Den Sprachkörper hingeben. Lippen der Schamanin lesen. Geisterhauch übersetzen.
Bericht einer nachempfundenen Trance in Autobiographie des Todes von Kim Hyesoon
1. Schamaninnen. Totensprache. Subjektlos.
Persönlich kenne ich keine koreanischen Schamaninnen.1 Als Kind in Korea durfte ich keine Schamanenrituale sehen, üblicherweise mit gekochten Schweineköpfen und viel Rot und Krach, nein, wir waren sehr katholisch zuhause. Aber seit einigen Jahren finde ich die Ansicht immer sympathischer, dass ich selbst Schamanenarbeit leiste, zumindest zu einem Teil, bin ich doch ein Lyrikübersetzer. Als Lyrikübersetzer stelle ich meinen Körper zur Verfügung, meinen ganzen Sprachleib sozusagen, damit eine fremde Stimme durch mich spricht. Ist das nicht Schamanengeschäft schlechthin? Statt Geisterschellen habe ich meine Wörterbücher, genauso schwer, genauso laut, genauso voll mit Bedeutung.
Die moderne koreanische Literatur hat vielfach implizite und explizite Bezüge zum Schamanismus. In beiden Praktiken geht es wesentlich um Traumata und die Bewältigung von Traumata, ferner um politische Gewalt und zerriebene Individualschicksale, Tod und Weiterlebenmüssen, Schuld und Versöhnung. Der Schamanismus bewirkte an vielen Wundflächen des modernen Koreas – außerhalb jeder zentralen Institution – seelische Heilung und Auflösung von Traumata.2 Auch Kim Hyesoon beschäftigt sich, während der Rechtfertigungsphase ihrer „femininen“ Poetologie gegen die männerdominierte Literaturszene Koreas, an vielen Stellen mit dem Thema Schamanismus.
Eine koreanische Schamanin wird man nicht durch freien Entschluss. Man wird entweder in diese Rolle hineingeboren (sogenannte Erbschamanin), oder, noch dramatischer, man wird gegen den eigenen Willen dazu berufen, d.h. durch eine schamanische Krankheit – wörtlich „Gotteskrankheit“ (shinbyeong) – dazu gezwungen. Eine solche Krankheit lässt sich nur durch einen Initiationsritus beseitigen, indem man ‚lebendig in den Tod eintritt’.3 Durch den Tod scheidet man aber aus der menschlichen Gesellschaft aus. Tod ist Welt-austritt. Eine Schamanin ist jemand, der diese Welt zuerst schmerzvoll verlassen muss, um ihre Wunden heilen zu können. Mit einer Todesszene beginnt auch der ganze Zyklus der Autobiographie des Todes, die ich gemeinsam mit Uljana Wolf ins Deutsche übertrug:
In der U-Bahn verdrehen sich deine Augen weiß. Das ist deine Ewigkeit.
Eine ewige Augenverdrehung aus Weiß.
Man hat dich aus der Bahn geworfen. Es scheint, du stirbst jetzt.4
Die lyrische Instanz fährt durch die Unterwelt von Seoul (oder ist die ganze Stadt von Seoul eine Art Unterwelt, mit ihrem U-Bahnnetz als Eingeweide?) Ihre Augen drehen sich zurück, als wollte sie nach Innen schauen. Oder ins Nichts schauen. Sie gerät scheinbar in eine Trance, poetisch gesprochen, oder faktual rekonstruiert, in eine Nahtoderfahrung. Sie ist eine Frau, die unterwegs stirbt und im Tod unterwegs ist – in den Tod geboren wird.
Allerdings bemerken wir in diesen ersten Zeilen schon die erste Anomalie. Es heißt hier nicht „ich sterbe jetzt“, sondern „du stirbst jetzt“. Denn den eigenen Tod kann man nicht erfahren5 , erfahren werden kann der Tod nur durch Dissoziation von Körper und Seele, in einer Out-of-body-experience. Gestorben findet man sich in einer Sprechsituation wieder, in der das eigene Ich zu einem Du geworden ist. Es ist ein seltsames Losgerissenwerden von der eigenen Identität, Gefühl der Entfremdung und Verzweiflung. Der Körper verlässt einen, aber nicht die Sprache:
Du schreist: Ich habe keine Gefühle übrig für diese Frau.
