in den Sinn – und die Figur des Flaneurs:
Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit. Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Zeit einer Kindheit. Warum aber die seines gelebten Lebens? Im Asphalt, über den er hingeht, wecken seine Schritte eine erstaunliche Resonanz.8
Das Gefühl einer zuweilen rätselhaften Resonanz drückt sich konkret auch in der Zeitkomposition aus – die Patricia gleich bei einem unserer ersten Gespräche sehr treffend als dynamisch bezeichnet: in der Rue Saint-Maur 209 stehen Gegenwart und Vergangenheit in ständigem Dialog miteinander. Zeitformen sind eben nicht nur eine formale Sache, sie schaffen eine chronologische Abfolge, in der sich – und hier paraphrasiere ich Ariès9 – auch ein Verständnis von Zeit und Geschichte manifestiert.
Das Raunen der Jahre, das ich schon als kleines Kind auf meinen gewohnten Wegen entlang des Sacré-Coeur, der Rue Ronsard, der Place Saint-Pierre und der Rue Tardieu wahrnahm, mit dem verstörenden und zugleich unerschütterlichen Gefühl in Körper und Augen, nur eine Durchreisende zu sein, die auf dem dünnen Seil der Zeit balanciert.10
Auch ich gewinne zunehmend den Eindruck eines Balanceakts und taste mich unschlüssig an jene Zeit heran, die alles andere als linear verläuft. Wie ein Echo begleiten mich die Worte von Ariès, der von einer „fortdauernden Intimität mit der Gegenwart der Vergangenheit“ spricht. Was bedeutet das für die Übersetzung, wie lässt sich eine solche Relativität im Deutschen grammatisch ausdrücken? Vielleicht kann folgendes Beispiel jene Zeitdimension verdeutlichen:
Son visage se transforme, il sourit et je me souviens encore du silence qui a tout à coup régné : un silence impressionnant qui paraissait accompagner le parcours de cette réminiscence, qui en prolongeait la force d’énonciation. Elle était née, cette réminiscence, de la rencontre fortuite, involontaire avec les mots « bains municipaux » et j’ai immédiatement senti que derrière ces mots, ce qui surgissait c’était un corps, un corps touché, un corps soigné et aimé, le corps d’un enfant inconditionnellement protégé par ses parents.
C’était le corps d’Henri enfant qui, des décennies après avoir disparu dans les brouillards de la mémoire volontaire, réapparaissait ici même, face à moi, dans cet escalier, enfin libéré et affranchi de l’ordre du temps.(Original, S. 398-399.)
Sein Gesicht verwandelt sich, er lächelt, und ich erinnere mich noch an die darauf plötzlich eintretende Stille: eine beeindruckende Stille, die den Weg dieser Reminiszenz zu begleiten schien und ihr noch mehr Gewicht verlieh. Eine aus der zufälligen, unwillkürlichen Begegnung mit den Worten »öffentliche Bäder« geborene Reminiszenz, und ich spürte sofort, dass sich hinter diesen Worten ein Körper verbarg, ein berührter, umsorgter und geliebter Körper, der Körper eines Kindes, bedingungslos von seinen Eltern beschützt.
Henris Kinderkörper, der Jahrzehnte später aus dem Nebel der willentlichen Erinnerung, in diesem Augenblick, in diesem Treppenhaus vor mir wieder auferstand, endlich frei und von der Ordnung der Zeit befreit.
(Eine mögliche Übersetzung)
Sein Gesicht verwandelt sich, er lächelt, und die darauf plötzlich eintretende Stille werde ich nicht vergessen: eine beeindruckende Stille, die den Weg dieser Reminiszenz zu begleiten scheint und ihr noch mehr Gewicht verleiht. Eine aus der zufälligen, unwillkürlichen Begegnung mit den Worten »öffentliche Bäder« geborene Reminiszenz, und ich spüre sofort, dass sich hinter diesen Worten ein Körper verbirgt, ein berührter, umsorgter und geliebter Körper, der Körper eines Kindes, bedingungslos von seinen Eltern beschützt.
Henris Kinderkörper, der Jahrzehnte später aus dem Nebel der willentlichen Erinnerung, in diesem Augenblick, in diesem Treppenhaus vor mir wieder aufersteht, endlich frei und von der Ordnung der Zeit befreit.
(Rue Saint-Maur 209, S. 419.)
