Smoothieless Moonahl
Drei Juniverse zu Kim Hyesoon
Ein Junivers ist ein Vers, der im Gedächtnis geblieben ist, ein Vers, der einen in den Bann schlägt.
Auf dem Schnee das erschossene Großmutterreh
ein Kitz, das um sie kreist, die Zehenabdrücke
ein Kreis aus fünf Vokalen, die murmeln A E I O U
(Kim Hyesoon: Autobiographie des Todes, Aus dem Koreanischen von Sool Park und Uljana Wolf, S. Fischer Verlag 2025, S. 58)
I.
Die Zeilen stammen aus Kim Hyesoons Autobiographie des Todes. Sool Park fertigte die erste, ziemlich umwerfende Version aus dem Koreanischen an, in der das Wort „Rehkitzkot“ vorkommt. Das Gedicht berichtet von dem Moment, in dem ein lyrisches Ich (Du) frühstückt und wütend eine Zuckerdose auf den Boden wirft, während plötzlich in der Küche die Großmutter – das Gedicht sagt zuerst: „Mutter der Mutter“ – stirbt. Dahinter steckt, erzählt Kim Hyesoon in einem Interview, eine reale Situation, der Tod ihrer eigenen Großmutter. An dem Ich/Du klebt ein Name oder eine Bezeichnung oder eine Maske, die „du Wahnsinnige“ heißt. Der Tod einer geliebten Person ist in Kim Hyesoons Gedichten – wie auch der eigene Tod, oder eine Nahtoderfahrung – nicht das Ende, sondern eine Aufspaltung, eine Dissoziation: Etwas wird Nicht-Ich, ein Fehl-Ich und damit zugleich ein Viel-Ich. Der Moment, in dem der Tod wahrgenommen wird, ist auch der Moment, in dem das Attribut „Wahnsinnige“ von dem Ich/Du abfällt: „Du siehst es verklumpen und wegrollen wie schwarzen Rehkitzkot“.
Es wird also etwas Unverdauliches, etwas Abjektes ausgestoßen, wenn das Attribut „Wahnsinnige“ abfällt. Für Kim Hyesoon ist das Unverdauliche, Abjektive der Sprache in den Vokalen verkörpert. Konsonanten, so schreibt sie, sind der „Logos des Vatergottes“, Vokale die Schmerzenslaute, die Löcher in der Sprache. Das Lied von Toten oder Frauen kann nur von Vokalen gesungen werden.
Der Titel des Gedichts lautet in der Übersetzung A E I O U. Er besteht aus einer Kette von Vokalen. Im Koreanischen sieht das so aus:
아에이오우
Man sieht, die Vokale bestehen vor allem aus kleinen Kugeln oder Perlen. Oder Löchern. Sie purzeln, von links nach rechts, wenn man lange genug hinschaut, drehen sich, wie von einem unsichtbaren Daumen geflippt, kinematisch kullernd. Der Kot von Rehkitzen besteht ebenso aus bohnengroßen schwarzen Pillen oder Perlen, die sich auch zu Klumpen zusammentun können. Wenn in dem Gedicht etwas wie Rehkitzkot von einem wegkullert, sind das also möglicherweise die Schmerzenslaute, die Vokale, nicht als Bild (oder jedenfalls nicht nur), sondern als visuelle, materielle nichtsprachliche Sprache, das Wahnsinnige der Sprache.
II.
Die Bezeichnungen für „Vokale“ laufen im Deutschen und im Koreanischen konträr. Im Deutschen heißen sie „Selbstlaute“, weil sie anders als Konsonanten keine Verschluss- oder Labialbewegungen brauchen, um artikuliert zu werden. Sie sind einfach nur Loch. Bei Kim Hyesoon sind Vokale dezidiert Nichtselbst-Laute. Im Koreanischen heißen Vokale wörtlich übersetzt „Mutterlaute“. Sie sind das, was vor der Geburt da war, in der Mutter der Mutter, im Muster der Mutter. Sind das, was erklingt, wenn der Tod eintritt, wenn eine Geburt eintritt, wenn das Ich zu einem Du wird, also austritt, wenn eine Entfremdung, eine Entgrenzung geschieht, wenn das Wort Stimme wird oder Hauch, Vorstimme oder Geist. Sie sind der Ursprung der „tongueless mothertongue“, von der Kim Hyesoon sagt, sie sei die Sprache der Poesie. Sie sind Löcher, Eintritts- und Austrittslöcher. Sie sind damit gewissermaßen auch Verbindungsschläuche zwischen mutterlosen Töchtern und gestorbenen Müttern, oder mutterlosen Müttern und gestorbenen Töchtern. Sie sind Kabel ohne Herkunft. Vokale als in der Sprache herumflatternde Wo-Kabel.