Und du ahmst das Weiß ihres Blicks nach, als sie noch lebte
und gehst weiter deinen Weg zur Arbeit. Gehst ohne Körper.
Wirst du pünktlich sein? Du gehst zu einem Leben, das nicht leben wird.
(Tag Eins)
Du bist nur noch der Schatten dessen, was du einmal warst. Der Tod ist aber nicht das Ende, zumindest vorläufig nicht. Wie man ganz normal zur Arbeit geht, geht die lyrische Instanz nun in ein totes Leben, um mit einer Totenstimme zu sprechen. Zu singen.
Wie übersetzt man diese Stimme, die tot ist und dennoch weiterspricht?
In Anlehnung an Das Tibetische Buch der Toten sollte der Gedichtband Autobiographie des Todes ursprünglich Seoul, Buch der Toten heißen. So ist es aber nicht gekommen, denn im Buch geht es vielmehr um den Tod selbst, der sich selbst schreibt. Der Band besteht aus 49 Gedichten bzw. Tagen, nach der buddhistischen Vorstellung, dass die Seele eines Toten noch 49 Tage auf der Erde weilt. In dieser Zeit irrt die Seele in einem dämmerigen Zwischenzustand durch die Welt, sie ist Zuschauerin eines Lebens, an dem sie nicht mehr teilnehmen kann – für Kim Hyesoon eine poetische Existenz.
Der Totengeist spricht mit einer Stimme, welche die Lebenden nicht mehr hören können, die Totenstimme ist sprechend und doch taub – es sei denn, jemand ist in der Lage, diese Stimme doch zu hören und aufzuzeichnen, zu übersetzen. Dieser jemand muss die Kraft haben, die unsichtbare, doch undurchdringliche Trennwand zwischen hier und dort, zwischen Diesseits und Jenseits zu überqueren. Dieser Seelenparcours ist in der koreanischen Vorstellungswelt den Schamanen vorbehalten, die im Leben die Totenwelt bereisen und zwischen beiden vermitteln können. Das ist ein Sprechen zwischen Ich und Du, zwischen Aktiv und Passiv (d.h. Medium!), zwischen Hier und Dort.
Ich lege dein Gesicht auf mein Gesicht.
Meine Zunge ist deine Zunge.
Du vergießt meine Tränen.
(Tag Neununddreißig)
In letzten Jahrhunderten war der Schamanismus, im strengen Konservativismus des koreanischen Neokonfuzianismus, allerdings ausschließlich eine Frauensache. So etwas „Irrationales“ und „Unlogisches“ konnte im alten männerdominierten Korea nur an Frauen delegiert werden. Dadurch aber wurde den Schamaninnen eine geheime Macht außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges verliehen. So wie Kim Hyesoon mehrmals in ihren poetologischen Schriften betont, konnte durch diese Verbannung aus der männlichen Sprache-Literatur-Struktur eine subversive, orale, mystisch-matrilineare Sprache überleben – in der Schamaninnen-Sprache, der zungenlosen Muttersprache.6
Diese Toten- und Schamaninnenstimme ist im Wesentlichen subjektlos. Eine Schamanin kann den Totengeist in sich aufnehmen, ihn sprechen lassen, weil sie ichleer zu werden versteht. Ein Totengeist kann über sich als du sprechen, er kann alles als du anreden, weil es keinen Ort der Welt besetzt, d.h. keinen Ich-Lokus hat.
Mit dem Hörer in der Hand bist du nicht hier
Mit Kopfhörern in den Ohren bist du nicht hier
(…)
Du bist hier doch bist du nicht hier
Du bist dort doch bist du nicht dort
(Tag Neun)
Es ist ein abwesendes Sprechen und Hören. Wichtig ist, dass es kein mystisches Schweigen ist, das daraus folgt. Der Tod macht nicht brav. Ganz im Gegenteil ergießt sich ein Strom gewaltiger, gewalttätiger, skurriler und verklärter Bilder wie in einer Zungenrede. Diese muttersprachenlose Zunge schreit danach, gehört zu werden, übersetzt zu werden. Sie schreit du, du, du, in subjektlosen Sätzen.