Im Original beginnt diese Passage im Präsens und geht mit je me souviens (ich erinnere mich) in die Vergangenheit über. Schließlich befindet sich die Autorin zu dem Zeitpunkt, als sie diese Szene schreibt, schon lange nicht mehr im Treppenhaus der Rue Saint-Maur 209. Doch sie lässt uns an einem Vorgang teilhaben, bei dem die Zeit wie aufgehoben wird, da verschiedene Zeitschichten ineinander übergehen: Sie klar voneinander zu trennen, indem ich ins Präteritum wechsle und rückblickend davon erzähle, scheint mir daher an dieser Stelle widersprüchlich. Doch noch bevor ich diesen Gedanken habe, schreibe ich „werde ich nicht vergessen“, kehre die Zeiten also sozusagen um und finde unverhofft zu einem Präsens zurück, das in die Zukunft reicht und mir erlaubt, im Moment des Erlebten zu bleiben. Zugegeben ist vieles davon erstmal keine bewusste Entscheidung. Nicht selten denke ich erst nachträglich darüber nach – und nicht selten verwerfe ich den ersten Impuls auch wieder. Vielleicht ist auch jede Übersetzung ein hybrider Raum, der in gewisser Weise die Zeit kapselt: ein Versuch, die ursprüngliche Gestalt eines Raums zu rekonstruieren, indem unzählige Bausteine wie Miniaturmöbel in neuen Räumlichkeiten, die mit neuen Einschränkungen, aber auch neuen Möglichkeiten verbunden sind, so lange arrangiert werden, bis dabei, vielleicht, so etwas wie Räume von Räumen entstehen.
Ein Fenster zum Hof
In tausend Augen, tausend Objektiven spiegelt sich die Stadt.11
Der Blick ist in der Rue Saint-Maur 209 allgegenwärtig und manifestiert sich – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – in einem ständigen Wechsel zwischen innerem und äußerem Sehen. Als Leser·innen folgt unser Blick den Wegen, die die Autorin vorgibt: er wandert durch den Hof, von Tür zu Tür, von Wohnung zu Wohnung, hält inne, um zu betrachten, was sich ihm auf der anderen Seite eines Fensters darbietet. Wie in Hitchcocks Fenster zum Hof bewegt sich das Auge zwischen dem, was es sehen kann und dem, was sich seinem Blick entzieht, blickt ähnlich dem Flaneur zugleich von außen und von innen, zoomt sich heran und wieder heraus. Ich versuche meinen Blick zu schulen, auf meinen Wegen, hinter meinem Fenster (zu einem Hof), beim Übersetzen: heißt Übersetzen nicht zuletzt auch versuchen, sich flanierend durch einen Text zu bewegen, einen Schritt zur Seite zu treten, mit anderen Augen zu sehen?
In einem Heft, das ich parallel zur Übersetzung fülle, habe ich ein Auge gezeichnet und darunter unsystematisch Fragen, Motive, Bruchstücke der Übersetzung und Assoziationen notiert. Ich google ein bisschen hier, ein bisschen dort, und über ein, zwei Umwege lande ich bei Klees Pädagogischem Skizzenbuch und über das Skizzenbuch bei Henri Michaux und seinem Gedicht Aventures de lignes (Linienabenteuer), das 1954 als Vorwort zur französischen Übersetzung der Klee-Monographie von Will Grohmann erschien. Ich lese von „reisenden“ Linien und etwas an diesen geometrischen Mustern – die scheinbar ziellos, doch stets beweglich und in Bewegung sind – erinnert mich an die wandernden, sich kreuzenden und zusammenlaufenden Blicke, die hinterlassene Spur, die unerschöpflichen Verbindungen, die ihnen inhärente Lebendigkeit.
Ein in beide Richtungen unbegrenzter Raum, wie jener, in dem sich die Rue Saint-Maur 209 entfaltet. Und der sich, vielleicht, mit jeder Übersetzung ein kleines bisschen mehr ausdehnt.
In der 209 lebten vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges rund 300 Menschen, etwa 100 von ihnen waren Juden. 52 Frauen, Männer und Kinder wurden deportiert. Zwei überlebten.
Im Jahr 2022 wurden zwei Gedenktafeln in der Rue Saint-Maur 209 angebracht – eine an der äußeren Hausfassade, eine andere unter dem Eingangsgewölbe. Darauf stehen die Namen der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner, die zwischen 1941 und 1944 deportiert wurden, wie auch die der Résistancemitglieder und Gerechten, die sich mutig dem Regime widersetzten.
Dank: Ich bedanke mich beim Deutschen Übersetzerfonds für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch und bei Solveig Bostelmann und Aurélie Maurin für die Möglichkeit, in dieser Form darüber nachzudenken. Und allen voran bei meiner Co-Übersetzerin Patricia Klobusiczky; dank ihrer klugen, stets freundlichen und offenen Art, habe ich mich auf jedes unserer Gespräche gefreut.