Was mir an diesem Gedicht besonders gefällt: Man sieht, dass der Geist, die außersprachliche Stimme vor dem Gedicht, aus der sich das Gedicht speist, nicht körperlos ist. Das Nichtselbst der Sprache kullert in den Buchstabenformen der Vokalen. Sie sind wie rollender Rehkitzkot, völlig klar, sind da. Sie sind Muster. Visuelle Muster. Kreise, die sich umkreisen. Wie das Negativbild des Zuckers, der vom Ich/Du am Anfang des Gedichts verschüttet wird, Kristalle, die wie Schnee auf dem Boden liegen, auf den am Ende des Gedichts der Körper der toten Großmutter gebettet wird. Und dann kommen diese drei Zeilen. In der ersten Fassung:
Das erschossene Großmutterreh lag auf dem Schnee
Und ein kleines Kitz, der um die Großmutter kreist,
Seine Zehenabdrücke standen für die fünf Vokale A E I O U
Eine weitere Fassung:
Auf dem Schnee das erschossene Großmutterreh
Und ein kleines Kitz, das um die Großmutter kreist
Die Zehenabdrücke murmeln die fünf Vokale A E I O U
III.
Wir haben das „lag“ gekürzt, das Gedicht ins Präsenz gesetzt (das Koreanische zeigt keine Zeitform an) und die erste Zeile umgestellt: aus rhythmischen Gründen, und auch um das Bild vom Boden, vom Schnee, vom Zuckerkristall her aufzubauen. Die eigentlich problematische Tautologie „klein“ und „Kitz“ gefiel uns hier in der Überzeichnung, die die Verlassenheit noch größer zu machen scheint, kristalliner; eine Zusammenstellung im Übrigen nicht weniger tautologisch, in der Todeslogik des Gedichts, als das (plötzlich!) „erschossene Großmutterreh“, das vorher nicht erschossen war, aber hier in einen Sprachzusammenhang eintritt, in dem „erschossen „und „Reh“, in der jägerlichen patriarchalen Gewalt des „Vatergottes“, zusammengehören wie „klein“ und „Kitz“.
Dann fiel uns auf, das im Original noch etwas anders geschieht, die drei Zeilen sich in der Art, wie sie gebaut sind, noch dichter zusammenknäulen: Das um die Großmutter kreisende Kitz wird nämlich umzingelt von den Zehenabdrücken, die es vorher selbst in den Zucker/Schnee gedrückt hat, und die wiederum jetzt an seiner statt die Vokale/Schmerzenslaute intonieren, die eben von ihm (oder vom Großmutterreh) als „Wahnsinnige“ abgefallen sind. Mit dem Effekt, dass weder Reh noch Kitz hier Agens sind, sondern Körperspuren und Körperlaute das Bild beherrschen.
Als das nun verstanden wurde von uns Wahnsinnigen, begann ein hastiges Umstellen, das nichts, aber auch gar nichts besser machte, vielmehr rollte alles von uns weg:
Auf dem Schnee das erschossene Großmutterreh
Und ein Rehkitz, das um die Großmutter kreist, umzingelt
Von Zehenabdrücken wie von fünf Vokalen: A E I O U
Auf dem Schnee das erschossene Großmutterreh
Ein Rehkitz kreist um die Großmutter, umzingelt
Von Abdrücken, die murmeln die fünf Vokale A E I O U
Auf dem Schnee das erschossene Großmutterreh
Im Kreis darum ein Rehkitz geht, umzingelt
Von Zehenabdrücken wie fünf Vokalen: A E I O U
Warum ist es wichtig, den Aufbau zu übersetzen? Weil das Bild auf der semantischen Ebene gewissermaßen die materielle Bewegung der kullernden Vokale variiert (transponiert). So wird, mit der Perlenschnurlogik von großmutterlosem Rehkitzkot, jenes gebaut, was Don Mee Choi die „faint architecture“ von Kim Hyesoons Lyrik nannte: eine ohnmächtige, zirkulierende, widersinnige Architektur des Schmerzes. Diese Architektur hat viele Namen. Gibt man die koreanische Vokalreihe bei Google Translate ein, spuckt es die Worte „Smoothieless Moonahl“ aus. Ich halte das für eine bravourös halluzinierte Übersetzung von Kim Hyesoons Begriff „tongueless mothertongue“ (vier Rehkitzkotkugeln vs. drei Rehkitzkotkugeln).
Wenn ich unsere veröffentlichte Fassung anschaue, juckt es mich, die Vokale herumzuschubsen, um einen Reim herzustellen, der den Kreis im Klang schließt. So dass das abgefallene Attribut „Wahnsinnige“ im Sound unendlich weiterfließt wie ein smoothieless moonahl:
Auf dem Schnee das erschossene Großmutterreh
ein Kitz, das um sie kreist, die Zehenabdrücke
ein Kreis aus fünf Vokalen, die murmeln A I O U E
Mehr zum Kim Hyesoon-Universum: Sool Park hat über die gemeinsame an Übersetzungsarbeit an Autobiographie des Todes ein TOLEDO-Journal verfasst:
Zum TOLEDO-Journal „Den Sprachkörper hingeben. Lippen der Schamanin lesen. Geisterhauch übersetzen.“