Das Problem stellt sich auf grammatischer Ebene erneut. Das Koreanische kommt in den meisten Fällen ohne Satzsubjekt aus. Als eine nicht-flektierende Sprache verrät die koreanische Sprache das Subjekt auch nicht in den Verben. Viele Sätze schweben somit ohnehin zwischen Ich und Du und Man, zwischen Agens und Patiens, zwischen Schuldzuweisung und Tatsachenbericht. Diese grammatische Ambiguität (oder – Freiheit!) wird in Autobiographie des Todes zu einem eigenen Stilmittel entwickelt. Wer spricht? Wer sagt hier „ich“? Die Antwort kann ein „ich“ nicht wissen, solange es am Leben teilnimmt. Holt man das „ich“ in die Sprache der Lebenden, so verhallt das Geisterecho schnell. Die Frage nach der Übersetzung subjektloser Sätze wurde mir so wichtig, dass ich dem Thema einen ganzen Aufsatz gewidmet habe.7 Das Problem ist dabei eins der grammatischen Überdetermination. Das „fehlende“ Subjekt muss im Deutschen an vielen Stellen klar markiert beziehungsweise hinzugedichtet werden. Während so die ästhetisch wirksame Leerstelle ausgestopft wird, bildet sich eine interpretatorische Starre im Zieltext. Der sprachliche Zustand der schwebenden Geister lässt sich nur noch andeuten.
2. Nichtherr. Nichtsinn. Nichtstun.
Jetzt aber etwas Persönliches. Darüber, wie ich zur Übersetzung der „Autobiographie des Todes“ kam. Es gab einen Moment, als ich wusste, dass ich noch lange Kim Hyesoons Lyrik übersetzen würde: Nämlich als ich die dritte Strophe des Gedichts Nichtherr las und gleich ins Deutsche übersetzte, diese herrliche Eruption von Nichts und Unsinn:
Zu jener Zeit nichtete Nichtherr das Nicht, denn am Nichten wollte er nichten, damit sein Nichten fortan nichtig sei
Nichtherr nichtete, nichtigte und war nicht
Nichtherr ist daher nicht der Herr von Nicht, denn Nichtherr ist nicht der, der nicht Herr ist Der nichtige Nichtherr ist nicht der Nichtherr, so ist sein Nichten nicht des Nichtherrn
Der nichtige Nichtherr ist nicht der Nichtherr, so ist sein Nichten durch das nichtige Nichts der Nichtherr nicht
Seid deshalb nichtig gegenüber dem Nicht, denn das Nicht, das nicht nichtet, ist nicht, sondern wird bloß ein nichtiges Nicht sein
Und das Nicht, das euch nichtig nichtigte, ist ebenfalls kein Nicht, so nichtet dem Nicht zu, dass nicht nichtig genichtet wird
Das Nicht, das Nichtherr nichtete, ist kein Nicht, sondern ein nichtiges Nicht, das einst von Nichtherr genichtigt sein wird
Das Nicht, das nichtigend genichtet sein wird, ist nicht Nicht, Nichtherr ist das Nicht des Nichts, das Nicht, das weiter nichten wird, das Nicht
Das Nicht genichtet, des Nichts genichtigt, ist der Nichtherr nicht Herr, denn allein das Nicht ist der Herr des Nichts
Das Nicht genichtet und des Nichts genichtigt, und mit dem Nicht den Nichtherrn nicht nichtend, denn nichtigendes Nichten in Nichtungen ist für den Nichtherrn des Nichts nichtig
So denn nichtet und nichtet; durch das Nicht und mit dem Nicht ist der Nichtherr das Nicht, denn der Nichtherr, der das nichtige Nicht nichtigt, ist nun genichtet
(Tag Sechsunddreißig)
Kim Hyesoon spricht von einem „Mantra“, das gegen die „hohen Herren“ geschrieben ist.8 Mantra ist nun genau etwas, das seine Wirkung durch die präzise Absenz von Sinn entfaltet.9 Mantra ist der Moment des Sprachgebrauchs, in dem die Sprache zurück in das Nichtsprachliche gleitet, aber auf dem Vehikel der Sprache. Die Konstruktion dieser mantrahaften Sprache in Nichtherr gelingt durch eine ausgiebige oder die ausgiebigste Permutation aller möglichen grammatischen Formen eines einzigen Wortes anim: des koreanischen Negationssubstantivs („Nicht“). Die Negation wird hier wie eine Person behandelt und durch alle möglichen Suffixe modifiziert: im Honorativ („Herr Nicht“ bzw. „Nichtherr“), im Konsekutiv, im Lokativ, im Iterativ, im Genetiv, im Ablativ und im Infinitiv; als Verb, als Nomen, als Gerundiv; im Präsens, im Futur, im Konditional, im Optativ, und im Imperfekt. Diese dritte Strophe in Nichtherr ist die konzentrierteste Sammlung an grammatischen Hülsen, die ich im Koreanischen kenne. Diese Hülsen sind überdies leer von dem, das eingehüllt sein sollte – sie lachen über ihre eigene Leerheit. Ihr Inhalt ist ja nur die Negation selbst, End- und Zielpunkt alles sprechenden Schweigens. Trotzdem ist das Gedicht kein beliebiger Haufen von Worten, es singt durch diese Hülsen, die nichtssagend sind. Ich hörte dort ein uraltes, subjektloses Mantra-Gebet-Gemurmel, gesungen in einem Tempel. Für mich war hier also ein eindeutig religiöser Ton zu hören, der allerdings weder Gott noch Theologie kennt. Dieser Gesang von lauter nichts schäumt an uns vorbei und tröstet auf sonderbare Art.
Die Übersetzung dieser Stelle war seltsamerweise die widerstandsloste im ganzen Gedichtband für mich. Reine Freiheit der Übersetzung, die nur dort erlebt werden kann, wo eine musikalische Vollkommenheit ohne Sinn in Sprache verwirklicht vorliegt. Ich konnte, als Philosoph, natürlich auf die reiche Vorgeschichte des selbstreferentiellen Unsinns zurückgreifen, dank Heidegger, dank Wittgenstein, dank Diamant-Sutra. Ich habe mich deshalb auch nur am Rande an die grammatischen Details des Originals gehalten. Da ja keine Bedeutung vorlag, konnte ich mich rein am Ton orientieren, der phantomartig aufschien und sich wieder verflüchtigte. Es musste eigentlich nichts durch den Übersetzer getan werden: Denn nicht etwa Metaphern oder Bilder der Unmöglichkeit standen mir als Aufgabe gegenüber, sondern die sprachegewordene Unmöglichkeit des sinnhaften Sprechens überhaupt. Zungenrede in Zungenrede. Zugleich ist das ganze Gedicht eine massive Kritik an dem Glauben, Sprache sei ein sicheres Gebilde für Macht, Ordnung und Herrschaft. Denn hier liegt eine vollkommen ausgehöhlte Sprache vor, sie nichtigte und war nicht.
3. Kläff kläff, flink flink, schwing, schwang und andere Geräusche
Das Koreanische hat ein riesiges Reservoir an onomatopoetischen Ausdrücken. Diese Klang- und Bewegungswörter bestehen aus zwei oder vier Silben, wobei ein Wortteil sich immer zweimal wiederholt (ähnlich übrigens wie im Japanischen). Diese Wortklasse, die irgendwo zwischen Iterativ und Figurativ wohnt, imitiert die Form der sinnlichen Wahrnehmung von Naturprozessen: ein Vogel ist das, was zwitsch, zwitsch macht, Wasser das, was plopp, plopp macht, usw. Man könnte sagen, diese Geräusch-Wörter sind gewissermaßen Übergangsobjekte zwischen Naturklängen und Menschensprache. Kim Hyesoons Lyrik bedient sich überall dieser Wortklasse, oft dort, wo die logische Bürde der grammatischen Konstruktion die Freiheit der Bilder zur Erstarrung zu zwingen droht – was selbstverständlich die Übersetzung ins Deutsche extrem erschwert.
Ist eine analoge Übersetzung denn keine Option? Es gibt natürlich das gleiche Strukturprinzip im Deutschen, siehe zickzack oder kuckuck, aber lautmalerische Wörter im Deutschen unterscheiden nicht fein genug für koreanische Ohren: Man kann im Koreanischen problemlos zwischen fünf oder sechs Klangwörter zu Windgeräuschen unterscheiden, je nachdem, ob der Wind wild, sanft, tosend, niederreißend, stoßweise oder frühlingshaft weht. Ich denke, dass jeder Koreaner neue Klangwörter erfindet, ich höre jedenfalls dauernd fremde, neue, improvisierte Worte, die Bewegungen in Natur oder im Gemüt exakt einfangen. Das geht so leicht wie im Deutschen neue Komposita zu bilden (so wie ich jetzt Automechanikerliebeskummerseelsorge sagen kann, ohne vorher jemals so etwas gehört zu haben). Woraus ist diese Vielfalt zu erklären? Kim antwortet in einem 2024 in Gwangju geführten Gespräch, das der deutschen Übersetzung von „Autobiographie des Todes“ als Nachwort beigegeben ist:
„Wenn jemand mich fragt, warum es im Koreanischen so viele Klangwörter gibt, antworte ich, dass es im koreanischen Unterbewusstsein vielleicht einen stärkeren Hang dazu gab, die Existenz von Pflanzen, Tieren und Naturgeistern anzuerkennen. Klangwörter und onomatopoetische Wörter sind nämlich die Lieblingswörter der impersonalen Subjekte.“10
Mit den impersonalen Subjekten liegen wir wiederum ganz nah bei den subjektlosen Stimmen. Weil sie keine Personen sind, sind sie fluider, durchgängiger. Ihre Identitäten gehen ungehemmter in andere über, andere fließen ihnen wiederum ungehindert zu. Die Klangwörter sind eine Begleiterscheinung dieser ineinander überfließenden Geschichten, Gesichter und Sprachen. Einige Beispiele:
Gehirn im Tank geht auf Reisen.
Mit U-Bahn, Bus und Taxi
verlässt es den Tank.
Wie ein Kopf, den ein Serienmörder in einer Plastiktüte trägt
geht es auf Reisen, schwing, schwang.
(Tag Dreiunddreißig)
Gehirn im Tank („brain in a vat“) ist ein bekanntes Gedankenexperiment in der Philosophie. Wie kann ich wissen, ob ich nicht ein Gehirn ohne Körper bin, das in einem Tank mit Nährflüssigkeit gehalten wird? Die Frage ist natürlich symptomatisch für Kopfmenschen, die ihre Körper gerne vergessen. In dieser Dissoziation mit dem eigenen Körper löst sich das Denkorgan von der Ortsgebundenheit und geht unbekümmert auf Reisen oder glaubt, auf Reisen zu gehen. Die gefühlte Freiheit kippt ins Groteske, das Gehirn ist nur frei, weil sein Träger-Ich ermordet worden ist. Genau an dieser verstörenden Reibungsfläche der Bilderfolge schieben sich gekonnt die Klangwörter dazwischen: schwing, schwang. In semantischer Hinsicht hätten wir uns auch für eine harmlosere Variante entscheiden können, z.B. „geht es auf Reisen, schwingt hin und her“. Während „schwingt hin und her“ ein Bewegungssubjekt auf grammatischer Ebene suggeriert, ist „schwing, schwang“ vollkommen impersonal. Das Gehirn entkommt auf diese Weise seiner Subjektivität, auch im Medium der Sprache.
Kitzlige gelbe Wolke ist hier, gelber Urin, der die Regenrinne
herunterfließt, flatter flatter
(Tag Fünfunddreißig)
Hanulhanul, welches ich mit „flatter flatter“ übersetzt habe, ist ein Bewegungswort. Es beschreibt die flatternde Bewegung eines meist weichen Stoffs in der Luft; auf Wortebene wiederholt sich jedoch zweimal das Wort Himmel (hanul). Das in der Luft sanft Herumflatternde hat also irgendwie auch den Charakter von Himmel selbst, womit im Gedicht sofort die semantische Kette Wolke-Rinne-Himmel gesponnen wird. Aber an dieser Stelle ist es zu gewagt, „himmel, himmel“ oder Ähnliches im Deutschen zu schreiben, das wäre eine Überanstrengung für das Medium. Die Klangwiederholung „flatter flatter“ erreicht schon etwas, auch wenn das eine Kompromisslösung ist. Wie man vermuten kann, konnten die allermeisten Klangwörter im Buch gar nicht auf diese Weise wiedergegeben werden.
In ihrer Antwort über onomatopoetische Wörter im Koreanischen, die aus Platzgründen nicht in die gedruckte Version aufgenommen werden konnte, beschreibt Kim Hyesoon schluckaufähnliche Laute von Tänzer·innen in einem Stück von Pina Bausch, die selbst „krampfartige, ausbruchsartige Wesen“ sind.11 Diese Laute sind Einschnitte in das Kontinuum der Sprache, oder besser gesagt, in die Illusion, dass Sprache ein kontinuierliches, wohlgeordnetes Ding ist. Sprache ist aber gar kein Ding, wenn man näher hinschaut, d.h. wenn man sie übersetzt. Klangwörter erinnern uns an diese Phantomhaftigkeit der Sprache überhaupt. Zu erkennen, dass unsere Sprache aus Löchern, Phantomen und Krämpfen besteht, ist für Kim Hyesoon keineswegs negativ. Diesen Aspekt sichtbar zu machen ist eine Leistung der poetischen Sprache, nämlich die „politische Dimension all der Diskriminierungen“ zu bestätigen.
4. Tandem. Seelenzweisitzer. Sprachvermischung. An Uljana Wolf.
Tandem ist für mich die natürlichste Form der Übersetzungsarbeit. Das weiß ich nach neun übersetzten Büchern und Tandems in vier verschiedenen Sprachkombinationen. Dabei darf man nicht vergessen, dass man auch ohne Co-Übersetzer·in immer schon zu zweit unterwegs ist, nämlich mit der Stimme des Urtextes. Die Präsenz einer Co-Übersetzerin verstärkt diese Zweiheit des Geschehens, die Dialogizität der Übersetzung. Eine gelungene Übersetzung kann man daran messen, inwieweit sich eine dritte Stimme aus dieser Zweiheit bilden lässt. Eine Stimme, die man alleine nicht zu singen wusste.
Eigentlich sollte die Arbeitsteilung bei Autobiographie des Todes relativ klar sein: Ich kümmere mich um die Rohübersetzung, um Urtext und Treue, Uljana sich dagegen um den „Sound“ im Zieltext. Aber wie oft ein Tandem verläuft: Die Rollen wurden schnell miteinander verwechselt, vertauscht, verschmolzen, einer schamanisch herbeigeführten Seelenharmonie und -überlappung nicht unähnlich. Also Tandem statt Arbeitsteilung, Seelenzweisitzer statt „Kollaboration“. Das geht nicht unbedingt schneller. Unsere Sitzungen waren lang, wir erfanden neue Klangwörter im Deutschen, wie schwing, schwang, gruben tiefe Löcher in die Etymologie, um die syntaktischen und symbolischen Grenzen des Deutschen auszureizen, oft so lange, bis das Gefüge zerbrach. Viele unserer Ideen ließen sich nicht realisieren, gerade die genialsten. Am Ende ließen wir fast immer den Klang gewinnen. Dann ging es um die Anzahl der Os und As in einer Zeile, um die Zahl der Betonungen und Halbsilben. Die besten Argumente funktionierten nicht über Exaktheit, sondern über das Interessante der tatsächlich soundso tönenden Worte. Wir hoffen, dass die Leser·innen diese Seelenarbeit an der ein oder anderen Stelle bemerken und zu schätzen wissen.
Im Koreanischen gibt es den Spruch: Selbst ein leeres Blatt ist leichter, wenn man es zu zweit trägt. Will heißen, zu zweit ist die Last im Leben erträglicher. Tandem ist in Korea, im Land der Übersetzer·innen und Schaman·innen, eine alte Weisheit. Aber jetzt, wenn ich diesen Spruch ins Deutsche übersetze, wird mir klar, dass es sich tatsächlich um ein leeres Blatt handelt. Ein weißes, unbeschriebenes Blatt! Das ist die zweite Weisheit: Ein leeres Blatt wiegt schwerer als ein beschriebenes Blatt. Ein Blatt voller Leere, voller subjektloser Sätze, voller Nichtungen und voller unmenschlicher Klänge. Und das übersetzen? Das geht nur im Tandem.
Kim Hyesoon: Autobiographie des Todes. Gedichte. Übersetzt von Uljana Wolf und Sool Park. S. Fischer Verlage, 2025.
Mehr zum Kim Hyesoon-Universum: Uljana Wolf hat in drei Juniversen12 über die Übersetzung einiger Gedichtzeilen aus Autobiographie des Todes geschrieben: