Die Funken der Erlösung.
Journal zur Übersetzung des Romans Die Jakobsbücher von Olga Tokarczuk
Die Jakobsbücher oder Eine große Reise
Die Jakobsbücher
oder
Eine große Reise
über sieben Grenzen
durch fünf Sprachen
und drei große Religionen,
die kleinen nicht mitgerechnet.
Eine Reise,
erzählt von den Toten
und von der Autorin ergänzt
mit der Methode der Konjektur,
aus mancherlei Büchern geschöpft
und bereichert durch die Imagination,
die größte natürliche Gabe des Menschen.
Den Klugen zum Gedächtnis,
den Landsleuten zur Besinnung,
den Laien zur erbaulichen Lehre,
den Melancholikern zur Zerstreuung.
*
Man kann von drei Wegen sprechen, auf denen die Tradition sich in der Geschichte
entfaltet und entwickelt. Sie kann kontinuierlich fortgesetzt werden;
sie kann sich in einem natürlichen Prozeß der Metamorphose verwandeln
und neue Gestalt annehmen, und sie kann schließlich einem Bruch ausgesetzt sein,
der mit der Verwerfung der Tradition selber verbunden ist.
(Gershom Scholem, »Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus«)
Mein Herz, so schien es, gehörte dem Ketzer.
Wer war er?
Er schien zum Judentum zu gehören und gleichwohl außerhalb zu stehen.
(Isaac Deutscher, »Der nichtjüdische Jude«)
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Zur Technik der Tandem-Übersetzung1
*
Sondierung der Sedimente
Kaum eine Persönlichkeit der jüdischen Kulturgeschichte hat solche Kontroversen, ja solch verbissene Gegnerschaft, solch glühende Abneigung ausgelöst wie Jakob Frank. Und kaum eine andere Persönlichkeit spiegelt zugleich in so schillernder Weise, auf so vielen Ebenen und in so vielen Facetten jüdische Geschichte als europäische Geschichte.
Franks Biographie, die ihren Anfang in der Ersten Rzeczpospolita nahm – der Adelsrepublik Beider Nationen – und in Offenbach am Main ihr Ende fand, ist verflochten mit einer Epoche der Umbrüche. Frank erlebte die sich zuspitzende Krise der Adelsrepublik, die erste Teilung Polens (1772), er erfuhr die tiefen Erschütterungen, die dieses Ereignis nach sich zog. In seinen letzten Jahren in Offenbach spürte er die Nähe der Französischen Revolution, ihre Echos der Faszination und des Schreckens, die nicht zuletzt in dem Verdacht sich niederschlugen, er und seine Anhänger seien Agenten der Jakobiner. Einem seiner Neffen wurde die Revolution unmittelbar zum Verhängnis: Moše Dobruška (Moses Dobruschka) – nach der Taufe Thomas Edler von Schönfeld, der sich später als erklärter Weltbürger und Revolutionär Junius Frey nannte – endete drei Jahre nach dem Tod seines Onkels zusammen mit Danton, Chabot, Desmoulins und weiteren Angeklagten auf dem Schafott. Susanne Wölfle-Fischer hat ihm eine Studie gewidmet: Junius Frey (1753-1794): Jude, Aristokrat, Revolutionär (1997).2
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Prophet, Messias, Scharlatan …
Man war nicht leichtsinnig an das Werk herangegangen.
(Franz Kafka, »Beim Bau der Chinesischen Mauer«)
Kontexte haben für diesen Roman ihr besonderes Gewicht. Denn wenn es sich auch um einen belletristischen Text handelt, der seinen Stoff mit literarischen Freiheiten ausgestaltet, liegen jeder Szene doch Realitäten zugrunde – konkrete historische, kulturhistorische, soziale, politische, philosophische und theologische Zusammenhänge. Ohne eine möglichst genaue Kenntnis dieser Details – das stand uns von Anfang an klar vor Augen – wären die Dimensionen der Fiktion nicht zu erschließen gewesen. Und die Sprache der Übersetzung musste sich bemühen, beiden Sphären gerecht zu werden: den Fakten und der Phantasie.
Zur Bewertung der Person Franks ist viel geschrieben worden, das soll an dieser Stelle nicht alles wiederholt werden. Im Hinblick auf die Übersetzung – fachliche Termini, Details, die das Leben der Frank'schen Compagnie betreffen – war vor allem die ältere deutschsprachige Literatur hilfreich.
Wertvolle Navigationshilfe bot uns Klaus Samuel Davidowicz: Jakob Frank, der Messias aus dem Ghetto (1998). Diese Arbeit bietet im ersten Teil einen breiten Überblick über die Forschungsliteratur; insbesondere erschließt Davidowicz Aleksander Kraushars Standardwerk zu Jakob Frank – Frank i frankiści polscy 1726–1816. Monografia historyczna [Frank und die polnischen Frankisten 1726–1816. Historische Monographie (1895)] –, das auch Olga Tokarczuk als wesentliche Grundlage diente. Neben den Klassikern widmet sich Davidowicz auch jenen Darstellungen, die sozusagen neben dem „Mainstream“ der Forschung liegen, etwa Fritz Heymanns Der Chevalier von Geldern – davon wird noch die Rede sein. Auch das zweite, kompakter gehaltene Buch von Davidowicz über Frank gab uns manch wertvolle Anregung: Zwischen Tradition und Häresie: Jakob Franks Leben und Lehren (2004).
Weiterhin konsultierten wir zahlreiche Aufsätze, so u.a. Michał Galas: „Aleksander Kraushar als Erforscher des Frankismus“ (Judaica, 1999, 55), Jörg K. Hoensch: „Der Polackenfürst in Offenbach“ (Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 1990), Stefan Schreiner: „Der Messias kommt zuerst nach Polen“ (Judaica, 2001, 57), Klaus S. Davidowicz: „Jakob Frank und der ,große Bruderʻ Esau in den frankistischen Lehrworten“ (in: Gerhard Langer (Hg.): Esau – Bruder und Feind, 2009), Jacob Goldberg: „Die getauften Juden in Polen-Litauen im 16.–18. Jahrhundert. Taufe, soziale Umschichtung und Integration“ (Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1982, 30). Nicht zu vergessen die Arbeit von Paul Arnsberg: Von Podolien nach Offenbach. Die jüdische Heilsarmee des Jakob Frank (Zur Geschichte der frankistischen Bewegung), (1965).
Unter den polnischen Forschern der Gegenwart sind – neben Michał Galas – Jan Doktór3 und vor allem Paweł Maciejko4 zu erwähnen, die hervorragende Beiträge zur Erforschung des Frankismus geleistet haben. Paweł Maciejko war auch für Olga Tokarczuk der erste Berater in Fragen der jüdischen Theologie, der Kabbala und der Lehre Franks.
Die polnischen Arbeiten dienten uns zum Abgleich einzelner Fakten, für die eigentliche „Vokabelarbeit“ mussten wir uns an die deutschsprachigen Beiträge halten, vor allem an die ältere Literatur.
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Das ebenso knappe wie scharf konturierte Kapitel über Jakob Frank im Buch von den polnischen Juden, jenem seiner Zeit einzigartigen Kompendium, das Samuel Joseph Agnon und Ahron Eliasberg 1916 im Jüdischen Verlag in Berlin herausgegeben haben, mag verdeutlichen, wie leicht diese Persönlichkeit polarisieren konnte: „Dies ist die Fratze von Jakob Frank des falschen Messias, der Tausende und Abertausende der Kinder Israels verführt und in den Abgrund der Sünde gestürzt hat, wie einst sein Vorgänger Sabbatai Zwi, dessen Seele ihm innewohnte, wie er sich rühmte“ („Ein Wort über Jakob Frank. Nach polemischen Schriften seiner Zeitgenossen“, Das Buch von den polnischen Juden, S. 54-57).
Für unsere Vorbereitungen war gerade das Disparate der Darstellungen bedeutsam. Atmosphärisches, das sich im Laufe der Zeit um das Bild von Jakob Frank herum angelagert hatte, wollten wir so breit wie möglich erfassen, um für unsere Übersetzung eine differenzierte Palette an Akzentsetzungen zur Verfügung zu haben.
Hier der epische Ton, romantisch umflort, in den Darstellungen von Adolph Georg Schenck-Rinck oder Peter Beer. Dort die gallige Empörung eines Heinrich Graetz, der sich im Namen der Wissenschaft derart zum Ankläger aufschwingt, dass ihm die rhetorischen Gäule durchgehen – und der an den Schriften von Schenck-Rinck und Beer natürlich kein gutes Haar lassen kann. Schließlich die – tatsächlich wissenschaftliche – Zurückhaltung in den Untersuchungen Majer Bałabans, des großen jüdischen Historikers, der seine Arbeiten in fünf Sprachen publizierte: auf Polnisch, Deutsch, Russisch, Hebräisch und Jiddisch. Bałaban, der neben Mojżesz Schorr bedeutendste Pionier einer jüdischen Geschichtsschreibung,5 die mit eigener Stimme spricht, wurde 1877 im habsburgischen Lemberg geboren und kam 1942 im Warschauer Ghetto ums Leben.
Auch in der Gartenlaube hinterließ Jakob Frank seine Spur (Nr. 33 u. 34, 1865; Nr. 22, 1866). Bezeichnend ist, wie in diesen Artikeln die geistesgeschichtlichen Hintergründe des Frankismus zu einem geheimnisvollen Nebel verschwimmen – „Sagen und Legenden aus der grauen jüdischen Vorzeit“ –, der das Okkulte gleichsam von sich aus hervorbringt. Keine Quellen, keine Autoren, keine Gelehrten – nur eine „graue jüdische Vorzeit“, der die Exotik entquillt. Diese Vorstellungen fügen sich in die Bilder des „Ostjudentums“, die damals im Westen kursierten – Beispiele hierfür finden sich auch in der Gartenlaube selbst, so etwa in einem Text über den Ort „Sada-Góra6“ (ukr. Sadahora) aus dem Heft Nr. 36, 1865: „Sada-Góra ist ein gräuliches Judennest in der Bukowina, das in geringer Entfernung von Czernowitz liegt. Man trifft da nur Kaftane und Pelzturbans, herabwallende Peies (Juden-Locken) und von Branntwein erhitzte Gesichter.“
Das Pendant zum „gräulichen Judennest“ ist die überhöhende Verklärung. Denken wir etwa an Arnold Zweigs Ostjüdisches Antlitz (1920) oder auch an Kafkas Hin- und Hergerissensein zwischen Bewunderung und Ablehnung des „Ostjudentums“ – seine Tagebücher legen beredtes Zeugnis davon ab, etwa in der Schilderung des Besuchs beim „Wunderrabbi“ (14. September 1915). Derlei Ambivalenz darf als typisch gelten für die Suche dieser Generation von Assimilierten nach ihrer Identität: „Anblick der polnischen Juden, die zum Kol Nidre gehn. Der kleine Junge, der, unter beiden Armen Gebetmäntel, neben seinem Vater herläuft. Selbstmörderisch, nicht in den Tempel zu gehen.“ (Kafka, Tagebuch, 16. September 1915).
Graetz und Bałaban stehen exemplarisch für zwei Perspektiven, die erkennen lassen, wo die Trennlinien des Denkens innerhalb des Judentums selbst verliefen. „Westjuden“/„Ostjuden“ – zwei Begriffe, die zu kulturellen Topoi wurden, und erst indem der eine geschaffen war, ließ sich der andere eigentlich „definieren“. Oder anders ausgedrückt: Erst nachdem die westeuropäischen Juden ihre „staatspapierne Herrlichkeit“ (Heinrich Heine) erreicht hatten, sahen sie sich veranlasst, auf die Juden des Schtetls herabzusehen, deren „Mauscheln“ und den „bevölkerten Bart“ (Heinrich Heine) als Zeichen kultureller Rückständigkeit zu deuten und damit die eigene „westjüdische“ Identität aufzuwerten.
Dass Graetz den polnischen Juden nicht nur keine Sympathien entgegenbrachte, sondern sie mit dezidierter Abneigung betrachtete, bemerkt auch Davidowicz (Jakob Frank, der Messias aus dem Ghetto, S. 32/33). Was Graetz über Frank schreibt, hat Züge einer Philippika – es sei, so heißt es in den einleitenden Sätzen, „kein angenehmes Geschäft, Leichen auszugraben, sie ihres Todtenkranzes zu berauben und sie noch dazu der Schändung preisszugeben“, doch werde solche „Impietät“ für den Historiker
dringende Pflicht, wenn eine Persönlichkeit, welche in die Geschichte eingegriffen hat, beim Leben officiell auf Grund erwiesener Thatsachen wegen gemeiner Schwindeleien und Verworfenheit gebrandmarkt wurde und doch nach dem Tode gewissermaassen kanonisirt oder – was noch mehr bedeutet und ehrenvoller ist – in den Himmel der Romantik versetzt wird. Gerade an den Grenzgebieten der Religion, wo auch unschuldige Schwärmerei so leicht in gefährliche Verirrungen gerathen kann, ist es eine Gewissenssache für die historische Kritik, der posthumen Apotheose mit aller Energie entgegenzutreten und die Aureole vom Haupte des Schwindlers zu reissen, um das Schelmengesicht hervortreten zu lassen. Sie darf die Heiligsprechung eines Gauklers, so weit es in ihrer Macht steht, nicht um sich greifen lassen.
(Graetz: »Frank und die Frankisten«, S. 1)
Auch Bałaban setzt sich selbstverständlich kritisch mit Frank auseinander, doch muss er ihn nicht verteufeln, um sein Wirken zu erforschen, seine Lehren zu deuten. Vor allem liegt es ihm fern, Jakob Frank als Finsterling darzustellen, der angeblich die Welt des Schtetls verkörpere. Für Bałaban war das mitteleuropäische Judentum geistige Heimat im besten Sinne, während Graetz dort nur die Provinzen des Obskurantismus sah:
Die Armuth, die Bedürfnisslosigkeit und der Hang der polnischen Juden damaliger Zeit zur Mystik, zur Phantasterei und besonders zum Müssiggange (wie sie einer der Ihrigen, der abenteuernde kantische Philosoph Salomon Maimon schildert) machten sie zum Sektenwesen ganz besonders geeignet. […] Mit jeder Falte des Talmud vertraut, fanden sie eine besondere Freude an dem Trotze, ihm in jedem Punkte zuwider zu handeln […].
(Graetz: »Frank und die Frankisten«, S. 16)
„Westjuden“/„Ostjuden“ – der Prozess der Stereotypisierung, der diese Termini zu kulturellen Topoi werden ließ, spielte sich vor allem im 19. Jahrhundert ab. Jakob Frank (1726–1791) und Moses Mendelssohn (1729–1786) waren Zeitgenossen. Letztlich – so könnte man es polemisch formulieren – schwebte ihnen dasselbe Ziel vor: eine Emanzipation der Juden. Doch was der eine vorantrieb im Namen der Haskala, stellte zugleich den anderen in ein denkbar fragwürdiges Licht. „Von Dessau nach Berlin“ (wie Michael Brenner in seiner Kleinen jüdischen Geschichte das Kapitel zu Mendelssohn apostrophiert hat) – „von Korolówka nach Offenbach“: zwei Biographien, die wie Spiegelgeschichten wirken im Gewebe ihrer Zeit. Zugleich zwei Gegensätze, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten.
Für unsere Übersetzung waren all diese Überlegungen insofern bedeutsam, als wir zu entscheiden hatten, welche kulturhistorischen Verortungen wir schaffen, welche Konnotationen wir aufrufen wollten – durch die Verwendung eben dieses oder jenes Wortes –, und mit welchen Mitteln es möglich wäre, auch das Prozesshafte der Geschichte abzubilden, den Weg, den Jakob und Frank und seine Compagnie zurücklegen, im Sinne der physischen wie der kulturellen Topographie.
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Verheerte Landschaft
Das war am 12. Oktober 1942. Fünf Familien, 38 Personen.
Das jüngste Kind war fünf Monate, der älteste Mann 79 Jahre alt. Kurz vor Tagesanbruch verschwanden sie in der Höhle [...]
(Olga Tokarczuk, »Die Jakobsbücher«)
Es ist nicht möglich, sich mit der Geschichte Jakob Franks zu beschäftigen, ohne über die Epoche seines Wirkens hinauszudenken. Ein Zitat von Davidowicz darf es vor Augen führen: „Schriften, die Kraushar noch zur Verfügung standen, sind durch die nahezu vollständige Zerstörung Warschaus im 2. Weltkrieg vernichtet worden“ (Jakob Frank, der Messias aus dem Ghetto, S. 16). Das Wissen um diese barbarische Verwüstung, die von Deutschland ausging – die 1943 das jüdische, 1944 das polnische Warschau dem Erdboden gleichmachte – alle Orte in der Westukraine verheerte, die Schauplätze der Romanhandlung sind – die den gesamten Kontinent der jüdischen Kultur in Mitteleuropa vernichtete –, dieses Wissen war während der Arbeit an der Übersetzung stets präsent.
Urbizid (Karl Schlögel) – die Ermordung ganzer Städte. Mnemozid (Christoph Münz) – die Ermordung des Gedächtnisses. Diese Begriffe bezeichnen die Verheerung dieser Landschaft, der Heimat Jakob Franks.
In Christian Herrmanns Bildband In schwindendem Licht / In Fading Light7 (Berlin 2018) sind Orte jener Lebenswelt zu sehen – Räume der Leere inmitten der heutigen Kleinstädte, einstiger Schtetlech. Verfallene Synagogen, überwucherte Friedhöfe. Letzte Überreste des Kontinents Polin. Rohatyn – das Schtetl, das in den ersten Szenen des Romans beschrieben wird, Wohnort der Familie Schor (Herrmann, S. 163). Busk – das Schtetl mit dem Storch im Wappen (Herrmann, S. 35, 63, 95). Kopyczyńce [ukr. Kopytschynzi] – wo Jakob einmal am christlichen Neujahrstag mit seinem Schlittenzug eintrifft und im Verschwiegenen ein Ritual abhält (Herrmann, S. 16/17). Podhajce [Pidhajzi] – der Ort mit dem verfallenden Schloss, in dessen Hof der „Geißbock von Podhajce“ sich mit dem Mond bespricht (Herrmann, S. 13, 38/39).
Auch im Roman scheint die Verwüstung mehrfach auf – mit dem Passus über die horrenden Verluste an wertvollen Büchern, die im besetzten Warschau ein Raub der Flammen wurden; mit dem Hinweis auf den Schädel Jakob Franks, der angeblich „rassenkundlich“ motivierten Untersuchungen als Objekt diente; mit der Geschichte der 38 Jüdinnen und Juden, die in der Höhle von Korolówka die Schoa überlebten.
Dieses Moment des Wissens um Späteres haben wir uns bemüht, auch in der Übersetzung mitklingen zu lassen – zu nennen wäre etwa jene Stelle, die von den Talmudverbrennungen handelt, die nach der Disputation in Kamieniec Podolski (1757) um sich griffen. Unsere Lektorin Ewa Czerwiakowski regte hier folgende Formulierung an: „Einige junge Raufbolde aus dem christlichen Ortsteil wollen mittun: etwas dem Feuer übergeben – das zieht sie immer an […].“
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Varianten des Deutschen oder „Galizien: Wie es an Österreich kam“
(Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart)
Das Besondere an einer Übersetzung der Jakobsbücher ins Deutsche liegt in der kulturellen Verflechtungsgeschichte. Das Deutsche hat seinen spezifischen Anteil an der multiethnischen Kultur der Region, in der sich die Geschichte des Jakob Frank maßgeblich abspielte. Mit der ersten Teilung der Rzeczpospolita – 1772 – fiel Galizien an Österreich. Frank selbst wurde „Zeuge“ dieses Ereignisses, mehr noch – im Zuge der ersten Teilung kam er nach 13 Jahren Haft im Kloster Jasna Góra in Częstochowa (Klarenberg / Tschenstochau) wieder frei. Der russische Kommandant, der ins Kloster einzog, ließ den seltsamen Juden mit seinem Gefolge einfach laufen.
Mit der Frage, wie diese polnisch-habsburgische Verflechtungsgeschichte ihr Echo finden sollte, haben wir uns ausgiebig beschäftigt und beschlossen, unsere Übersetzung dort, wo es dem Verlauf der Handlung nach schlüssig war, „österreichisch“ einzufärben. Diese Tonlage sollte kein Selbstzweck werden, vor allem nicht ins Manieristische abgleiten, sondern als dramaturgisches Gestaltungsmittel dienen. Entsprechend verzichteten wir am Ende des Romans, wenn die „Große Reise“ in Offenbach am Main anlangt, für die Erzählerstimme weitgehend auf das „habsburgische“ Kolorit, lediglich ein, zwei Tupfer haben wir belassen, etwa den „Kren“ – der bei Tisch einen Hauch von vertrautem Zuhause entfaltet haben mag. So wie Jakob auch den Main „beharrlich“ Pruth nennt …
Da der Roman eine Vielzahl von Details enthält, die sich auf sozioökonomische Realitäten beziehen, wird die Verwendung zeitspezifischer österreichischer Vokabeln zusätzlich plausibel. Hier konnten wir auf ein Buch zurückgreifen, das geradezu als Geschenk betrachtet werden darf, stellt es doch eine landeskundliche Bestandsaufnahme dar, die mit dem Blick auf eben jenes Jahr 1772 verfasst wurde – Abraham Jakob Brawer: Galizien: Wie es an Österreich kam. Eine historisch-statistische Studie über die inneren Verhältnisse des Landes im Jahre 1772 (1910). Insbesondere für das Verständnis der ökonomischen Grundlagen der Kultur des Schtetls, das sich aus der Privatstadt der polnischen Magnaten entwickelte, in der die Juden wichtige ökonomische Positionen innehatten, war diese Lektüre aufschlussreich.
Im Einzelnen folgen wir Brawer etwa in der Verwendung des maskulinen Substantivs „Kahal“ – für kehilla (Jüdische Gemeinde; alternativ wäre auch „die Kahale“ möglich gewesen). Zusätzlich bestätigt sahen wir diese Wahl in Karin Wolffs Übersetzung von Jerzy Ficowskis Lyrikband Odczytanie popiołów / Aus der Asche gelesen.8 Auch fanden wir bei Brawer die Bestätigung für weitere Begriffe, die wir verwenden wollten – so etwa den Terminus für das „Ersitzungsrecht“ (Chasaka) oder das Wort Chaluppe (vom polnischen chałupa abgeleitet), das bescheidene bäuerliche Behausungen bezeichnet, deren Wände zumeist nur aus Flechtwerk und Lehm bestanden.
Interessant war es auch, in den letzten Sätzen von Brawers Buch eine knappe Notiz zu den Frankisten zu finden:
„Während der Chassidismus ganz auf dem Boden des talmudischen Judentums basierte, stand die Sekte der Frankisten, deren Anhänger auch meist Einwohner Galiziens waren, dem traditionellen Judentum geradezu feindlich gegenüber. Dem Scheine nach schlossen die Frankisten sich der katholischen Kirche an, im geheimen trieben sie aber ihre ausschweifenden Mysterien. Nach der Besitznahme durch Österreich werden die Frankisten im Lande kaum mehr erwähnt. Sie folgten wohl zum größten Teil ihrem Meister ins Ausland, zum Teil traten sie dann als gute Christen auf.“ (Brawer, S. 107)
Auf Vokabelsuche gingen wir auch bei Joseph Roth und Soma Morgenstern. Joseph Roths Hiob und Hotel Savoy9 etwa, Morgensterns Idyll im Exil (dem zweiten Teil der Trilogie Funken im Abgrund), der in Ostgalizien spielt (zum Zeitpunkt der Handlung Zweite Polnische Republik), sowie seinen Erinnerungen In einer anderen Zeit: Jugendjahre in Ostgalizien verdanken wir wertvolle Anregungen. Um einige Beispiele zu nennen: die „Triste“ – der Heuschober (in der süddeutschen Bedeutung: „aufgeschichtetes Heu“); der „Riemer“ – der Sattler;10 das „Binkel“ – das Bündel; die „Plache“ – die Plane.
Einige Mühe hat uns die kolaska des Paters Chmielowski bereitet. „Kalesche“ kam nicht in Frage, der Bauart wegen – die Kalesche ist zwar einspännig, hat auch ein zumeist aufklappbares Verdeck, ist aber zweiachsig. Bei Morgenstern fanden wir eine Lösung: der einspännige, einachsige, offene Reisewagen hieß in dieser Gegend „Britschka“ (vom polnischen bryczka). Auch in den galizischen Erzählungen von Leopold von Sacher-Masoch taucht mehrfach die „Britschka“ auf.
Nicht zuletzt begleitete uns Friedrich Torbergs Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. Diesem – bedauerlicherweise heute so gut wie vergessenen – Fundus mitteleuropäischer Erinnerung verdanken wir z. B. die „Fladentorte“ und das schöne „Offert“.
Neben den besagten belletristischen Lektüren war die Lektüre von Wörterbüchern eine Konstante dieser Arbeit. Wann immer wir – aus semantischen oder rhythmischen Gründen – Alternativen diskutierten, unterzogen wir das jeweilige Vokabular mithilfe des Grimmʼschen Wörterbuches und des Grammatisch-Kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart von Adelung einer genaueren Durchleuchtung, um weitere Bedeutungsschichten erschließen zu können. Dabei suchten wir jeweils gezielt nach Wortmaterial, das als oberdeutsche / österreichische / böhmische Variante markiert war.
Die Entscheidung für eine bestimmte Vokabel fiel nach jeweils mehreren Schritten der Überlegung: War die semantische Basis festgelegt, galt die zweite Frage dem Kontext kultureller Topographie. Den letzten Ausschlag gaben Erwägungen zu Klang und Rhythmus, und in zahlreichen Passagen nahm diese Phase – die Arbeit an der „Musik“ – die meiste Zeit in Anspruch, bis wir mit allen Details (Spannungsbögen der Sätze, metrischer Duktus, Akzentverteilung, Alliterationen, Assonanzen) zufrieden waren.
Polyphonie
Die polyphone Struktur des Romans schlägt sich in deutlich voneinander unterschiedenen Stimmlagen nieder. Während der Hauptteil des Erzähltextes nur gelegentlich in der Verwendung einzelner Vokabeln als „zeittypisch“ koloriert erscheint, zeichnen sich die Briefe durch ein markant archaisierendes Polnisch aus. Neben der als gegenwartssprachlich zu bezeichnenden Erzählerinnenstimme und der allwissenden Stimme der alten Jenta, die nicht sterben kann, enthält der Roman lange Passagen von Nachmans „Resztki“ – „Resten“: tagebuchähnlichen Zusammenfassungen seiner Erlebnisse mit Jakob und seiner Überlegungen zur Welt. In diesen „Resten“ klingt eine eigene Melodie – im Sinne eines individuellen Erzähltons –, die aber ebenfalls in einem zeitgenössischen Polnisch verfasst ist.
Jenta
Jenta sieht, wie sich der Himmel über ihnen öffnet, wenn sie schlafen, sie ruhen mit seltsamer Leichtigkeit. Heilig ist alles, festlich, als wäre es eigens hergerichtet für den Schabbat, frisch gewaschen und geplättet. Als müsste man einen einfachen, geraden Weg gehen, die Füße achtsam setzen. Vielleicht dass derjenige, der auf sie herniedersieht, endlich sich löse aus seiner Erstarrung, die so lange schon währt? Unter dem göttlichen Blick wird alles eigentümlich und bedeutsam. So finden die Kinder etwa ein metallenes Kreuz, fest in einen Baumstamm eingedrückt, es lässt sich nicht mehr herausnehmen, eingewachsen ist es in die Rinde. Zu seltsamen Gestalten formen sich die Wolken – von biblischen Tieren wohl, jenen Löwen vielleicht, die noch nie jemand erblickt hat, weswegen man nicht weiß, wie sie aussahen. Oder es erscheint eine Wolke mit dem Aussehen des Walfischs, der Jonas verschluckte, nun schwimmt er entlang des Horizonts. In einer kleinen Wolke daneben will jemand sogar Jonas selbst erkennen, der Fisch hat ihn ausgespuckt, ganz krumm ist er und verkrüppelt. Manchmal zieht auch eine himmlische Arche Noah über ihnen ihre Bahn. Behäbig gleitet das gewaltige Schiff übers Firmament, drinnen eilt Noah geschäftig umher, versorgt seine Tiere die ganzen hundertfünfzig Tage hindurch. Und auf dem Dach der Arche – schaut nur, wer ist das? Ein ungebetener Gast, der Riese Og ist es, der im letzten Moment, als die Wasser der Sintflut stiegen, auf die Arche sich geschwungen hat.
Nachman
Reste
oder Wie aus der Erschöpfung von der Reise
eine Geschichte entsteht.
Aufgeschrieben von Nachman Samuel ben Lewi,
dem Rabbi aus Busk
Woher ich komme
Ich weiß, dass ich weder ein Prophet bin noch Heiligen Geist in mir trage. Weder habe ich Gewalt über die Stimmen noch kann ich die Zukunft durchdringen. Von niederer Herkunft bin ich, und nichts erhebt mich aus dem Staub. Ich bin wie viele, auch meine Mazewa gehört zu denen, die als erste zerfallen. Doch sehe ich auch meine Stärken: Für den Handel und die Reise bin ich geschaffen, ich rechne schnell und spreche viele Sprachen. Ich bin der geborene Gesandte.
Mit seinen Erzählebenen und Stimmlagen gibt das Buch zu erkennen, dass es sich nicht als Werk versteht, das um größtmögliche Nachahmung bemüht ist, sondern seine literarischen Mittel im Sinne ästhetischer Spielräume einsetzt. Es ist, wie die Autorin selbst immer wieder betonte – auch in der Korrespondenz mit uns – „ein Roman und keine wissenschaftliche Arbeit“. Für die Übersetzung bot das gleichfalls eine Vielfalt an Möglichkeiten. An wenigen Stellen nur hatten wir es tatsächlich mit Zitaten zu tun, deren Originalwortlaut im Deutschen wir zurückverfolgten. Bei den meisten Stellen, die einen solchen Originalwortlaut nahelegen könnten – der Tagebucheintrag der Sophie von La Roche etwa oder der Zeitungsartikel, der anlässlich des Todes von Jakob Frank angeführt wird (beides in Kapitel 29) – handelt es sich um Fiktion.
Ein tatsächliches Originaldokument existiert für einen Passierschein,11 der Frank und seinem Gefolge ausgestellt wurde. Diesen Text haben wir entsprechend im Wortlaut übernommen. Ebenfalls im Original liegt ein Bericht des Kreishauptmanns von Zollern12vor.
Im Falle des „Geheimnisses einer Lubliner Papierdüte“ wiederum griffen wir auf die vorliegende deutsche Übersetzung des polnischen Originals zurück, um die Geschichte dieses aufsehenerregenden Fundes zu würdigen (detailliert dazu weiter unten).
Die polyphone Struktur des Romans war eine besondere Herausforderung, zugleich mit das Reizvollste an der Arbeit. Anfangs wollten wir es Zufall nennen, dass sich durch unsere Kapitelaufteilung ergeben hatte, dass nahezu alle Briefe an Lisa Palmes fielen, während Nachmans „Reste“ an Lothar Quinkenstein gingen. Je weiter die Übersetzung fortschritt, desto eher neigten wir dazu, andere Energien am Werk zu sehen als den doch recht farblosen Zufall, denn sowohl die Arbeit an den Briefen als auch an Nachmans „Resten“ bereiteten uns jeweils das größte Vergnügen, und so fügte es sich – von welcher Hand auch immer vorbereitet –, dass wir uns kontinuierlich in jeweils dieselben Figuren einfühlen durften.
Eine spezifische Problematik der Briefe – die polnischen Anredeformen, die ungleich breiter gefächert sind als im Deutschen, vor allem auch weit blumiger sich darbieten – mussten wir an etlichen Stellen im Sinne eines Kompromisses lösen. Zu diesen Fragen konsultierten wir vor allem eine Arbeit von Marie Beata Mika: Von Pan zu Pan. Zur Geschichte der polnischen Anrede (2005).
Briefwechsel Elżbieta Drużbacka – Benedykt Chmielowski
Elżbieta Drużbacka:
Ich weisz aber, dasz das Project des Neuen Athen einem groszen Genius und enormem Muthe entsprungen ist, dasz es uns allen, die wir in Pohlen leben, grosze Dienste erweist, ist es doch ein wahrhaftes Compendium unseres Wissens.
Dennoch gibt es eine Sache, die mir bei der guten Lektüre Eures Werkes, mein Wohlthäter, hinderlich scheint, darüber sprachen wir bereits, als ich bei Euch in Firlejów weilte – namentlich dies Latein, nicht jedoch das Latein an sich, sondern seine unermeszbare Fülle, allenthalben streut Ihr es ein, wie Salz, das, überreichlich einer Mahlzeit beigegeben, nicht deren Geschmack veredelt, sondern sie schwer genieszbar macht.
Benedykt Chmielowski:
Warum Latein, fragt Ihr? Und sprecht Euch, wie andere Weiber, dafür aus, sich in den Schriften mehr dem Pohlnischen zuzuwenden. Gegen das Pohlnische per se habe ich nichts, aber wie sollten wir in dieser Sprache uns verständigen, wenn deren Wörter nicht genügen?
Ist es nicht besser, Rhetorik zu sagen statt Redekunst? Oder Philosophie statt Weisheitsliebe? Astronomie statt Sternenkunde? Zeit spart man dadurch, und verrenkt sich überdies nicht die Zunge. Auch in der Musik geht es schwerlich ohne das Lateinische an, zum Beispil der Tonus, die Claviatur, die Consonanz, all dies sind Wörter aus der lateinischen Sprache. Wenn die Pohlen aber – wie inzwischen invaluit Usus –, in Ablehnung des Lateinischen oder polonisirter Termini, fürderhin nur mehr Pohlnisch sprächen und schriben, so müssten sie zurückkehren zum einst als unverständlich verworfenen Altslawischen, wie es sich in den Liedern des Heiligen Adalbert findet.
Schreiben des Bischofs Kajetan Sołtyk an den Nuntius Serra
Man unterrichtete mich sogleich über die gesammte Angelegenheit, worauf ich nicht versäumte, mich selbiger mit grösztem Eifer anzunehmen, und bereits in crastinum ertheilte ich den Dispositores und den Herren der umliegenden Güter den Befehl, die anderen Schuldigen auszuliefern, und als sie sich säumig erwisen, ging ich daran, die Landgüter höchstselbst abzufahren und die Herren im Sinne einer Arretirung zu persuadiren. So wurden einunddreißig Juden und zwei Jüdinnen arretirt, und nachdem man sie in Handfesseln nach Żytomierz gebracht hatte, setzte man sie in eigens zu diesem Behufe ausgehobenen Erdlöchern fest. Nach der Vornahme einer peinlichen Befragung schickte ich die Beschuldigten zum Grodgericht.
Brief Katarzyna Kossakowskas
Ich möchte so frei sein anzunehmen, dasz der Verehrte Bischof bereits sein geschätztes Augenmerk auf diese armen jüdischen Teufel gerichtet hat, die wie Blinde nach dem wahren Glauben tasten und auf gut Glück sich aufgemacht haben, dem einzigen Licht der Christenreligion zuzustreben, wovon ich hier, in Kamieniec, oft erzählen hörte, ist es doch in aller Munde. Es ist uns gelungen, beim König Unterstützung zu sammeln für diese Puritaner, und mit ganzem Herzen stehe ich auf ihrer Seite, beobachte ich doch seit längerem schon die Kinder Mose, ihr schweres Leben hier, und sehe, dasz sie doch selbst nicht unschuldig sind daran, wenn sie so krampfhaft sich an ihrem jüdischen Aberglauben halten. Für ein Wort in dieser Sache wäre ich auszerordentlich verbunden, wenngleich ich Seine Excellenz nicht incommodiren und fatigiren möchte.
Da es unser erstes Ziel war, eine Prosa von größtmöglicher Plastizität zu schaffen, um der sinnlichen Ebene des Romans gerecht zu werden, die mit so unerschöpflicher Liebe zum Detail ausgearbeitet ist, richteten wir unser Augenmerk immer wieder auch auf Möglichkeiten, diese Lebendigkeit durch das Erzählverhalten selbst zu erzielen. Konkret bedeutete das zum Beispiel, auf Stellen zu achten, die sich in erlebter Rede wiedergeben ließen. Diese Frage ging häufig mit einer Bewertung der Tempuswechsel einher, die im Polnischen sehr flexibel gehandhabt werden können. Eine analoge Übertragung hätte an etlichen Stellen zu Verwirrung geführt. Deshalb folgt unsere Übersetzung in einzelnen Passagen nicht den – teils „hochfrequenten“ – Tempuswechseln des Originals, sondern legt einen anderen Rhythmus zugrunde. Wir orientierten uns an dramaturgischen Zäsuren, bemühten uns, das Präsens dort zu verwenden, wo es der Steigerung der Spannung dienen könnte bzw. wo es sich im Sinne der erlebten Rede einsetzen ließ. Die Entscheidungen trafen wir jeweils in Anbetracht der einzelnen Passagen und ihrer Kontexte. In jedem Abschnitt, der uns unter diesen Gesichtspunkten beschäftigte, erprobten wir mehrere Varianten, ehe wir uns für eine Fassung entschieden, die wir als die „gültige“ ansehen wollten.
Anhand von drei weiteren Beispielen möchten wir verdeutlichen, wie aus den ersten Entwürfen die endgültige Fassung wurde:
In Kapitel 9 wird Jakobs und Chanas Hochzeit in Nikopol beschrieben. Chana, fast noch ein Kind, fühlt sich geehrt in ihrer neuen Rolle, doch ist sie zugleich völlig überrumpelt von den Ereignissen. Vor allem die Hochzeitsnacht hinterlässt Erschütterungen bei ihr. Die Passage, die davon erzählt, lautet in einer Übersetzung, die sich nahe am Original bewegt:
„In der ersten Nacht schon wurde die Ehe konsumiert, so jedenfalls rühmte sich der Gatte, und das mehrere Male; sie fragt niemand. Verwundert darüber, wie der zwölf Jahre ältere Ehemann in die schläfrigen Rabatten ihres Körpers eindrang, schaut sie in die Augen der Mutter und der Schwestern. So also ist das?“
In mehrfachen Überarbeitungen variierten wir sowohl die zeitliche als auch die syntaktische Struktur der Stelle, um zu einer Fassung zu gelangen, die uns klanglich und rhythmisch überzeugte:
In der ersten Nacht schon wurde die Ehe konsumiert, und das – so jedenfalls rühmte sich der Gatte – gleich mehrere Male. Was die Braut dazu zu sagen hatte? Niemand bat sie um ein Urteil. Wie der zwölf Jahre ältere Ehemann die schläfrigen Rabatten ihres Körpers zerpflügte, das ließ sie in bassem Erstaunen zurück. Fragend blickte sie in die Augen der Mutter und der Schwestern. So also sieht das aus?
Eine zweite Stelle – in Kapitel 17: Moliwda ist bei der Kastellanin Kossakowska vorstellig geworden, weil er sich für die Contratalmudisten einsetzen möchte und hofft, die weit verzweigten, bis in hohe politische und kirchliche Kreise reichenden Beziehungen der Kastellanin dafür nutzen zu können. In den einleitenden Sätzen des Kapitels beobachtet er ihren Gatten, den Kastellan, von dem zuvor schon – seiner geringen Körpergröße wegen – in recht ironischem Tonfall die Rede war.
„Der Kastellan, ihr Ehemann, spaziert mit einem Gläschen Likör durchs Zimmer, ulkig geht er, wie ein Reiher, schlurft über den türkischen Teppich. So wetzt er sich rasch die Sohlen durch, denkt Moliwda. Einen blassgelben Żupan hat er an, eigens genäht für seine schmächtige Figur, sodass er darin wahrhaftig elegant aussieht.“
Ihr Gatte spaziert unterdessen mit einem Gläschen Likör durchs Zimmer, ulkig sieht er aus, man möchte an einen Reiher denken, wie er die Füße auf dem türkischen Teppich setzt. Mit dieser schlurrenden Art zu gehen wetzt er sich rasch die Sohlen durch, denkt Moliwda bei sich. Einen blassgelben Żupan trägt der Herr Kastellan, dem Hänfling auf den Leib geschneidert, so wirkt er in dem Kleidungsstück wahrhaftig elegant.
Die dritte Passage findet sich in Kapitel 29. Die Szene spielt auf dem Isenburger Schloss in Offenbach. Das Gemüse, das hier für den Vergleich verwendet wird, ist die Wurzelpetersilie – die uns klanglich wenig attraktiv erschien. Auf der Suche nach einem Pendant kamen wir auf die Pastinake. Daneben ging es auch hier um eine Bearbeitung der „Musik“ des Abschnitts:
„Die Zwierzchowska, die das Recht hat, rund um die Uhr zu jeder Zeit beim Herrn einzutreten, führt ihm Mädchen zu, die ihm das Bettzeug wärmen sollen. Je älter der Herr wird, desto mehr Gefallen hat er an solchen jungen Dingern. Er sagt ihnen, sie sollen sich ausziehen und sich neben ihn legen. Anfangs sind sie zumeist entsetzt, dann aber gewöhnen sie sich daran, kichern in die Bettwäsche. Manchmal scherzt der Herr mit ihnen. So junge Mädchenkörper erinnern an Wurzelpetersilie, lange, zarte Wurzeln. Wegen der Jungfernschaft hat die Zwierzchowska keine Sorge. Der Herr ist ein Maulheld. Mit dieser Jungfernschaft wird sich ein anderer befassen müssen. Sie sollen den Herrn wärmen.“
Die Zwierzchowska, die zu jeder Zeit das Recht hat, gleich ob am Tage oder nachts, einzutreten in die Hallen des Herrn, führt ihm Mädchen zu, die seine Laken wärmen. Je älter der Herr wird, desto mehr Gefallen findet er an jungen Füllen. Ausziehen sollen sie sich und neben ihn legen. Zuerst sind sie entsetzt, doch bald gewöhnen sie sich daran, kichern in die Kissen. Manchmal treibt der Herr auch Schabernack mit ihnen. Solch junge Mädchen lassen an Pastinaken denken – schlanke, ranke, zarte Leiber. Um die Unschuld der Füllen muss sich die Zwierzchowska keinen Kummer machen. In diesen Dingen ist der Herr ein Maulheld. An der Jungfernschaft der Füllen wird ein anderer sich versuchen müssen, sie sollen dem Herrn die Knochen wärmen, weiter nichts.
Texturen: Verwobenes
Wir kennen uns mit Gott nicht aus,
aber der Weg der jüdischen Kontinuität
verlief stets über Worte, über Text und Rede.
(Amos Oz / Fania Oz-Salzberger, »Juden und Worte«)
Der Text ist voll von Hinweisen, Anspielungen,
versteckten Winken und zweideutigem Schillern.
(Bruno Schulz, »Der Frühling«)
Ich hatte allerdings noch einen Grund zur Trauer an jenem Tage. Schon in dem Zelt, während die Erwachsenen beteten, war ich in neugieriger Pietät damit befasst, die Inschrift auf dem Grabmal des Urahnen zu lesen. Sagte ich nicht oben, daß die Inschrift lesbar war für jeden, der Hebräisch zu lesen verstand, also auch für meine Brüder und eigentlich auch für mich? Nun, das Wörtchen eigentlich entschlüpfte der Feder etwas voreilig. Denn recht eigentlich war die Inschrift für mich nicht lesbar. Diese Entdeckung beschämte mich nicht wenig. Im Alter von sieben waren mir fast alle Alphabete der judeo-christlichen Kulturwelt zugänglich, mit Ausnahme des griechischen, das ich erst im Gymnasium erlernen sollte. Aber selbst dieses, das griechische Alphabet, war mir in seiner Abart, der kyrillischen Schrift, durchaus geläufig, weil ich in der polnisch-ukainisch gemischten Volksschule beide Alphabete, das lateinische und das kyrillische, gleich in der ersten Klasse erlernt hatte. Das hebräische war aber doch das erste. Das hatte ich ja als Dreijähriger zu lernen begonnen. Nun stand ich vor dem beschrifteten Grabstein meines Großvaters, und erkannte wohl jeden rein in Stein gemeißelten Buchstaben. Aber nur wenige fügten sich zu einem verständlichen Wort zusammen, mehr erraten als erlesen obendrein. Eine quälende Zeit blieb ich mit meiner Beschämung allein. Ich folgte meinen Brüdern von Grabstein zu Grabstein, tat, als läse ich mit ihnen, bis ich einen Moment mit Schmelkele allein vor einem Grabstein stand, lange genug, um ihm meine Lesenot anzuvertrauen. Vor diesem Bruder hatte ich keine Geheimnisse. Er flüsterte mir sogleich einen Trost zu, der auf der Stelle gewirkt hat. In der Erinnerung kommt es mir jetzt so vor, als ob Schmelkele in seiner schöpferischen Herzensgüte den nicht völlig wahren Trost erfunden hat, weil er ihn in dem Falle als den einzig wirksamen empfand. Er sagte, es wäre auch ihm mit den Inschriften auf den Grabsteinen so ergangen, als er zum ersten Mal »aus den Steinen« zu lesen versuchte. »In den Büchern«, sagte er, »stehen die Buchstaben in luftigem Abstand nebeneinander, während sie hier auf den Grabsteinen nicht getrennt sind. Die andere Schwierigkeit sind die vielen Abkürzungen. Fünf Buchstaben stehen da für fünf Wörter. Man muß eben die Abkürzungen lernen.«
(Soma Morgenstern, »In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien«)
Pardes
Dass die Philologie ihren Ursprung in der jüdischen Kultur hat, mit anderen Worten: dass jede heutige „Einführung in die Literaturwissenschaft“ auf die Tradition talmudischen Denkens und Debattierens zurückgeht – Die Jakobsbücher führen es in aller Deutlichkeit vor Augen. Somit gewinnt der Roman schon allein durch sein „Thema“ einen intertextuellen Charakter.
Auf einer ersten Ebene äußert sich diese Struktur durch die unmittelbaren Referenzen: mit den Autoren und ihren Schriften, die als Argumente in den Debatten herangezogen werden. Auf einer weiteren Ebene enthält das Buch eine Fülle von Zitaten und Paraphrasen, die aus dem kulturellen Gedächtnis jüdischer Überlieferung geschöpft sind. So begegnen wir etwa – in einer Unterrichtsstunde im Cheder des Elischa Schor – dem Vergleich der Tora mit einer Walnuss: Durch die verschiedenen Schalen dringt man zum Kern der Bedeutungen vor. In derselben Szene werden die vier Stufen der Interpretation dargelegt (von der wörtlichen zur mystischen Auslegung). Die Anfangsbuchstaben der Bezeichnungen für diese vier Stufen des Schriftsinns ergeben das Wort Pardes13– (Paradies)Garten. Und es fehlt in dieser Passage auch nicht die gleichnishaft warnende Erzählung von den vier Weisen, von denen drei mit jeweils einer der Deutungstechniken auf Irrwege gerieten, nur Rabbi Akiba, der den mystischen Sinn zu erfassen wusste, gelangte in den Paradiesgarten der tiefsten Erkenntnis – und kam auch wohlbehalten wieder heraus.
Mit einem solchen „Grundkurs“ zur Hermeneutik in einer der Eingangsszenen des Romans ist die Leserin/der Leser nicht schlecht gerüstet für alles Kommende.
Kabbala
Wesentliche Erzählstränge des Romans ranken sich um Fragestellungen der Kabbala. Wer auch nur ein einziges Buch über dieses Themenfeld zur Hand nimmt, sieht sich bald auf einem Ozean der Gedanken treiben. „Gott ist unermeßlich“ – die Pointe des zehnten Abschnitts in Bruno Schulzʼ Erzählung Der Frühling scheint nichts besser zu beschreiben als die Dimensionen kabbalistischen Denkens. Eben dieses Gefühl – ins „Unermessliche“ davongetragen zu werden – empfanden wir mehr als einmal bei der Übersetzung. Orientierung bei der Reise bot uns immer wieder Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen – Zur Kabbala und ihrer Symbolik – Von der mystischen Gestalt der Gottheit – Über einige Grundbegriffe des Judentums – Judaica 5: Erlösung durch Sünde – Judaica 3 (in diesem Band vor allem das Kapitel „Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus“) – um nur einige Titel zu nennen. Nicht zuletzt verdanken wir auch Scholems monumentaler Sabbatai-Zwi-Biographie14(1992) wertvolle Hinweise.
Auf Zwi hatte Frank sich immer wieder berufen, ihn betrachtete er als den ersten in jener Reihe von drei „Propheten“, deren krönenden Abschluss er selbst darstellen sollte: Sabbatai Zwi – Baruchia Russo – Jakob Frank (der „wahre Jakob“). Neben Scholem konsultierten wir zu einzelnen Themen und Aspekten auch immer wieder den zweiten und dritten Band von Karl Erich Grözingers epochalem Werk Das jüdische Denken (Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus; Von der Religionskritik der Renaissance zu Orthodoxie und Reform des 19. Jahrhunderts).
Weltursprung und „verschollener Messias“: Isaak Luria und Bruno Schulz
Zwei Textverweise besitzen für den Roman ihre besondere Bedeutung, zum einen im Zusammenhang der kabbalistischen Denktradition, zum anderen im Kontext einer literarischen Referenz, die in der polnischen Literatur existentielles Gewicht besitzt.
Das erste „Zitat“ bezieht sich auf nichts Geringeres als die Erschaffung der Welt. Zu Beginn des Zweiten Buches setzt Olga Tokarczuk die „Selbstverschränkung Gottes“ – zimzum15–, die nach Isaak Luria als erster Schritt im Prozess der Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) zu denken sei, in Prosa um:
Es kann geschehen, dass Gott sich erschöpft an seinem Glanz und seiner Stille, dass ihm unwohl wird von seiner Unendlichkeit. Und wie eine große, allempfindliche Auster, deren Körper, so nackt und zart, das feinste Beben eines winzigen Lichtsplitters wahrzunehmen vermag, zieht er sich zusammen, zieht sich in sich selbst zurück, und in dem Raum, den er freigibt, entsteht aus dem Nichts – ein Stückchen Welt.
(Olga Tokarczuk, »Die Jakobsbücher«)
Der zweite Textverweis führt uns zu Bruno Schulz, einem Autor, dessen literarisches Werk als Inbegriff der schöpferischen Energien der mitteleuropäischen Gedanken-Landschaft gelten darf. Die Anspielung, die Olga Tokarczuk nutzt (sie ist in die Schilderung von Jentas Kindheit integriert), bezieht sich jedoch nicht – und eben das macht das Bedeutsame dieses Verweises aus – auf das existente Werk von Schulz, sondern auf das verschollene Messias-Romanfragment, mit dem Schulz die große Synthese seiner beiden Erzählbände schaffen wollte, die Kulmination seiner Poetik einer – vor allem von den lurianischen Entwürfen inspirierten – „Retextualisierung der Kabbala“ (Bożena Shallcross).
Wie weit sein Messias-Roman gediehen war, ist nicht mehr genau zu erschließen. In Briefen erwähnte er, wie schwer ihm die Arbeit daran falle, dass der Messias „in den Windeln liege“, dass er in den Sommerferien nicht habe schreiben können, und dass er nun – da die Ideen sich formten – wieder Schule habe. Jerzy Ficowski, Pionier der polnischen Schulz-Forschung, hatte sich Jahrzehnte lang bemüht, Spuren zu verfolgen, die eventuell zu dem Manuskript führen könnten. Doch die Hoffnung, es würde eines Tages die geheimnisvolle Person auftauchen, die das Manuskript mit sich trüge – wie Cynthia Ozick es für ihren Roman The Messiah of Stockholm (Der Messias von Stockholm) erfunden hat –, erfüllte sich nicht. Im polnischen Diskurs wird der Romanentwurf häufig entsprechend als „zaginiony Mesjasz“ apostrophiert: „der verlorene / verschollene Messias“.
Ficowski überliefert, das Manuskript hätte mit einem geradezu unerhörten Satz begonnen – die Mutter weckt ihren Sohn mit den Worten: „Józef, der Messias ist da. In Sambor ist er schon gesehen worden.“ (Sambor liegt etwa 30 km nordwestlich von Drohobycz, der Capitale des literarischen Kosmos von Schulz). In den Jakobsbüchern ist es Jentas Mutter, die eines Morgens – mit allen Anzeichen geistiger Verwirrung – ihre Tochter weckt: „Steh auf, der Messias ist da. In Sambor ist er schon gesehen worden.“
Das Echo eines (vermutlichen) Zitats aus einem Text, der erst mehr als zwei Jahrhunderte später entstehen wird, verweist nicht nur auf die Zeitlosigkeit des Bewusstseins der alten Jenta, es erweitert auch den memorialen Raum des Romans über die Grenzen seiner Handlung hinaus.
Übertragen wir den Satz, mit dem das verschollene Messias-Manuskript begonnen haben soll, auf die Landkarte der Realität, so sehen wir den Messias auf seinem Weg – von Sambor nach Drohobycz – durch den Wald von Bronica kommen. In diesem Wald haben die deutschen Besatzer 12.000 Drohobyczer Jüdinnen und Juden ermordet. Mindestens zwölf große Massengräber sind über das Areal verteilt. In einem dieser Gräber liegt die Mutter Alfred Schreyers, des Drohobyczer Violinisten und Sängers, eines Schülers von Bruno Schulz.
Das Echo aus dem verschollenen Messias war uns ein wichtiges Indiz dafür, dass Olga Tokarczuk ihren Roman, der so minutiös die Fakten der Geschichte des 18. Jahrhunderts zusammenfügt, als Werk des 21. Jahrhunderts zu erkennen gibt, als Reservoir einer Memoria, die die mitteleuropäische Landschaft – auch – mit heutigen Augen betrachtet, mit dem Wissen um die „Horrorgeschichte des Verschwindens“ (Karl Schlögel).
Nicht ein Text von Bruno Schulz, sondern der Verweis auf die Leerstelle wird zum Prisma der literarischen Reflexion. Der verschollene Messias ist eine Quelle der Abwesenheit – Chiffre für das jüdische Mitteleuropa, Chiffre für die Verwüstung. Chiffre zugleich für die messianische Idee, Chiffre ersehnter Erlösung.
Die Lebensgeschichte des Salomon Maimon
Eine besondere Form des Textdialogs hat Olga Tokarczuk mit der Figur des Nachman aus Busk geschaffen. Seine Lebensgeschichte ist an mehreren Stellen angelehnt an die Autobiographie des oben bereits erwähnten Salomon Maimon16 (ca. 1753-1800), die 1913 in polnischer Übersetzung erschien. Wörtlich zitiert wird nur ein Satz – der davon handelt, dass in der jenseitigen Welt alle irdische Ungerechtigkeit sich ausgleichen wird: „Närrchen! In jener Welt wird die Duksel [Adlige] bei uns die Peschure [den Ofen] heizen.“ Daneben finden sich mehrere Paraphrasen, so etwa über die Stimmungslage in Polen-Litauen, ein Land, in dem „die religiöse Freizügigkeit und der religiöse Hass einander in gleichem Maße begegnen“.
Auch einige Szenen aus Nachmans Kindheit sind von Schilderungen bei Maimon inspiriert – Episoden, die in der Schenke spielen, etwa jene mit dem angeblich erlegten Wolf, den Nachmans Vater eines Nachts von einem Unbekannten bekommt, damit er ihn bis zum Morgen bei sich aufbewahre, was ihn ins Unglück stürzt – in dem Sack ist ein Erschlagener. Bei Maimon war es der Großvater, der eines Nachts von einem Unbekannten einen Sack mit einem angeblich erlegten Biber (sic) erhielt.
Der Lebensweg, den Maimon zurücklegte, ist dem Weg Jakob Franks nicht unähnlich. Auch Maimon bewegte sich aus dem „Ostjudentum“ nach Westen, mit dem bedeutenden Unterschied freilich, dass seine Reise nicht in die Mystik führte, sondern zu Kant. Kein Wunder also, dass Graetz ihn als Gewährsmann anführt, wenn er – wie oben zitiert – den Hang der polnischen Juden „zur Phantasterei und besonders zum Müssiggange“ belegen möchte.
Die Figur des Nachman wiederum formuliert mit den letzten Sätzen der „Reste“ ein Bekenntnis, das alle gängigen Kategorisierungen unterläuft. Am Motiv des Lichts sich orientierend, formuliert er eine Haltung, die Erkenntnis und Ethik gleichermaßen zum höchsten Maßstab erhebt. Die nach kabbalistischer Logik geknüpften Bezüge öffnen den Blick auf ein mystisch verstandenes sapere aude der Transzendenz.
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Es gibt in der Kabbala etwas wie einen verwandelnden Blick, von dem zweifelhaft bleibt, ob man ihn besser als einen magischen oder als einen utopischen Blick bezeichnen sollte. Dieser Blick enthüllt alle Welten, ja das Geheimnis von En-sof selber, an dem Ort, an dem ich stehe. Man braucht nicht über das zu verhandeln, was „oben“ oder „unten“ ist, man braucht nur (nur!) den Punkt zu durchschauen, wo man selber steht. Diesem verwandelnden Blick sind alle Welten, wie einer der großen Kabbalisten gesagt hat, nichts als die „Namen, die auf dem Papier von Gottes Wesen aufgezeichnet werden“.
(Gershom Scholem, »Zehn unhistorische Sätze über Kabbala«, Achter Satz)
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„Meine Seele will sein wie am Himmel ein Schiff“
Eine eigene Textebene im Roman stellt das „alte Gebet“ dar, das in insgesamt fünf Fassungen aufscheint, die den Charakter musikalischer Variationen besitzen. Die erste ist in lyrischer Prosa, die letzte im Stil eines volkstümlichen Liedes gehalten (Von allem, was die Welt verwirrt …). Mit ähnlicher Metaphorik, doch im Ton jeweils eigenständig, wird stets derselbe Grundgedanke ausgeführt: dass die Seele sich an keine materiellen Bedingungen binden solle, um in diesem Zustand – frei von allen Verführungen und Beschränkungen des Körperlich-Sinnlichen – ihren Schöpfer in unmittelbarer Wahrheit erkennen zu können.
Die mündliche Tradierung sowie die Wanderung des Textes durch die Sprachen machen die Variationen plausibel: Nachman hört es (auf Hebräisch) von Reb Mordke (1. Fassung17); Moliwda hört es von Nachman und legt es sich auf Polnisch zurecht (2. Fassung18); Nachman spricht es sich in einer eigenen polnischen Übersetzung vor (3. Fassung19); Blumele Dobruška singt es als deutsche Übersetzung eines „alten Liedes der Rechtgläubigen“ (4. Fassung20); es kreist – als anonymer Text – „noch lange“ nach den Revolutionsjahren in den Straßen von Paris (5. Fassung21).
Die vierte Fassung liefert – im Original – eine Vorgabe, die sich in der Übersetzung zu einem zeitspezifischen Bezug entfaltet: Der jambische Fünfheber / Endecasillabo, mit alternierenden Versschlüssen (entweder als echte Stanze oder als Variation derselben), darf als Muster gelten, das in den Bücherschränken jenes Bürgertums, an dessen Habitus sich die Familie Dobruška orientierte, zu finden war. Moše Dobruška selbst verfasste poetische Werke in dieser Form. Susanne Wölfle-Fischer führt in ihrer oben erwähnten biographischen Studie einige Beispiele an (vgl. das Kapitel „Die schriftstellerische Tätigkeit“, S. 61-74).
Auch für die fünfte Fassung lag das Vorbild auf der Hand – die „Volkslied“-Strophe: vierhebige Jamben, die Versausgänge jeweils in markanter Akzentuierung, durchgängig paargereimt, mit einer Modulation lediglich in der letzten Strophe, die mit dem umarmenden Reim die Erfüllung im Akt der höchsten / tiefsten Erkenntnis verdeutlicht. Stimmt man sich mit diesen Versen auf ein rascheres Tempo ein, entsteht ein lebhafter Rhythmus, der das Lied „tanzbar“ macht, etwa im Stil einer Polka.
Der „Mann vom Lande“
Jakob bezeichnet sich selbst als einen Prostak (poln.: „einfacher, [auch:] ungehobelter, primitiver Mensch“), der kraft seiner Schlichtheit den Fallen der Verbildung entgehen und damit einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit finden könne. In der jüdischen Tradition allerdings ist dieser Typus des Am Haaretz – wie die Bezeichnung auf Hebräisch lautet – alles andere als ein Vorbild. Der ungebildete Mensch, der keine fundierten Kenntnisse der eigenen Tradition besitzt, kann weder selbst „nach dem Gesetz“ leben noch seinen Kindern ein entsprechendes Vorbild sein. „Unwissenheit und Naivität sind keine Tugenden. Das Judentum kennt keine sancta simplicitas“, schreiben Amos Oz und Fania Oz-Salzberger in ihrem Buch Juden und Worte. Die jiddische Form des „Am Haaretz“ lautet „Amoretz“ oder auch „Amurytz“. Da uns an dieser Stelle sofort Kafkas Erzählung »Vor dem Gesetz« in den Sinn kam, beschlossen wir, der Übersetzung mit dem „Mann vom Lande“ einen Faden einzuweben, der – rücklaufend-vorausweisend – an Kafkas eigene messianische Reflexionen erinnern darf (in den Zürauer Aphorismen etwa), ebenso an die Beziehungen Prager jüdischer Familien zu frankistischen Kreisen (wovon auch der Roman in einigen Abschnitten erzählt).
Inspiriert von den Texturen des Romans, und inspiriert vor allem von den Reflexionen über die Zeit, die andere Möglichkeiten eines Verlaufs erwägen als die lineare Chronologie, haben wir – neben dem „Mann vom Lande“ – noch andere Spielräume genutzt, um Kontexte deutschsprachiger Literatur anklingen zu lassen. Den geschätzten Leserinnen und Lesern möchten wir an dieser Stelle nicht den Spaß verderben, die Echos selbst zu entdecken.
„Aus fremder Mutter Schoß“
In der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist ohne Frage das Werk Adam Mickiewiczs am deutlichsten von messianischen Gedanken durchzogen. Nach allem, was heute bekannt ist, war Mickiewiczs Mutter eine getaufte Jüdin, möglicherweise Frankistin (dazu ist mittlerweile einiges an Forschungsliteratur entstanden). Eine der legendären Stellen, die im Kontext des messianischen Gedankens häufig zitiert werden, stammt aus dem Drama Dziady (Die Ahnenfeier, Übersetzung: Walter Schamschula / Die Totenfeier, Übersetzung: Gerda Hagenau). Dort ist von einem Menschen die Rede, der in der Aura des Erlösers (Polens) stehen werde – geboren „aus fremder Mutter“ Schoß, und dessen Name „44“ sei. Allein diese Zahl hat Anlass gegeben zu mannigfaltigen Spekulationen. Sollte es ein kabbalistisch unterlegter Verweis sein, so wäre Mickiewicz ein Lapsus unterlaufen. Sein Vorname – Adam – hat im Hebräischen den Zahlenwert 45, was zugleich dem Zahlenwert des Tetragrammatons entspricht (JHWH). Olga Tokarczuk lässt die Stelle in prophetischer Verklausulierung anklingen, als Erlöserfigur ist hier freilich Jakob Frank zu denken: „Ein Mann von fremder Herkunft werde kommen, aus einer fremden Mutter Schoß, er werde das Land wieder herrichten und von jeglicher Knechtschaft befreien.“
In der intertextuellen Engführung ist einmal mehr zu sehen, wie nah sich die beiden messianischen Konzepte in ihrer Genese gewesen sind; die gedanklichen Konsequenzen führen dann aber in sehr verschiedene Richtungen. Doch gerade um diese Nähe wusste auch niemand besser als Mickiewicz selbst, der es als Geschenk betrachtete, dass die Polen mit den Juden den Ursprung ihrer christlichen Religion ständig vor Augen hätten. Aus ebendiesem Grunde sprach er sich auch gegen eine Assimilation aus.
Mit den Worten von Emmanuel Levinas: „Es muss auf der Welt jemanden geben, der so alt ist wie die Welt.“
Die Jungfrau ohne Augen
In dem ihm eigenen synkretistischen Stil verschmolz Jakob Frank jüdische und christliche Inhalte zu einem Ideensystem. Immer wieder kreiste er um die Schechina, jenen weiblichen Aspekt Gottes, der in der Kabbala von größter Bedeutung ist, steht er doch in engstem Zusammenhang mit dem messianischen Gedanken – denn dieser weibliche Aspekt Gottes ist als von Gott selbst exiliert gedacht. Hier öffnet sich der Kontext der Deutungen der Galuth – der Diaspora – als des Grundes, aus dem die Erlösung aufsteigt. Das Schabbatlied »Lecha Dodi«, verfasst von Schlomo Alkabez im 16. Jahrhundert (Heinrich Heine schrieb es in seinem Gedicht »Prinzessin Sabbat« irrtümlich „Don Jehuda ben Halevy“ zu), beginnt mit den Worten: „Komm, mein Freund, der Braut entgegen“. Zum Beginn des Schabbat die „Braut“ zu empfangen – die Schechina –, mit ebenjenem Lied und einer Verbeugung ihr zu Ehren, wenn die entsprechende Strophe ihren Eintritt durch die Tür der Synagoge suggeriert –, vermittelt eine Vorahnung von den messianischen Zeiten.
Inspiriert durch seinen Aufenthalt in Tschenstochau amalgamierte Frank die Vorstellung von der Schechina mit der christlichen Jungfrau, woraus er seine Vision eines weiblichen Messias schuf. Diese Denkfigur, wie utopisch kühn sie auch anmuten mochte, hatte er zugleich irdisch genug konzipiert, um sie auf seine Tochter Ewa (Eva) projizieren zu können.
Besondere Bedeutung kommt hier dem Wort panna zu, das im Polnischen, je nach Kontext, mehrere Bedeutungen hat. Zunächst bedeutet es „Fräulein“, außerdem „Jungfrau“. Panna młoda ist die „Braut“, Najświętsza Panna die „Heiligste Jungfrau“. Im Roman taucht weiterhin eine bedeutende Metapher auf: Panna bez Oczu, die „Jungfrau ohne Augen“ – eine kabbalistische Bezeichnung für die Tora. Im Deutschen lässt sich das Oszillieren zwischen den beiden Bedeutungssphären „Braut“ und „Jungfrau“, die für die jüdische bzw. die christliche Denksphäre stehen, so fließend nicht gestalten. Um den Übergang zu markieren, war eine Doppelung nötig – sie bot sich an jener Stelle an, da Jakob Frank das Wort panna, das er bis dahin im Sinne der „Braut“, der Schechina, benutzt hat, zum ersten Mal explizit in den christlichen Kontext verschiebt:
Warm und golden, hell und weich. Wie ein wunderlicher, lebendiger Körper, der unter einer Schnittwunde zum Vorschein kommt, saftiges Fruchtfleisch unter geplatzter Haut.
So wird die Schechina erscheinen in der Welt.
Jakob spricht immer häufiger von ihr; anfangs hörte man ihren Namen nur selten, doch die neue, so mächtige Anwesenheit in Iwanie macht rasch die Runde, breitet sich aus.
„Die Braut geht dem Allmächtigen voraus“, sagt Jakob zum Ende eines langen Winterabends. Mitternacht ist schon vorüber, die Öfen sind erkaltet, durch die Ritzen in den Wänden der Hütte dringt der Frost. „Sie ist das Tor zu Gott, durch sie allein kann man zu Ihm gelangen. So wie die Schale der Frucht vorausgeht.“
Sei nennen sie Ewige Braut, Himmelskönigin, Gütige Helferin.
„Unter ihren Fittichen werden wir uns verbergen“, verkündet Jakob, „jeder wird sie auf seine Weise sehen.“
„Bis jetzt habt ihr geglaubt“, sagt er an einem Wintermorgen, „dass der Messias ein Mann sein wird, das aber ist schlicht unmöglich, denn der Urgrund ist die Braut, die Jungfrau, sie wird der wahre Erlöser sein.(Olga Tokarczuk, »Die Jakobsbücher«)
Von diesem Moment an verwenden wir für panna – im Kontext der frankistischen Erlösungsidee – das Wort „Jungfrau“.
Die Disputation in der Lemberger Kathedrale
Bei Serafinowitsch müssen wir uns etwas länger aufhalten,
denn er hat viel Unheil über die Juden gebracht,
und man beruft sich noch in unserer Zeit auf seine Worte.
(Daniil Abraamowitsch Chwolson, »Die Blutanklage
und sonstige mittelalterliche Beschuldigungen der Juden«, 1901)
Eines der komplexesten Kapitel des Romans ist Kapitel 20, das von der Disputation in der Lemberger Kathedrale handelt, die im Sommer 1759 stattfand. Die Contratalmudisten hatten dieses Forum für sich gefordert (nach einer früheren Disputation in Kamieniec Podolski), um die Kirchenoberen für ihre Sache zu gewinnen. Nicht zuletzt ging es darum, dass man ihnen Land zugestehe, auf dem sie „nach eigenem Gesetz“ leben könnten. Die Bedingung dafür sollte die Taufe sein.
Um ihre lauteren Absichten zu bekunden, legten sie sieben Thesen vor, die sie in der Kathedrale gegen die Kritik talmudtreuer Rabbiner verteidigen wollten. Die ersten sechs Thesen bekräftigen christliche Glaubensinhalte, sie beziehen sich auf Christus als Messias und die Erlösung durch das Kreuz. Überaus heikel allerdings ist die siebte These: Sie besagt, dass, wer an den Talmud glaube, Christenblut benötige (zu rituellen Zwecken).
Das Schwierige an diesen Szenen der Disputation ist das Moment der vorsätzlichen Irreführung. Was die Contratalmudisten zur siebten These vortragen, ist in höchstem Maße manipulativ. Sie berufen sich auf Autoritäten, die nicht existieren, verweisen auf Schriften, die es nicht gibt, schieben an einer Stelle den Namen eines Gelehrten als Titel eines angeblichen Buches unter, das sie zudem einer Zeit zuschreiben, die denkbar weit entfernt liegt vom Lebenslauf des (tatsächlichen) Gelehrten usw.
Und als sei dies nicht schon verwickelt genug, fasst im Anschluss Pater Chmielowski in einem Brief Verlauf und Ergebnis der Disputation noch einmal zusammen, wobei er – aufgrund seiner Unkenntnis der Materie – alle Fehler wiederholt, ja selbst noch sein Teil hinzugibt.
Die Übersetzung dieses Kapitels sah sich vor die Aufgabe gestellt, die Struktur der Manipulation aufzudecken. Erst wenn wir wussten, an welchen Stellen die Contratalmudisten falsches Spiel betrieben, konnten wir den Sätzen die entsprechenden Akzente verleihen.
Zu diesem 20. Kapitel ließe sich eine eigene Abhandlung schreiben – wir möchten uns im Folgenden auf einige wesentliche Linien beschränken.
Dass „Rambam“ nicht der Titel einer Schrift ist, sondern das Akronym für Rabbi Mosche ben Maimon – Maimonides (1135-1204) – den bedeutendsten jüdischen Gelehrten aus dem sephardischen Kulturkreis, lag auf der Hand. Auch dass Rambam (in welcher Schrift auch immer) unmöglich zum Genuss von Menschenblut angehalten haben konnte, verstand sich von selbst. Etwas schwieriger wurde es schon, die angebliche Autorität „Rawasche“ zuzuordnen. Dieser „Gewährsmann“ für jüdische „Blutrituale“, nicht minder fragwürdig als das „Buch Rambam“, ist durch die Zusammenziehung von „Raw [Rabbi] Asche“ entstanden – ein solcher Gelehrter lebte tatsächlich, er wurde im vierten Jahrhundert nach Christus geboren, starb in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts, doch von den „Beweisen“, die ihm im Kontext der Blutanklage immer wieder untergeschoben wurden (nicht nur in Lemberg in jenem Sommer 1759), gibt es nicht die Ahnung einer Spur.
Hilfreiche Hinweise zur Disputation in Lemberg fanden wir bei Davidowicz (Der Messias aus dem Ghetto, „Die Disputation von Lemberg“, S. 208-227), ebenso in Majer Bałabans Studien und Quellen zur Geschichte der frankistischen Bewegung in Polen (1927). Als Schlüsselfigur für den ganzen Wust an Pseudoargumenten, die sich auf nicht existente Schriften stützen wollten, ist der berühmt-berüchtigte Jan Serafinowicz [Serafinowitsch] anzusehen, auf den sich in der Disputations-Szene die Patres Pikulski und Awedyk berufen. Zum Christentum konvertiert, trat Serafinowicz in mehreren Kontexten als „Kronzeuge“ für die angebliche Praxis des Ritualmords auf. 1716 verfasste er eine Schrift über den „Gebrauch des Christenblutes“ bei den Juden – diese Schrift galt als hieb- und stichfester Beweis für die Richtigkeit der Angaben und wurde entsprechend zitiert. Serafinowicz bezichtigte sich auch selbst, vor seiner Konversion an solchen Morden teilgenommen zu haben. Bałaban beschreibt ihn als labilen Charakter, der unter einer schweren psychischen Erkrankung gelitten habe.
Zu einer wahren Fundgrube wurde uns schließlich Die Blutanklage und sonstige mittelalterliche Beschuldigungen der Juden. Eine historische Untersuchung nach den Quellen von Dr. D.[aniil Abraamowitsch] Chwolson (Frankfurt am Main 1901). In dem Abschnitt „Die falschen und thörichten Angaben des Serafinowitsch …“ (S. 288ff) führt Chwolson minutiös all die erfundenen „Quellen“ an, auf die sich u.a. Pikulski in seinem Werk Złość żydowska [Judenbosheit] berufen hat; des weiteren sind die „Autoritäten“ verzeichnet, die all die haltlosen Argumente lieferten, die hier aus dem „geheimen Buch Rambam“, dort aus dem nicht existenten Talmud-Traktat „Siwche-Lew“ oder aus den geheimnisvollen Schriften des besagten Phantoms „Rawasche“ ihre vermeintliche Überzeugungskraft beziehen sollten. Auch die Form der „Quellenangaben“ entlarvt Chwolson als Beweis für die Haltlosigkeit der angeblichen Beweisführungen: Talmudtraktate werden nicht mit Ziffern angegeben, und schon gar nicht mit dem Paragraphen-Kürze; als Kürzel dienen Worte – die Anfänge des jeweils ersten Satzes.
Mit der Disputation in Lemberg hatten sich die Contratalmudisten auf ein höchst gefährliches Terrain begeben. Den Talmud zu kritisieren, war das Eine, aber den Kirchenoberen – in der Rolle des „sachkundigen“ Kronzeugen – „Beweise“ zu liefern für die angebliche Praxis des Ritualmords, war eine Intrige mit verheerenden Konsequenzen. Es darf nicht verwundern, wenn Jakob Frank von jenem Sommer 1759 an für viele Rabbiner als Teufel dastand.
Durch Edom – das Christentum – sollte der Weg der Erlösung führen. Esau galt in dieser Konzeption als wichtige Identifikationsfigur: der rohe, ungeschlachte der beiden Brüder, den es schon im Mutterleib zu den Götzentempeln zog, und der in vielerlei Deutungen sowohl als Sinnbild der „Anderen“, der Nichtjuden erscheint als auch als Verkörperung der dunklen Seiten des eigenen Selbst. Und wahre Erlösung, so heißt es, werde erst möglich, wenn Esaus Tränen versiegen – als dessen Verursacher der „reine“ der beiden Brüder gilt: Jakob.
Oben wurde bereits auf Heinrich Heines Gedicht »An Edom« verwiesen – im Kontext der Lemberger Disputation bringt es sich abermals in Erinnerung:
An Edom!
Ein Jahrtausend schon und länger,
Dulden wir uns brüderlich;
Du, du duldest, daß ich atme,
Daß du rasest, dulde ich.
Manchmal nur, in dunklen Zeiten,
Ward dir wunderlich zu Mut,
Und die liebefrommen Tätzchen
Färbtest du mit meinem Blut.
Jetzt wird unsre Freundschaft fester,
Und noch täglich nimmt sie zu;
Denn ich selbst begann zu rasen,
Und ich werde fast wie Du!
Als Chmielowski schließlich die Disputation in einem Brief zusammenfasst, wiederholt er die manipulative Argumentation der Intrige, in der festen Überzeugung, von Gelehrten verfasste Bücher könnten schließlich nicht lügen. In Chmielowskis Blindheit gegenüber dem falschen Spiel der Contratalmudisten offenbart sich die Kehrseite der Aufklärung. Der Verfasser eines epochalen enzyklopädischen Werkes, der so unerschütterlich an die erhellenden Kräfte des menschlichen Geistes glaubt, reproduziert mit diesem Brief Inhalte des finstersten Aberglaubens.
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Fundstücke – Fährten
Der polyphone Charakter des Romans verführte uns auf Schritt und Tritt, allerlei Fäden zu folgen, die sich oft wie von selbst – unter der Hand sozusagen – knüpften. Von Wort zu Wort, von Text zu Text. – „Alles erinnert an etwas“ (Władysław Szlengel).
Das Kirschendilemma
Über Herscheles „Kirschendilemma“ (8. Kapitel) und die damit verbundene Fastenregel gelangten wir zum Traktat »Joma« – in deutscher Übersetzung und mit einem Kommentar versehen von Johannes Meinhold (1913). Mit einer leichten syntaktischen Anpassung ließ sich die entsprechende Passage zu den Mengen, die noch nicht als „Essen am Fasttag“ zählen, in die Romanpassage integrieren:
Wenn einer soviel isst wie eine große getrocknete Dattel, sie mit ihrem Kern, oder wenn einer etwa einen vollen Schluck trinkt, der ist straffällig. Alle Bissen werden bis zum Quantum etwa einer Dattel, alle Getränke bis zum Quantum etwa eines vollen Schluckes zusammengerechnet. Wenn einer aber bald isst, bald trinkt, so rechnet man das nicht zusammen.
Johannes Meinhold: »Joma. Der Versöhnungstag, Abschnitt ,Besondere Verbote und Bemerkungenʻ«.
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Das Schma vor dem Schlafengehen
Im Namen HaSchems, des G-ttes Israels:
Zu meiner Rechten Michael,
zu meiner Linken Gabriel,
vor mir Uriel,
hinter mir Rafael
und über meinem Haupte die Herrlichkeit G-ttes …
(Das Schma vor dem Schlafengehen,
Übersetzung von Rabbiner Dr. Michael Sachs,
überarbeitet von Chajm Guski, www.talmud.de)
Auf eine längere Reise schickte uns das Gebet Kriat schma al-hamita, das Chana am Ende des 17. Kapitels spricht, um geschützt zu sein vor den Dämonen der Dunkelheit – sie nutzen die Schwäche des Menschen, wenn die Seele sich im Schlaf vom Körper löst, um ihm Schaden zuzufügen. Die vier Engel – Michael, Gabriel, Uriel, Rafael – sollen ihn in seiner nächtlichen Ruhe beschützen. Auf dem Portal „Kabbalah4All.com“ konnten wir einiges Interessante zu dem Gebet erfahren, des Weiteren auf www.talmud.de. Außerdem stießen wir auf eine ebenso informative wie expressive Erläuterung auf Youtube:
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A herów oficerów łowić za harcaby ...
Zu Pferde ist Schlomo unterwegs, nur des Tags reitet er, entlang der Hauptwege. Seine Kleidung ist bescheiden und von unbestimmter Art, weder christlich mutet sie an noch jüdisch – ein schwarzer Rock aus holländischem Tuch, dazu eine Culotte und hohe Stiefel. Den Bart hat er rasiert, das Haupthaar jedoch lang gelassen, er trägt es zum harcopf geflochten.
(Olga Tokarczuk, »Die Jakobsbücher«)
Der harcopf – auch in den Formen: arcap, harcab, harcop, warcab – galt als typischer Bestandteil einer ,deutschenʻ Mode. In der Romanszene, die – den bereits getauften – Schlomo auf seiner Reise zeigt, fügt sich der harcopf, zusammen mit der Rasur und den Attributen der Kleidung, zum „Phänotyp“ westeuropäisch orientierter Assimilation. Um das Wort als Spiegel eines Kulturtransfers kenntlich zu machen, haben wir es in der polnischen Schreibweise belassen.
Wenige Jahrzehnte später – als Preußen eine der drei Teilungsmächte geworden ist –, färbt sich dieses Attribut mit emotionalen Konnotationen. Die bekannteste Stelle dürfte jene Passage im siebten Buch von Adam Mickiewiczs Pan Tadeusz sein. Dort steht es – in der Form harcab – für die verhasste Teilungsmacht Preußen, und ein Rückblick auf die preußische Niederlage bei Jena und Auerstedt spricht von der Genugtuung, mit der diese Nachricht von einem Kreis von Polen aufgenommen wurde:
Grabowski list przeczytał, krzyknął: „Jena! Jena!”
Zbito Prusaków na łeb, na szyję, wygrana!
[…]
Nuż landratom tłuc w karki, z hofratów drzeć schaby,
A herów oficerów łowić za harcaby!
Grabowski las den Brief – rief: ›Jena! Jena! Heil!
Die Preußen sind geschlagen! aufs Haupt geschlagen! Sieg!‹
[…]
Hei! Hofrathsrippen geschunden! Hei! Landrathsnacken gehackt!
Die Herren Offiziere bei den Zöpfen gepackt!
[Übersetzung: Siegfried Lippiner]
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Fleisch und / oder Geist
Gegen Ende des 25. Kapitels verweist Nachman in seinen Notizen auf eine Stelle aus dem Buch Hiob: „Ciałem swym Boga zobaczę. “ Es ist Vers 19, 26, der – wie wir dann entdeckten – in verschiedenen Übersetzungen unterschiedlich angeführt wird. Nachman notiert den Vers in verkürzter Form, er beschränkt sich auf die Pointe: „Ciałem swym Boga zobaczę.“/„Mit meinem Leib werde ich Gott sehen.“ In der Lutherbibel ist der Vers folgendermaßen übersetzt: „Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen.“ In der Fassung der (verbesserten) Elberfelder Bibel heißt es: „Und nachdem man meine Haut so zerschunden hat, werde ich doch aus meinem Fleisch Gott schauen.“
„Ohne mein Fleisch …“/„doch aus meinem Fleisch …“ – der Unterschied ist von fundamentaler Bedeutung, die beiden Übersetzungen stehen in offenem Widerspruch zueinander.
An diesem Vers zeigt sich exemplarisch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem jüdischen und dem christlichen Denken. Hier die Vorstellung, die den Menschen nicht in zwei hierarchisch gedachte Sphären spaltet, von denen die eine erhaben und die andere nieder sein soll. Dort die dogmatische Trennung, die mit allem Nachdruck betrieben wurde, um den Begriff der „Erbsünde“ zu erhärten, eine Vorstellung, die der jüdischen Theologie fremd ist.
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Traurige Begebnisse
Nur der Fremde versteht die Welt.
(Olga Tokarczuk, »Die Jakobsbücher«)
In dem Abschnitt „Von traurigen Begebnissen in Lublin“ (Kapitel 21) wird eine düstere Episode der Compagnie geschildert, die sich im Herbst 1759 zugetragen hat. Schon die Ankunft in der Stadt verheißt nichts Gutes. Einen Empfang mit Steinhagel und Verwünschungen bereiten die Lubliner Juden dem „Herrn“ und seinen Getreuen. Der Aufenthalt endet in Finsternis. Reb Mordke ist krank geworden, er zeigt die Symptome der Unglücklichen, die in Lemberg von der Seuche dahingerafft wurden. Jakob ist machtlos dagegen, die Unsterblichkeit, die er mit dem Übertritt zum Christentum in Aussicht gestellt hatte, erweist sich als Trug. Reb Mordke – Piotr, wie er nach der Taufe heißt – stirbt in Lublin und wird dort zu Grabe getragen. Der Roman zeichnet die Episode in Bildern der Verzweiflung: der Weg zum Friedhof, durch einen lichtlos stürmischen Herbsttag, die Compagnie in tiefer Trauer. Eben erst – im Sommer dieses Jahres – glaubten sie sich auf einer Höhe ihres Triumphes, nun sind sie auf den Grund der Dunkelheit gestürzt.
Der Literaturwissenschaftler Władysław Panas (1947–2005), ein Pionier der Bruno Schulz-Forschung im Hinblick auf die Subtexte kabbalistischen Denkens, zugleich einer der bedeutendsten Gedächtnisarchäologen für die Stadt Lublin, nahm diese Episode zum Ausgangspunkt für einen dramaturgisch brillant arrangierten Essay, der zwischen 1998 und 2001 entstand und zuerst in der Zeitschrift Na przykład [Zum Beispiel] veröffentlicht wurde: Daas: Magiczne miejsce [Daas: Der magische Ort]. Der Text wurde auch in den Band aufgenommen, der zu Panasʼ 70. Geburtstag erschien und vier seiner fundamentalen Essays sowie weitere Texte zu dem Lubliner Dichter Józef Czechowicz (1903–1939) versammelt: Magiczne miasto. Szkice i fragmenty lubelskie22 [Die magische Stadt. Lubliner Skizzen und Notizen], herausgegeben von Tomasz Pietrasiewicz, Ośrodek Brama Grodzka, Teatr NN, Lublin 2017].
Daas nimmt den Leser mit auf einen faszinierenden Weg: Der Essay beginnt mit der in geheimnisvoller Ausleuchtung dargebotenen Begräbnisstätte eines rätselhaften, in Lublin verstorbenen „Piotr“, von dessen Leben so gut wie nichts bekannt ist, um dann Schritt für Schritt die Hintergründe zu erhellen, bis schließlich das Panorama sich entfaltet, in dem die eigentliche Hauptfigur – Jakob Frank – ihre Konturen gewinnt. Panas dienten dieselben Arbeiten als Quellen, die auch Olga Tokarczuk nutzte: Kraushar wird zitiert, und selbstverständlich Bałaban, insbesondere sein Buch Die Judenstadt von Lublin (1919), das einige Details zu dieser Episode enthält.
Das Titelwort Daas („Erkenntnis“, „Empfangen“) verweist auf die Elfte Sefira (auch „Nicht-Sefira“ oder „Schein-Sefira“ genannt), die im Roman von einem bestimmten Moment an zum Dreh- und Angelpunkt der Frankʼschen Lehre wird (dort in der Schreibweise Daat). Im kabbalistischen Baum erscheint die Elfte Sefira im Zentrum zwischen den sechs ersten Sefirot. Sie steht für die Vereinigung und Versöhnung von weiblichem und männlichem Prinzip, wodurch die höchste Stufe der Erkenntnis erreicht werden soll. Deshalb nahm die Sexualität in der Lehre von Frank diesen prominenten Stellenwert ein; hier liegen die Gründe für die „unzüchtigen Rituale“ der Frankisten.
Unter der Regie von Adrian Panek entstand 2011 der Film Daas. Seine Handlung beginnt gut eineinhalb Jahrzehnte nach der Lubliner Episode – die Zeit der Internierung in Tschenstochau ist bereits vorüber, die Compagnie befindet sich in Brünn, sondiert die Möglichkeiten am Wiener Kaiserhof. Seinen Auftakt setzt der Film mit der „Anzeige“ des Jakub Goliński, einst ein Anhänger Franks, nun ein erbitterter Gegner, der seine Frau an die Compagnie verloren hat und aus Verzweiflung zum Denunzianten wird.
Auch im Roman nimmt diese Anzeige einigen Raum ein. Ein eigener Abschnitt in Kapitel 27 erzählt von der Entstehung der Denunziationsschrift, die etliche erfundene Vorwürfe enthält. Goliński, der sich das Schreiben diktieren lässt, weiß sehr wohl, was darin wahr und was fabuliert ist, doch hat ihn sein Schmerz zu fest im Griff. Die Vorstellung, wozu seine Frau sich nun „hergibt“, vernebelt ihm das Denken. Er wird zum willenlosen Medium der selbst ersonnenen Rache.
Der doppelte Jakob
In dem Romanabschnitt, der dieser „Anzeige“ vorausgeht, kommt es zu einem heftigen Streit, bei dem auch Goliński anwesend ist. Die Loyalität gegenüber Jakob hat sichtlich Risse bekommen, manche seiner Anhänger in Warschau fühlen sich betrogen. Stattliche Summen haben sie für die Sache gegeben, ihre Zeit, ihre Kraft geopfert, das Glück aber, das Jakob ihnen versprochen hat, lässt nach wie vor auf sich warten. Ja, mehr noch, wenn es stimmt, was ihnen zu Ohren kommt, dann führt der „Herr“ zur Zeit ein bequemes Leben in Brünn, verkehrt beim Kaiser in Wien – während sie das Gefühl haben, nach der Taufe zwischen allen Stühlen zu sitzen. Im Verlauf der Auseinandersetzung fallen die Worte: „Wer weiß denn, ob er es überhaupt noch ist … Die Leute sagen, es sei jetzt ein anderer Jakob.“
Hinter dieser Äußerung verbirgt sich eine komplexe Theorie, die zwar nach der Faktenlage schwerlich ernsthaft zu verteidigen wäre, doch umso lebhafter hielt sie sich als Legende: Die Annahme, dass es zwei Jakobs gegeben habe. Der eine, der „echte“, sei – nachdem er eine Weile bei den Türken gelebt habe – nach Polen zurückgekommen, habe dort seine Anhänger um sich geschart und sei mit der Compagnie von Schtetl zu Schtetl gezogen. Dann habe man ihn in Tschenstochau interniert – und dort sei er gestorben. Von nun an habe ein „anderer“ Jakob das Heft in die Hand genommen, sittsam opportunistisch, der sich bei der hohen Gesellschaft in Wien und Brünn hatte beliebt machen wollen und schließlich in Offenbach mit seinem Hofstaat einen kleinen Landesfürsten abgegeben habe. Die Geschichte folgt einem klassischen Muster: Sie möchte die lauteren Absichten, den ehrenwerten Aufruhr des Revolutionärs bewahren. Also stirbt der wahre Revolutionär – als Märtyrer der eigenen Sache – in Tschenstochau, und das Leben mit dem Hofstaat in Brünn, das Antichambrieren am Wiener Kaiserhof, die Jahre als „Polackenfürst“ in Offenbach werden einem anderen zugeschrieben – einem Verräter am Ideal.
Überzeugter Verfechter dieser Theorie war Fritz Heymann, dem auch Davidowicz einen eigenen Abschnitt gewidmet hat (Jakob Frank, der Messias aus dem Ghetto, S. 37–43). Heymann, eine heute leider weitgehend vergessene Persönlichkeit, hatte seine besonderen Gründe, diese Theorie (auch gegen die Evidenz der Fakten) zu verfechten. Deshalb wollen wir einen Augenblick bei ihm verweilen.
Geboren wurde Fritz Heymann 1897 (1898?) in einer jüdischen Kaufmannsfamilie, seine Jugend verbrachte er in Düsseldorf. Als Student durchlebte er eine Freikorpsepisode, begann dann, als Journalist für verschiedene Zeitungen zu schreiben. 1933 floh er ins Saargebiet, wo er an der Gründung der Exil-Zeitschrift Westland beteiligt war. Als mit dem Referendum von 1935 das Refugium des Saargebiets an NS-Deutschland fiel, floh er nach Amsterdam. Als die Wehrmacht Holland besetzte, hielt er sich im Untergrund verborgen. Wahrscheinlich 1942 wurde er zusammen mit seiner Mutter nach Theresienstadt deportiert und 1943 (?) in Auschwitz ermordet. Seine Mutter überlebte und wanderte nach dem Krieg nach Argentinien aus.
In seinem Buch Der Chevalier von Geldern. Eine Chronik vom Abenteuer der Juden, 1937 im Exilverlag Querido erschienen, plädiert er mit allem Nachdruck für einen neuen Blick auf die jüdische Geschichte. Unübersehbar ist dabei das Moment des Emanzipatorischen, das ihm auch zum Grundton seiner Deutung der „Abenteuer“ Jakob Franks wird. Die Geschichte der Juden, so schreibt er in den einleitenden Abschnitten, sei eine Geschichte der „Denker, Dichter, Dulder“. Die jüdischen Chroniken seien „Martyrologien, ihre Lieder Klagegesänge, ihr Wort“ gelte „einer anderen Welt“. Die Geschichte, die er nun schreiben wolle – die Geschichte der Versprengten, der Glücksritter und Abenteurer – widerspreche diesem Muster, in der Hoffnung, befreiende Energien mobilisieren zu können: „Der junge Jude, der in der politischen Geschichte seines Volkes echte Helden nicht findet, ist innerlich bereit, sich an jedem Manne, der die alte sture Ordnung sprengt, zu begeistern. An der Form seines Lebens, am kleinen Ruhm des Einzelnen, am Abenteuer schlechthin.“
So versammelt Heymann – quer durch die Jahrhunderte – Biographien „jüdischer Abenteurer“, die als Männer der Tat, als Freibeuter, Freiheitskämpfer (wie etwa Berek Joselewicz im Kościuszko-Aufstand) oder auch als Bare Knuckle-Boxer (wie Danny Mendoza) eine andere jüdische Geschichte verkörpert haben als jene der duldenden Denker, gegen die Heymann sich auflehnt. Zu diesen „Abenteurern“ zählt er auch Jakob Frank, und ein besonderes Anliegen ist es ihm, Frank gegen die Anwürfe von Heinrich Graetz zu verteidigen, der mit seiner Dämonisierung eben jenes Moment des „Abenteurers“ aus der jüdischen Geschichte hatte verbannen wollen. So war denn, nach Heymann, der „echte“ Jakob Frank, in einem „schmutzigen podolischen Nest geboren“, der Anführer einer „düsteren umstürzlerischen soldatischen Sekte“, der „mit seinen Scharen zur Taufe ging, Patenkind des Königs von Polen“ wurde und „in den Kasematten der Festung Czenstochau endete“. Der „andere“ hingegen, „Sohn des Jakob Moses Opotschner aus Dobruschka in Böhmen“, sei „heimlich in die Würden des Toten“ eingesetzt worden. Mit ihm also, und nicht mit dem „echten“ Frank, habe Casanova 1784 in Wien Kontakt gehabt. Schließlich erwarb der „falsche“ Frank das Schloss in Offenbach am Main, wo er, „bestaunt und begafft, noch vier Jahre lang residierte, ein halbsouveräner Standesherr, umgeben von Haiducken, Husaren, Pagen und Läufern“.
Heymann plante ein umfangreiches Buch über Jakob Frank, es sollte den Titel Santo Señor tragen und vor allem den Schwindel des „zweiten“, des arrivierten Frank rekonstruieren. 1939 korrespondierte er mit Gershom Scholem zu diesem Vorhaben. Dieser zeigte sich – verständlicherweise – zurückhaltend in Bezug auf die gewagte Theorie, gab vor allem zu bedenken, dass Heymanns Absicht, die Quellen zu verschleiern (was er bereits im Chevalier getan hatte, um es den „Abschreibern“ nicht allzu leicht zu machen), einer fruchtbaren Diskussion nicht unbedingt dienlich sei. Worauf Heymann antwortete: „Es ist nun, wie Sie sich gewiß denken, nicht so, als ob Papiere vorhanden wären, in denen die Unterschiebung des einen Frank durch den anderen urkundlich festgelegt sei. Ich habe vielmehr eine lange Kette von Fakten, die beweisen, daß der Frank von Lemberg und Czenstochau nicht der Mann von Brünn und Offenbach ist.“ Freunden gegenüber ließ er dann durchblicken, dass der „unfriedliche Scholem“ seinem Buch „im Wege“ stehe. 1940 überfiel die Wehrmacht Holland, und Fritz Heymann lebte von nun an unter schwierigsten Bedingungen im Untergrund. An eine konzentrierte schriftstellerische Arbeit war nicht mehr zu denken.
Von der Fragwürdigkeit der Theorie einmal abgesehen, und abgesehen auch von der Frage, wie hoch der Anteil des Literarischen in den anderen Lebensgeschichten im Chevalier von Geldern sein mag – die Lektüre dieses Buches lohnt in mehr als einer Hinsicht. Es ist das Werk eines Schriftstellers, der mit dem Anspruch des konstruktiven Unruhestifters auftrat. Sein Grundton ist der Zorn über das aufgezwungene Diaspora-Schicksal – in einer Welt, in der am Ende einer jahrhundertlangen Kette von Anfeindungen der von Deutschen begangene Zivilisationsbruch stand, dem auch der Autor dieses so unkonventionellen Buches zum Opfer fiel.
Der Chevalier von Geldern erlebte zwei Neuauflagen: eine im Jahr 1963 (Melzer Verlag), sie erhielt den Untertitel Eine Chronik der Abenteuer der Juden und wurde mit einem einleitenden Essay von Hermann Kesten versehen; die zweite 1985 (Athenäum Verlag), mit dem Untertitel Geschichten jüdischer Abenteurer und einem einleitenden Essay von Julius H. Schoeps.
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„Finale in Offenbach“
Aus dem Osten naht ein mystischer Gast.
(Gustav Trautenberger, Auszüge über Jakob Frank
aus der »Chronik der Landeshauptstadt Brünn«)
Meine Frage: Ist Ihre Stadt jenes Offenbach, in dem Jakob Frank
(der zum Christentum konvertierte jüdische Prediger und Mystiker)
seine letzten Jahre im 18. Jahrhundert verbrachte? Wenn ja,
sind da irgendwelche Hinweise zu seinem Aufenthalt geblieben?
(Korrespondenz mit dem Stadtarchiv in Offenbach,
Ben-Gurion Universität in Beʼer Sheva, Januar 2001)
Einen Höhepunkt unserer Übersetzungsarbeit stellte – im Februar 2019 – unser gemeinsamer Besuch im Offenbacher Haus der Stadtgeschichte23 dar (früher: Stadtarchiv).
Schon auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel Hansa fanden wir einen polnischen Akzent24, der uns einstimmte auf unsere Recherche. Erst recht hellhörig wurden wir, als wir das Hotel erreichten – an der Ecke Bernard-/Pirazzistraße. Angehörige der Familie Bernard, die hugenottischer Abstammung gewesen sind, treten im Roman auf, und Emil Pirazzi (1832–1898), Schriftsteller und Erforscher der Geschichte Offenbachs, hatte seinerzeit mehrere publizistische Beiträge zu Jakob Frank verfasst (für die Offenbacher und für die Frankfurter Zeitung), so etwa eine Folge von vier umfangreichen Feuilletons: »Jakob Frank, der Messias aus Podolien« (1895). Pirazzi nahm auch – als ab 1864 der alte Friedhof in Stadtnähe (heute Wilhelmsplatz) aufgelöst und eingeebnet wurde – den Schädel Jakob Franks in Verwahrung. Als Aleksander Kraushar 1894 im Zuge seiner Recherchen zu Frank Offenbach besuchte, fertigte er eine Aufnahme davon an.
Wir wussten von der Existenz der meisten Schriften, hatten sie vielfach in der Forschungsliteratur zitiert gefunden, hatten Auswertungen dazu gelesen – nun saßen wir im Lesesaal des Archivs, blickten durch die noch kahlen Zweige alter Bäume auf den Main, gleich um die Ecke stand das Schloss Isenburg, und auf dem Bibliothekswagen warteten die Bücher und Dokumente, die für uns herausgesucht worden waren. Es war – wir dachten es wohl im selben Moment – unser „Finale in Offenbach“.
Beeindruckend waren vor allem Aktenstücke, so etwa der „Auszug aus Acta, das Verhör der v. Frankischen Dienerschaft betrfd.“, angefertigt in „Fürst Ysenburgs Justiz Canzley, d. 23. September 1816“, sowie die im Archiv gesammelte Korrespondenz. Unverhofft sahen wir die Handschrift Aleksander Kraushars vor uns: Der Buchhändler, Verleger und Antiquar Louis Lamm hatte sich 1899 mit der Bitte an Kraushar gewandt, ihm für eine geplante Ausstellung einige Objekte zu leihen, die sich in seinem – Kraushars – Besitz befanden. Kraushar antwortete ihm entgegenkommend, gerne wolle er seine Frankiana für die Ausstellung zur Verfügung stellen: „eine Original Miniature der Eva v. Frank“, „zwei Stückchen Seidenstoff von den Kleidern der Eva v. Frank und deren Mutter Chana“, „ein Bündchen vom Zopf der Eva v. Frank“, „eine Krone vom Sarge des Jacob v. Frank (derselben Größe, wie in meinem Buche reproduziert25)“ .
Louis Lamm, 1871 im fränkischen Wittelshofen geboren, wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen auf, absolvierte eine Lehre bei einem Antiquar und führte ab 1905 ein großes und prosperierendes Antiquariat in Berlin, das sich auf Judaica spezialisierte. 1933 floh er nach Amsterdam, Anfang 1934 folgten ihm seine Frau und seine Tochter. Im selben Jahr verlegte er sein Antiquariat nach Amsterdam. Als die Deutschen Holland besetzten, wurde er ins Durchgangslager Westerbork verschleppt. 1943 wurde er von dort nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Pirazzis Beiträge zu Frank; ein umfangreicher Text von Gustav Trautenberger, verfasst für die „Chronik der Landeshauptstadt Brünn“; ein Beitrag, der 1800 im Journal des Luxus und der Moden erscheinen ist und in dem es vorrangig um die horrenden Schulen geht, die Eva Frank beständig weiter vermehrte; die Beiträge in der Gartenlaube, Stadtpläne von Offenbach aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert … Es war ein Lesen und Schauen vom Hundertsten ins Tausendste, bei dem wir zwischen Staunen und Schmunzeln einem labyrinthischen Weg folgten, der – wie nebenbei – Vokabelfunde26 lieferte, die wir für unsere Übersetzung nutzen konnten.
Das Geheimnis einer Lubliner Papierdüte
Das Vergnügen, in den Texten sich zu verlieren, war das eine. Daneben gab es zahlreiche Spuren, die wir gezielt verfolgten, so etwa Hinweise über die Offenbacher Zeit, für die wir möglichst viele Details zusammentragen wollten – zur Ankunft Franks in Offenbach, zum Alltag auf dem Schloss, zu den Umständen seines Todes, zur Beschreibung des Begräbniszuges. Außerdem suchten wir einen ganz bestimmten Text, auf den wir durch eine Notiz bei Davidowicz aufmerksam geworden waren (Der Messias aus dem Ghetto, S. 227). Es geht um den Brief, mit dem sich die Compagnie direkt an den König gewandt hatte, mit der ausdrücklichen Bitte um ein Stück Land. Diese Supplik fand sich durch Zufall … in Lublin. Ein Mitarbeiter einer Lubliner Zeitung publizierte sie, eine Übersetzung des Textes erschien im von Rabbiner Dr. Moritz Rahmer herausgegebenen Jüdischen Literaturblatt, veröffentlicht in zwei Teilen, am 7. und 11. Januar 1882. Beide Nummern sind in Offenbach vorhanden. Zum Fund des Original-Schriftstücks heißt es einleitend, dass ein Mitarbeiter einer Lubliner Zeitung „Obsteinkäufe“ gemacht habe und, „als er die bedruckte Papierdüte betrachtete, von dem historischen Inhalte derselben gefesselt wurde. Er löste das zusammengeklebte Blatt vorsichtig auseinander und war nicht wenig überrascht, ein gedrucktes Aktenstück vor sich zu haben, welches einen Brief enthielt, den Frank im vorigen Jahrh. an den König August III. von Polen gerichtet hatte.“
Im Roman verfasst Moliwda diese Supplik – in unserer Übersetzung orientieren wir uns, den Lubliner Fund in seiner Tragweite zu würdigen, an der deutschen Textfassung, die im Jüdischen Literaturblatt erschienen ist.
»Das schöne Fräulein von Franck«
In zahlreichen Zeitungsbeiträgen aus den 1950er und 1960er Jahren ist der eklatante Bruch zu spüren, der die Geschichte des Jakob Frank von der damaligen Gegenwart trennt. Waren es zu Zeiten von Heinrich Graetz die Vorbehalte gegenüber dem „Ostjudentum“, gegenüber der Kultur des Schtetls und seiner vermeintlichem Rückständigkeit, die einer sachlichen Auseinandersetzung im Wege standen, so ist es jetzt, nach 1945, der Mnemozid, der die Überlieferung der ohnehin stets marginalisierten jüdischen Kulturgeschichte Europas umso tiefer in die Peripherien drängt. Erschwerend kam die Sprachbarriere hinzu. Selbst wenn ein deutscher Historiker ernsthafte Absichten verfolgt hätte in der Rekonstruktion der Geschichte der Frankisten – ohne Kenntnisse des Polnischen blieben ihm die polnischen Arbeiten, allen voran Kraushars Standardwerk, verschlossen, und allein auf der Grundlage der deutschsprachigen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wären nur lückenhafte Kenntnisse zu gewinnen. Gewiss – es gab die deutschsprachigen Arbeiten Majer Bałabans, doch wer hätte 1955 oder 1960 die Schriften dieses Gelehrten konsultiert? Auch in Paul Arnsbergs Studie Von Podolien nach Offenbach. Die jüdische Heilsarmee des Jakob Frank (Offenbacher Geschichtsblätter Nr. 14, 1965) wird Bałaban nicht erwähnt. Dabei darf diese Arbeit – gemessen am Grad des Nebulösen, mit dem in diesen Jahren die Person Franks noch umgeben war – schon als Durchbruch gelten.
„Der Spuk hinter der Rosenhöhe“ war etwa ein Artikel in der Offenbach-Post überschrieben (1952): „Die Polenherrlichkeit ist seit über 130 Jahren verschwunden, Franks Schädel im Heimatmuseum ist bei dem letzten Krieg verbrannt, aber das Waldstück hinter der Rosenhöhe heißt man noch heute zu seinem Andenken den Polackengarten.“ Und in einem Beitrag von 1960 (in derselben Zeitung) steht zu lesen: „Welcher Art die Lehre des Sektierers Frank war, ist heute nicht mehr bekannt, doch läßt die ganze Szenerie vermuten, daß es sich um eine Art Geheimbund gehandelt haben muß, mit religiösem Charakter.“
Ganz den Bedürfnissen von exotischer Ausleuchtung entsprach auch die erneute Veröffentlichung eines Unterhaltungsromans von Paul Lippert, der ab Mitte Mai 1964 – in Fortsetzungen – in der Offenbach-Post erschien: Das schöne Fräulein von Franck.27In der Ankündigung heißt es: „Der 1870 erschienene Roman behandelt ein historisches Kapitel, dessen letzte Schleier wohl nie mehr gelüftet werden können. Die Zeit der Franckisten, der polnischen Kolonie um den geheimnisvollen Jacob von Franck, der aus dem Nirgendwo auftauchte, im Offenbacher Schloß pompösen Hof hielt und hier starb und begraben wurde, ohne je seine wahre Identität enthüllt zu haben.“ An der Verschleierung der „wahren Identität“ wirkt dann auch diese Ankündigung nach Kräften mit – kein Wort von einem Bezug zum Judentum. Der „geheimnisvolle Jacob von Franck“ kommt „aus dem Nirgendwo.“
„Als Page bei Eva Frank“ – ein Blick nach Prag
So darf das Fräulein wohl als Offenbachs erfolgreichste Kreditbetrügerin angesehen werden
– und gleichzeitig als großzügigste Wohltäterin in den Hungerjahren der Napoleonischen Kriege.
(Christina Uslular-Thiele, in: »frauen prägen offenbach –
auf spurensuche durch drei jahrhunderte«)
Die Sehnsucht nach dem heiligen Lager in Offenbach bemächtigte sich meiner so,
daß ich weder Ruh noch einen anderen Gedanken hatte, als die Reise nach dort.
(Moses Porges von Portheim: »Eine Wallfahrt nach Offenbach«)
Eine eigene Geschichte – die wir erst nach unserer Rückkehr genauer in Augenschein nehmen konnten, als wir die mehrere Hundert Seiten Kopien durcharbeiteten, die wir aus Offenbach mitgebracht hatten – stellen die Erinnerungen des Moses Porges dar. Sie betreffen die Offenbacher Zeit nach dem Tode Jakob Franks, als Eva bereits seit einigen Jahren die Führung des dortigen Hofes übernommen hatte (im Roman in Kapitel 30: »Der Heilige Weg nach Offenbach«).
Moses Porges wurde in einer Familie des Prager Judentums geboren, kam über seinen Vater mit der Kabbala in Berührung, insbesondere mit dem Buch Sohar, und erfuhr von den Lehren des Frankismus. Als 1798 die Rekrutierung anstand, gab dies den Anlass, die Flucht Richtung Offenbach anzutreten, in jene Stadt, von der er sich – der Frankisten wegen – geradezu magisch angezogen fühlte.
Seine Erinnerungen entstanden aus einer späten Rückschau, um 1866/67, wenige Jahre vor seinem Tod, und sie sind umso bedeutsamer, als sie – wie Martina Niedhammer schreibt – „das einzige uns bekannte Selbstzeugnis eines ehemaligen Frankisten darstellen, das sich aus einer autobiographischen Retrospektive mit der Sekte auseinandersetzt (Niedhammer: Nur eine »Geld-Emancipation«? Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800– 1867, darin das Kapitel „»Eine Wallfahrt nach Offenbach« – die frankistischen Memoiren des Moses Porges von Portheim“, S. 129–142).
Das Interesse von Seiten Prager Juden an den Frankisten, so Niedhammer, entstand erst nach Franks Tod: „In Prag gewann die Sekte insbesondere zwischen 1793 und 1801 an Einfluss, als einige angesehene Gemeindemitglieder, darunter die Familien Wehle, Bondi und Porges, begannen, den damals in Offenbach am Main logierenden Frankistenhof zu unterstützen.“
Das Originalmanuskript von Porges ist nicht überliefert, der Text liegt nur in Handschriften von Angehörigen der Familie vor. In Offenbach standen uns drei Veröffentlichungen zur Verfügung: Eine erste Fassung des Berichts erschien auf Veranlassung von Rabbiner Dr. L. Stein im Vereinsbuch der Achawa von 1868, dort noch anonym, ausgewiesen als „mündliche Mittheilung eines noch lebenden, hochachtbaren Mannes“, dessen Name, „wenn es zur Aufklärung der Sache nöthig sein sollte, seiner Zeit auch genannt werden“ könne. Ferner fanden wir einen Abdruck in den Blättern des Offenbacher Geschichtsvereins vom Oktober 1931, der mit einer kleinen Editionsgeschichte versehen ist, aus der hervorgeht, dass der Bericht in einer jiddischen Übersetzung in Warschau erschien, in der Historischen Sektion des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts. Der Abdruck in den Blättern des Offenbacher Geschichtsvereins wird denn auch als Rückübersetzung aus dem Jiddischen ausgewiesen, was zugleich die sprachlichen Differenzen zwischen diesem Text und einer dritten Veröffentlichung des Berichts erklären dürfte: im Frankfurter Israelitischen Gemeindeblatt (1932).
Auch wenn die Umstände jeweils andere waren und ein Vergleich entsprechend nur mit großer Vorsicht anzustellen ist – bei der Lektüre des Berichts von Moses Porges fühlt man sich stellenweise an einen anderen Prager erinnert, der in fast demselben Alter aufgebrochen war, um sich, getrieben von einer metaphysischen Sehnsucht, einer Gemeinschaft anzuschließen, in der er sich Erlösung erhoffte: Jiři Mordechai Langer (1894–1943). Als 19jähriger verließ er heimlich sein bürgerliches Prager Elternhaus und begab sich nach Belz, ins Zentrum des Chassidismus, um dann, nach einiger Zeit – zum Entsetzen seiner assimilierten Eltern – als „Frommer“ zurückzukehren, im Kaftan und mit Schläfenlocken.
Die Unterschiede liegen auf der Hand. Dass der Weg der Erlösung durch die Taufe führe, war ein unerhörter, häretischer Zug der Frankʼschen Lehre, während der Chassidismus, wie kritisch ihn seine jüdischen Gegner auch sehen mochten, auf dem Boden der jüdischen Traditionen stand. Und dennoch lässt sich in beiden Geschichten ein gemeinsamer Zug erkennen. Zwei junge Männer brechen aus ihrem gewohnten Alltag aus, um sich auf eine spirituelle Suche zu begeben. Nach einer anfänglichen Phase des Überschwangs beginnt bei beiden ein Prozess der Reflexion, und auch hier ist wiederum eine Differenzierung nötig. Bei Porges herrschte bald der Eindruck eines Schwindels vor, was ihn dazu bewog, Offenbach wieder zu verlassen. Langer verarbeitete seine Erlebnisse in Belz in einem der schönsten Bücher, das über den Chassidismus geschrieben wurde: Neun Tore. Geheimnisse der Chassidim (2013, Neuübersetzung). Die Erfahrungen Langers erwiesen sich ohne Frage als „belastbarer“ im Sinne einer Tragfähigkeit der Ideen. Porges erlebte eine herbe Ernüchterung. Je mehr Einblicke er in den Offenbacher Hofstaat gewann, desto fragwürdiger erschien ihm das Treiben, desto suspekter wurde ihm der Kult um Jakob Frank. Dennoch ist hier wie dort ein universaler Zug zu erkennen – das Bedürfnis, aus Konventionen auszubrechen, das sich am Übergang von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter bemerkbar macht, verbunden mit der Suche nach einem anderen, tieferen Sinn, verbunden mit der Sehnsucht nach metaphysischer Offenbarung. Und dass die Grenzen zwischen Spiritualität und Scharlatanerie fließend sind, wird man schwerlich den 18- oder 19jährigen ankreiden wollen. Die Frage der Redlichkeit betrifft diejenigen, die solchen Enthusiasmus im humanistischen Sinne fördern bzw. ihn für egoistische Zwecke missbrauchen.
Abschied von Offenbach nahmen wir mit den Sätzen von Porges, dem Bild des Isenburger Schlosses, auf dessen Galerien wir die Schatten der Romanfiguren ahnten.
Das Bild des Schlosses im diffusen Licht einer zögernden Februarsonne fächerte sich noch einmal auf, als wir auf der Rückfahrt im Zug die Fotos in dem Buch Perle der Renaissance (2005) betrachteten. Auf S. 47 ist die Wendeltreppe in einem der Türme zu sehen. Jeden Augenblick müsste Nachman erscheinen, ein schmächtiger Greis, der Stufe um Stufe überwindet, in mühsamer Behutsamkeit, um dann mit überraschend flinken Trippelschritten durch den Korridor zu eilen …
*
Hundert Jahre vor Kafka schrieb in Prag Jonas Wehle (durchs Medium seines Schwiegersohns Löw von Hönigsberg) seine nie gedruckten und von seinen frankistischen Schülern dann vorsichtig wieder eingesammelten Briefe und Schriften. Er schrieb für die letzten Adepten einer ins Häretische umgeschlagenen Kabbala, eines nihilistischen Messianismus, der die Sprache der Aufklärung zu sprechen suchte. Er ist der erste, der sich die Frage vorgelegt (und bejaht) hat, ob das Paradies mit der Vertreibung des Menschen nicht mehr verloren hat als der Mensch selber.
(Gershom Scholem, »Zehn unhistorische Sätze über Kabbala«, Zehnter Satz)
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Offenbach Archival Depot
If anything excells the brutality
with which Jews were treated during the past ages,
it is the brutality with which their literature was tracked down,
condemned, burned, destroyed.
(Cecil Roth, »The Jewish Love of Books«)
Majer Bałaban – ums Leben gekommen im Warschauer Ghetto; Fritz Heymann – ermordet in Auschwitz; Louis Lamm – ermordet in Auschwitz.
Hunderttausende von Büchern und Dokumenten, die während der deutschen Besatzung in Polen verbrannten – in Bibliotheken, in den Büchersammlungen der jüdischen Gemeinden. Hunderttausende von Büchern, die der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ in ganz Europa raubte und nach Deutschland brachte – als Material für antisemitische „Forschungs“-Institute und antisemitische Museen.
Das jiddische Verlagswesen in Warschau – nahezu vollständig ausgelöscht. Das jiddische Theater, das jiddische Kino – nahezu vollständig vernichtet. Mit den Lebenswegen der Überlebenden zersplitterte sich das erhalten gebliebene Gedächtnis und geriet damit noch einmal zusätzlich in eine Stellung der Peripherie. So wurde etwa das größte verlegerische Unterfangen der jiddischen Literatur – deren Hauptstadt bis 1939 Warschau gewesen war –, nach 1945 in Buenos Aires realisiert: mit der Buchreihe Dos pojlische Jidntum, in der bis Mitte der 1960er Jahre mehr als 160 Bände erschienen.
Das Einzige, was den verheerenden Folgen des Mnemozid entgegenwirken und verhindern kann, dass die weißen Flecken der Leere noch weiter um sich greifen, ist Gedächtnis. Gedächtnis wiederum ist nur möglich auf der Grundlage von Überlieferung, mit anderen Worten: auf der Grundlage von Texten. Eben davon handeln die abschließenden Szenen der Jakobsbücher: von der Gewalt der Verwüstung und der Kraft der Erinnerung – einer Erinnerung, in die sich Olga Tokarczuks Roman selbst einschreibt als Akt des Eingedenkens, als Akt der Rettung.
Von hier aus schlägt sich abermals ein Bogen nach Offenbach. Dort wurde Anfang 1946 das Offenbach Archival Depot eingerichtet, jener von der amerikanischen Militärregierung geschaffene Collecting Point, der nicht für geraubte Kunstwerke gedacht war, sondern Büchern und Ritualgegenständen vorbehalten blieb.
In ihrer Arbeit »Das Leichenhaus der Bücher«: Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 194528 widmet Elisabeth Gallas dem Offenbach Archival Depot ausführliche Abschnitte, insbesondere Kapitel 2 beschäftigt sich detailliert mit dem Depot (S. 27–76). „Millionen von Büchern, Manuskripten, Inkunabeln, Thorarollen, Ritualgegenständen und Dokumenten“ türmten sich „auf vier Etagen eines ehemaligen Industriekomplexes der I. G. Farben am Mainufer“ (»Das Leichenhaus der Bücher«, S. 27). All diese Kulturgüter – von nationalsozialistischen Einheiten (wie dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg) zwischen 1933 und 1945 geraubt und konfisziert – waren nach Offenbach gebracht worden mit dem Ziel, sie dort zu identifizieren und in einem nächsten Schritt ihren Eigentümern zurückzugeben“ (»Das Leichenhaus der Bücher«, S. 27).
Rabbiner Severin Rochmann beschreibt, welche Gefühle die Sammlung dieser Bücher und Schriften in ihm ausgelöst hat, die als gerettetes Gedächtnis jüdischer Kultur zugleich Zeugnis ablegten vom Grauen der Verbrechen:
Alles, was das Archival Depot an Büchern und anderen Schätzen birgt, es ist eines der traurigsten Zeugnisse des Kampfes der Nazis gegen das Judentum […]. Viele [Bücher] werden nie in die Hände derer zurückgelangen, die sie einmal gehütet haben. Sie wurden durch den Vernichtungskampf des Naziregimes aus dem Buche des Lebens getilgt. Aber diese Bücher und Gegenstände werden immer eine Mahnung sein, die kostbaren Reliquien – an die zu denken, deren Eigentum sie gewesen sind.
(»Das Leichenhaus der Bücher«, S. 27/28)
Die Historikerin Lucy Dawidowicz hielt sich damals in Deutschland auf, sie wollte mitwirken beim Aufbau einer Infrastruktur, mit denen den Menschen in den DP-Lagern geholfen werden konnte. In ihren Erinnerungen From that Place and Time, A Memoir 1938–1947 beschreibt sie ganz ähnliche Empfindungen (die Formulierung, die dem Buch von Elisabeth Gallas den Titel gab, stammt von ihr). Als anlässlich des ersten Jahres der Tätigkeit des Depots eine Festschrift erscheint, ist sie zutiefst irritiert von der Haltung der deutschen Angestellten, die darin zum Ausdruck kommt. Diese Tätigkeit scheint für sie nichts anderes zu sein als eine Arbeit in einer x-beliebigen Behörde. Andere Berichte überliefern zudem, dass etliche der deutschen Angestellten durchaus auch ihre Vorbehalte hatten, was die „Rechtmäßigkeit“ der Restitutionen betraf. Insgesamt galten sie als „definitiv unzuverlässig“.
Lucy Dawidowicz schreibt:
The Depot […] is the last place in the world, where I can forget the crimes that Germans committed against the Jews. When I worked, holding the orphaned books in my hands, I often thought that it was easier to be with amkho, with living people, than with these inanimate remnants of the world the Germans had destroyed. […] They were the relicts of six millions murdered Jews. Such thoughts continued to haunt me at the Depot and never more insistently than at the Depot party [anlässlich des Ein-Jahres-Jubiläums].
(»Das Leichenhaus der Bücher«, S. 42)
Auch Gershom Scholem hielt sich damals zu Forschungszwecken in Deutschland auf und verfolgte die Arbeit des Depots. Seine Gedanken – die er in einem Brief an Leo Baeck formulierte – galten der Praxis der Rückgabe, die sich „traditionell“ nach den Herkunftsländern richtete. Dass eine Vielzahl dieser Bücher und Schriften nun in die Sowjetunion, in die Ukrainische Sowjetrepublik oder die Volksrepubliken Polen oder Rumänien gebracht werden sollten, erfüllte Scholem mit großer Sorge – über das weitere Schicksal dieser Bestände dürfe man sich „keine Illusionen machen“. Seine Forderung lautet: „Wir glauben, mit einem Wort, dass dorthin, wo die Juden hinwandern, auch ihre Bücher mitgehen sollten“ (»Das Leichenhaus der Bücher«, S. 61).
Nie zuvor hatte sich auch in dieser Form die Frage gestellt, was mit im Inland geraubtem Kulturgut geschehen solle: „Das internationale Völkerrecht kannte bis dahin keine Regularien für Fälle staatlich motivierter Ausraubung eigener Staatsbürger […]“ (»Das Leichenhaus der Bücher«, S. 63).
In einer unveröffentlichten Skizze schilderten Severin Rochmann und Peter Leinekugel die Geschichte des Depots – und sie taten dies nicht in einer nüchternen Sprache, die allein auf die Vermittlung der Fakten abzielte, sie schrieben ein Stück Literatur über das Schicksal der geraubten Bücher, die in ihrem Text lebendig werden. Sie erzählten von den „Strapazen“, die diese Bücher erlitten hatten. Manche trugen ein „festliches Gewand in Form eines guten Pergmentbandes oder schönen Lederbandes“, andere „ein schlichtes Arbeitskleid“. Nicht nur die Menschen, auch die Bücher wurden verfolgt, aus ihrem Leben – den Händen der Leserinnen und Leser – gerissen, „lieblos in einen Sack gesteckt oder auf ein Fahrzeug geschmissen“, ausgeliefert den Händen „jener, die [sie] nur mit Verachtung“ betrachteten. Nun aber, mit dem Archival Depot, sei dieses Leiden zu Ende, und die Bücher gelangten wieder „aus den Kellern und Verliesen“ ans Licht, und wenn sie auch so viele ihrer früheren Besitzer nicht mehr wiederfinden könnten, würden sie doch erneut ihrem Zweck zugeführt – „der Ergründung der Herrlichkeit Gottes, zur Erkenntnis des Weges, der zu ihm führt, zur Verkündigung dessen, was den Menschen zum Frieden dient“ (»Das Leichenhaus der Bücher«, S. 71).
Der letzte Wohnort Jakob Franks – der Ort der Sammlung jüdischer Bücher und Schriften, die der Vernichtung entgangen waren – der Ort, an dem wir Einblick gewinnen durften in einen Kosmos von Texten zu seiner Person … während der Bearbeitung der Materialien, die wir aus Offenbach mitgebracht hatten, flossen uns die Gedanken immer wieder zusammen. Unmöglich, Die Jakobsbücher von diesen Hintergründen zu trennen. Und eben weil die Folgen des Mnemozids bis heute auf Schritt und Tritt zu spüren sind, besitzt dieser Roman sein besonderes Gewicht – als epische Erzählung von einem Kapitel der europäischen Kulturgeschichte, das in den Schubladen der Nationalgeschichtsschreibung keinen Platz findet.
Fremd werden – um mit einem zentralen Gedanken des Romans zu schließen – dem eigenen Denken, den eingeübten Konventionen gegenüber. Fremd werden, um sich den allzu vertrauten Narrativen zu entziehen, dem Singsang der Affirmationen, die sich stets im selben Bannkreis stets derselben vermeintlichen Gewissheit drehen. Fremd werden – um verstehen zu können.
*
Die Literatur ist wohl die demokratischste Weise, Welterfahrung zu teilen …
Insbesondere glaube ich an den Roman und denke,
daß er Menschen die einzigartige Möglichkeit bietet, für eine bestimmte Zeit
zu anderen Personen zu werden.
(Olga Tokarczuk im Gespräch mit Bernhard Hartmann,
Sinn und Form, Juli/August 2017)
Jakobs Weg. Literarische Stationen
Jakobs Weg
Der Lebensweg des Jakob Lejbowicz beginnt 1726 im podolischen Korolówka [ukrainisch Королівка (Koroliwka)], seine Kindheit verlebt er in Czernowitz damals zum Fürstentum Moldau gehörenden [rumänisch Cernăuți; ukrainisch Чернівці (Tscherniwzi)], das heute in der Westukraine gelegen ist.
In Smyrna – dem heutigen Izmir – vereinen sich die Wege Jakob Lejbowiczs und seines treuesten Begleiters Nachman. Der Rabbi aus Busk [ukrainisch Буськ], schließt sich einer Handelskarawane an, um die „geschäftlichen Angelegenheiten mit der Suche nach der Wahrheit zu verbinden“. Sein Weg führt über Lemberg, Czernowitz, Jassy [rumänisch Iași], Bukarest, Nikopol [bulgarisch никопол], Krajowa [rumänisch Craiova], Stambul [Istanbul] nach Smyrna [Izmir]. Anschließend reist Nachman nach Rohatyn [ukrainisch Рогатин], um der Familie Elischa Schors die Nachricht zu überbringen, dass Jakob Lejbowicz – nach Sabbatai Zwi und Baruchja – der „Dritte“ sei, der die Seele des Messias in sich trage.
Doch zurück nach Smyrna: Hier begegnet Nachman auch dem polnischen Schlachtschitzen Antoni Kossakowski, genannt Moliwda. Er wird Jakob und seine Anhänger einige Wegstücke lang begleiten, spielt er, der Hebräisch, Jiddisch und auch Türkisch leidlich beherrscht, doch als Dolmetscher eine wichtige Rolle. Die Wege Moliwdas und Jakobs kreuzen sich in Craiova im heutigen Rumänien, wo Moliwda zwei Jahre bei den Bogomilen verbracht hat. Den Berg Athos, der eine Lebensstation Moliwdas, nicht jedoch Jakobs darstellt, haben wir mit in Jakobs Weg aufgenommen.
Eine Reise über sieben Grenzen ... Der Weg Jakobs schlängelt sich durch die Rzeczpospolita Obojga Narodów – die Republik Beider Nationen: Polen-Litauen –, durch das Osmanische Reich, das Habsburgerreich, Preußen, das Königreich Böhmen, Mähren sowie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Heute sind diese Gebiete in Nationalstaaten aufgeteilt: Polen, die Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, die Türkei, Tschechien, Österreich, Deutschland. ... durch fünf Sprachen ... Im damaligen Mitteleuropa herrschte ein buntes Nebeneinander der Sprachen: So lernt Jakob Frank erst bei seiner Internierung in Tschenstochau überhaupt Polnisch; am Anfang seines Lebens spricht er Türkisch, Ladino – die romanische Sprache der sephardischen Juden – und Hebräisch. Nachman wiederum beherrscht das Jiddisch, Polnisch, Hebräisch; Moliwda ist gewandt in einer Vielzahl von Sprachen: Polnisch, Russisch, Jiddisch, Hebräisch, Türkisch und Griechisch. ... und drei große Religionen – Judentum, Islam, Christentum. Jakobs Wechsel von der Rzeczpospolita ins Osmanische Reich geht mit seinem Übertritt vom Judentum zum Islam einher; zurück in der Rzeczpospolita nehmen Frank und seine Anhänger 1759-1760 das Christentum an und lassen sich taufen.
In Smyrna, wo Jakob und Nachman im Bet Midrasch Isochars Lehren hören und sich als Dolmetscher betätigen – Nachman verwendet hier das türkische Wort dragoman –, begegnen Nachman und Reb Mordke bereits Moliwda, doch sollen ihre Wege sich erst später wieder kreuzen. Die von Nachman und Reb Mordke eingefädelte Hochzeit Jakobs mit Chana, der Tochter des großen Gelehrten Jehuda Towa ha-Lewis, findet in Nikopol – im heutigen Bulgarien – statt. In Craiova dann – im heutigen Rumänien – kreuzen sich Moliwdas und Jakobs Wege. Nachman und Jakob finden in Saloniki wieder zusammen; Nachman folgt den Munkeleien über einen „heiligen Mann“. Eine ganze „Compagnie“ hat sich Jakob angeschlossen:
Arme Schlucker und Haderlumpen, die es nirgends hielt. Kranke und Sieche, getrieben von der Hoffnung auf ein kleines Wunder; mehr als nach dem Wunder aber gierten sie nach Aufruhr und Tumult. Grüne Bengel, von zu Hause ausgerissen, um der harten Hand des Vaters zu entrinnen, durch eigene Unbesonnenheit verarmte Kaufleute, die voll Bitterkeit und Zorn nun nach Genugtuung lechzten, Wirrköpfe aller Arten, Tagediebe, die der häuslichen Pflichten überdrüssig waren und ihre Familien im Stich gelassen hatten. Außerdem bettelnde oder liederliche Weiber, die für sich einen Vorteil witterten in solcher Menschenmasse, oder verstoßene Witwen, ihre Bälger auf dem Arm. Aber auch christliche Galgenstricke, Tunichtgute, Taugenichtse ohne jedes Tagwerk.
Weiter zieht die „Compagnie“ nach Polen – auf Hebräisch: Polin („Hier bleibe zur Nacht“), mehr und mehr Anhänger schließen sich Jakob an: in Busk, Lemberg, Jezierzany. Hier begegnet Jakob seinen „Wächterinnen“, eine davon ist die Lembergerin Gitla, deren Lebensweg schließlich nach Wien führen und dort am selben Tag enden wird wie Jakobs Leben in Offenbach. Indessen wenden sich die orthodoxen polnischen Juden gegen die Contratalmudisten, wie Jakobs Anhänger nun genannt werden, und belegen sie mit einem Bann, worauf diese einen Schutzbrief des Bischofs Dembowski erwirken und bei einer Ersten Disputation in Kamieniec-Podolski [ukrainisch Kamjanez-Podilskyj (Кам'янець-Подільський)] den Talmud als lügenhaft darzustellen versuchen. Jakob hält sich aufgrund der Verbannung in Giurgiu und Stambul im Osmanischen Reich auf, dort konvertiert er zum Islam. Dank eines Schutzbriefs des Königs kann er 1758 wieder in die polnisch-litauische Rzeczpospolita einreisen, und die Contratalmudisten lassen sich in Iwanie [ukrainisch heute entweder Ivane-Zolote (Іване-Золоте) oder Ivane-Puste (Іване-Пусте)] nieder. Bei der Zweiten Disputation in Lemberg 1759 bringen die Contratalmudisten ihre sogenannte 7. These vor: dass die orthodoxen Juden Christenblut für die Herstellung von Matze benötigten. In den Jahren 1759-1760 lassen sich dann zahlreiche Anhänger Jakobs taufen und konvertieren zum Christentum – dadurch erlangen sie die Familiennamen ihrer oftmals hochrangigen Taufpat*innen und manches Mal auch den Adelsstand. Als der polnischen katholischen Kirche der Sektencharakter der contratalmudistischen Bewegung zu Bewusstsein kommt, wird Jakob 1760 im Kloster auf dem Klarenberg in Tschenstochau [Częstochowa] interniert, wo er bis zur ersten Teilung Polens im Jahr 1773 bleibt.
Nach seiner Befreiung begibt er sich mit seiner Tochter Ewa nach Brünn [tschechisch Brno] zu Verwandten, den Dobruškas, und lässt sich bald mit einem regelrechten Hofstaat in der Stadt nieder. Auch in Wien verkehren Jakob und Ewa häufig; Ewa unterhält angeblich sogar eine hoffnungsvolle Liebschaft mit dem Kaiser. Als dessen Gunst endet, sind sie aufgrund der übermäßigen Verschuldung 1786 gezwungen, Brünn zu verlassen, und finden Unterkunft auf Schloss Isenburg in Offenbach am Main, wo sich zeitweise ein Hofstaat von bis zu tausend Frankisten versammelt.
Die Wege Jakobs, Nachmans und Moliwdas
Korolówka
Das Dorf heißt Korolówka. Von oben sieht es aus wie ein dreizackiger Stern. Hier ist Jakob geboren, ja, dort, im hintersten Winkel des Ortes, in einem Haus, in dem heute noch seines Vaters Bruder lebt, Jaakiew. Jehuda Lejb Buchbinder ist mitsamt seiner Familie von Czernowitz gekommen, zur Bar Mizwa des jüngsten Sohnes seines Bruders, um bei der Gelegenheit die Familie wiederzusehen; nicht lange sind sie hier, in wenigen Tagen wollen sie zurück nach Czernowitz, wohin sie vor einigen Jahren gezogen sind. In Korolówka sind sie im alten Elternhaus untergebracht, eng ist es dort, kaum finden alle Platz. Das Haus steht nahe beim Friedhof, nun denken alle, dorthin sei Jankiele gerannt und verstecke sich hinter den Mazewot.
Czernowitz
Von Krakau ging es nach Lemberg, von Lemberg über Czernowitz nach Süden, und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto wärmer wurde es, desto weniger Schnee lag auf dem Land, und immer milder, immer duftender wurde die Luft – so erzählte es später Jentas Vater. An den Abenden sannen sie darüber nach, wie es ist, wenn der Messias kommt. Sie gelangten zu dem Schluss, dass das Unglück der vergangenen Jahre im Grunde gut gewesen war, es hatte seinen Sinn besessen, die Ankunft des Erlösers angekündigt – so wie auch die Geburt eines neuen Menschen durch Schmerzen angekündigt wird. Wenn die Welt den Messias gebiert, muss sie leiden, alle Gesetze verlieren ihre Gültigkeit, nichtig wird alles, was Menschen je an Verträgen geschlossen haben, Versprechen und Schwüre werden Schall und Rauch. Der Bruder stürzt sich auf den Bruder, der Nachbar hasst den Nachbarn, Menschen, die Tür an Tür gelebt haben, schlitzen einander zur Nacht die Kehlen auf und trinken des anderen Blut.
Bukarest
„Ich sage dir nur, dass nach allem, was ich sehe, die Juden die einzigen sind, mit denen überhaupt etwas anzufangen ist, denn die Herren Schlachtschitzen verstehen sich auf nichts und haben auch nicht den geringsten Ehrgeiz, irgendwelche Kenntnis zu erwerben, das einzige, womit sie sich befassen, ist ihr schnödes Vergnügen. Aber deine jüdischen Häretiker wollen auch noch Land!“
„In der Türkei siedeln sie sich schon an. In Giurgiu, in Widin, in Rustschuk, halb Bukarest und Saloniki. Sie erwerben sich ihren Boden und leben in Frieden …“
„Wenn sie zum Islam übertreten … Ist das denn wirklich wahr?“
„Sie sind doch bereit, sich taufen zu lassen!“
Der Berg Athos
Plötzlich reißt das Rauschen des Meeres ihn aus dem Schlaf – bedrohlich klingt es ihm nun, dabei begleitet es ihn doch Tag und Nacht. Kossakowski fährt auf, sieht sich um. Hoch am Himmel gleißt die Sonne, alles scheidet sie in hell und dunkel, Licht und Schatten. Die Welt steht still, von fern sieht er reglos erstarrte Meereswellen, darüber hängt eine einzelne Möwe wie angeheftet am Himmel. Das Herz schlägt ihm bis zum Halse, er stützt sich ab, um aufzustehen, da zerfällt das Gras unter seiner Hand zu Staub. Die Luft wird ihm knapp, der Horizont rückt gefährlich nahe, seine sanfte Linie zieht zu einer Schlinge sich zusammen. Da begreift Antoni Kossakowski: Das klagende Rauschen des Meeres ist ein Lamento, die Natur betrauert jene Götter, die der Welt so unentbehrlich waren. Niemand ist mehr da, Gott schuf die Welt und hauchte vor Erschöpfung sein Leben aus. Bis hierher musste Kossakowski reisen, um es zu verstehen.
Smyrna
Jakob und Chana bewohnten zusammen mit ihrer kleinen Tochter, die kürzlich das Licht der Welt erblickt hatte, ein kleines Gebäude in einer Seitenstraße. Von ihrem Vater mit allem Notwendigen ausgestattet, hatte Chana das Haus so eingerichtet, daß man gerne kam und sich zum Plaudern niedersetzte. Und auch wenn Mutter und Kind nach türkischer Sitte in den Teil des Hauses sich zurückzogen, der für die Frauen vorgesehen war, spürte ich doch häufig Chanas Blick in meinem Rücken.
Isochar, der vernommen hatte, daß der heilige Geist in Jakob eingekehrt war, verhielt sich nun vollkommen anders als zuvor. Er begann mich den anderen vorzuziehen, war ich doch Jakobs unmittelbarer Zeuge und seine Stimme. Jeden Tag kamen wir zu ausgedehnten Gesprächen zusammen, bei denen Isochar immer entflammter uns zu bewegen suchte, die Lehre von der Dreifaltigkeit zu studieren.
Jene verbotene Idee machte vor Ergriffenheit uns schaudern – sei es, weil sie undenkbar war für jeden Juden, und also auch für uns, sei es, weil ihr – so empfanden wir es – eine solche Macht innezuwohnen schien wie den vier hebräischen Buchstaben, die den Namen Gottes bilden.
Nikopol
Über der Stadt Nikopol thront eine Festung mit sechsundzwanzig Wehrtürmen und zwei Toren. Ein ganzer Trupp hält dort Wache; sein Befehlshaber wohnt über einem Kerker, in dem Schuldner und Diebe ihre Strafe abbüßen. Des Nachts schlagen die Wächter die Trommel und rufen: „Allahu akbar!“ Felsig ist die Gegend und sommers staubtrocken, dennoch gedeihen im Schatten der Häuser Feigen und Maulbeeren, reifen Weintrauben an den Hängen. Die Stadt selbst liegt am südlichen Ufer des Flusses – dreitausend schmucke, ziegel- oder schindelgedeckte Häuser. Vorwiegend besteht sie aus türkischen Vierteln, die jüdischen und christlichen sind geringer an der Zahl. Auf dem Nikopoler Wochenmarkt herrscht reges Treiben, stehen hier doch ganze tausend hübsche Marktstände. In fest errichteten Hallen haben die Handwerker ihre Werkstätten. Besonders zahlreich vertreten sind die Schneider, weithin berühmt für ihre Künste – jedes Gewand, jeden Żupan, jedes Hemd können sie fertigen, wenngleich ihnen auch Kleider nach tscherkessischem Schnitt am besten gelingen. Und wie viele Völker tummeln sich auf dem Basar! Walachen, Türken, Moldawier und Bulgaren, Juden und Armenier, ja, manchmal sieht man gar Kaufleute aus Danzig.
Saloniki
Als Erster sah ihn Nachman, bei einem Bet Midrasch war es, in dem die Juden von Saloniki ihre Dispute führten. Eben wollten sie auseinandergehen, es war schon spät, Jakob stand in lebhafte Unterhaltung verstrickt, umringt von Männern. Unter den griechisch gekleideten Burschen entdeckte Nachman auch den kleinen Herschele. Er trat näher heran, und obgleich er nicht hörte, wovon sie sprachen, befiel ihn – so merkwürdig es sein mochte in jener glutheißen Nacht – ein Zittern.
Kamieniec
… Wir bitten Ew. Majestät um unverzügliche Ernennung einer Kommission in Kamieniec und in Lemberg, damit uns das unschuldigerweise Weggenommene zurückgegeben werde, und dass das Dekret von Kamieniec in Podolien zur Ausführung gelange, indem uns unsere Frauen und Kinder ausgeliefert würden. Dass ferner durch Ew. Majestät Personen von Ansehen bevollmächtigt würden, diese Hartnäckigen und Gewaltthätigen zu zwingen, damit sie ohne Ausflüchte uns genugthun, was allseits gerechtfertigt ist, und wodurch allein die Unsrigen, ins tiefste Elend gerathenen, die Möglichkeit eines Lebensunterhaltes gewinnen. Möge Ew. Majestät durch einen öffentlichen Erlass kund thun, dass, wo nur immer unsere Brüder in einem ähnlichen Verlangen nach dem heiligen Glauben, wie wir selbst, sich befinden – soweit uns bekannt müssen ihrer viele sein – sie ohne Furcht hervortreten, und dass ihnen die Herren in diesen Orten beistünden bei der Annahme des Heiligen Glaubens und dass wenn die Talmudisten die Absicht zeigten, auf sie einen Druck auszuüben oder gegen sie Schmähungen zu erheben, sie die Freiheit haben sollen, mit ihrem Eigenthum einen anderen Wohnsitz aufzusuchen.
Giurgiu
Im Winter 1757 reisten wir zu Jakob nach Giurgiu; zu Chanukka machten wir uns auf den Weg, versehen mit Schutzbriefen, die beim polnischen König für uns hinterlegt worden waren. Wir wollten Jakob zur Rückkehr bewegen. Ohne ihn, den Händen anderer überlassen – Krysas und Elischa Schors – begann unsere Sache, sich zu verlieren.
Wir waren zu viert, den Evangelisten gleich: Mosche ben Israel aus Nadwórna, Jeruchim Lipmanowicz aus Czortków, mein Bruder Chaim aus Busk und ich.
Als Jakob uns empfing, waren wir bis auf die Knochen durchgefroren und erschöpft, streng war dieser Winter, und bei einem Überfall von Wegelagerern hatten wir zudem unsere Pferde eingebüßt. Doch als ich dann die Donau erblickte, ergriff mich eine tiefe Rührung, als hätte ich das Herz der Welt erreicht, sogleich wurde mir warm in den Adern, und die Gedanken lichteten sich, mochte der Schnee auch klafterhoch liegen.
Iwanie
Der feierliche Zug, der um die Kehre biegt, sieht aus wie eine türkische Schwadron. In seiner Mitte rollt eine Kutsche, neugierige Augen wollen Jakob darin erspäht haben, doch nein, Jakob reitet ganz vorn, auf einem Schimmel, gewandet nach türkischer Art mit Turban und einem pelzverbrämten blauen Mantel mit weiten Ärmeln. Einen langen schwarzen Bart trägt er, der ihn älter wirken lässt. Jakob steigt ab, legt seine Stirn an die Stirnen Osmans und Chaims, lässt seine Hand auf den Köpfen ihrer Ehefrauen ruhen. Osman geleitet ihn zum größten Haus; der Hof ist sauber gefegt, vor dem Eingang breiten sich Fichtenzweige. Jakob aber zeigt auf einen Anbau neben dem Haus, einen alten Schuppen aus Stampflehm, allein wolle er wohnen, einerlei wo, der Schuppen im Hof sei ihm gerade recht.
„Du bist ein Chacham“, erwidert Chaim. „Wie kannst du allein in einem Schuppen wohnen?“
Jakob bleibt beharrlich.
„In dem Schuppen werde ich schlafen, ich bin ein Prostak.“
Osman versteht ihn nicht, ordnet jedoch beflissen an, im Schuppen solle Ordnung geschaffen werden.
Częstochowa
Plötzlich schallt Gesang herüber, schwillt mal an, ebbt wieder ab – eine Gruppe Pilger marschiert vom Kloster auf das Städtchen zu. Ein fernes Rauschen ist der Gesang zuerst, ein Lautgewirr, nach und nach sind Wörter zu vernehmen, einzelne Frauenstimmen, unterlegt von Männergebrumm: „In Deine Obhut flüchten wir, o Heilige Gottesgebärerin ...“
Die späten Pilger ziehen vorüber, wieder liegt der Weg frei vor ihnen. Je näher sie dem Kloster kommen, desto deutlicher tritt hervor, dass es in Wahrheit eine Festung ist, eine mit d
em Berg verwachsene, klobige, viereckige Bastei. Hinter dem Kloster, knapp über dem Horizont, wird unversehens ein blutroter Streifen Himmel erkennbar.
Lemberg
„Jankiel?“, fragt Pinkas noch einmal, schon mit dem Ton des Zweifels in der Stimme, und lässt die Rockschöße los.
„Ich bin es, Onkel Pinkas“, sagt der andere leise.
Pinkas ringt nach Luft. Schlägt sich die Hände vor die Augen.
„Was ist mit dir? Du bist nicht mehr Rabbi in Glinno? Wie siehst du denn aus?“
„Ich kann jetzt nicht reden, Onkel. Ich muss weiter …“
„Was soll das heißen? Du kannst nicht reden?“
Der ehemalige Rabbi von Glinno dreht sich um und will fort, doch Bauern, die Kühe am Strick führen, versperren ihm den Weg.
„Ich lasse dich nicht gehen“, sagt Pinkas. „Du musst mir das alles erklären ...“
„Ich habe nichts zu erklären. Fasst mich nicht an, Onkel, lasst mich! Mit Euch habe ich nichts mehr zu schaffen.“
„Pfui!“ entfährt es Pinkas, der mit einem Mal begreift, und vor Entsetzen gerät er ins Taumeln. „Weißt du denn nicht, dass du dich für immer ins Verderben stürzt?! Bist du jetzt einer von denen?! Schon getauft, oder wartest du noch, dass an dich die Reihe kommt? Wenn deine Mutter das erlebt hätte – das Herz hätte es ihr zerrissen!“
Brünn
Das Tor schwingt auf, alle schreiten gemessen zur Kathedrale. Der Weg ist kurz, jeder einzelne Schritt wird ausgekostet, um den Schaulustigen genügend Zeit zu geben. Schon vorher stellen sich die Brünner an diesem Straßenstück auf, um die merkwürdige Parade zu bestaunen. Am eindrucksvollsten wirkt stets der Herr, zum König ist er geboren – hochgewachsen und bärtig; der türkische Tarbusch, den er so gut wie niemals abnimmt, und der weite, hochherrschaftliche Mantel mit Hermelinkragen lassen ihn noch größer erscheinen. Die Leute starren seine orientalischen Schnabelschuhe an. Eva ist eine Attraktion für sich: Stets nach der neuesten Mode gekleidet, schreitet sie hocherhobenen Hauptes einher, ihre mit goldgesticktem Flor besetzten Gewänder schimmern seladongrün oder rosé, wie eine Wolke schwebt sie neben dem Vater; die Blicke der Menge perlen an ihr ab, als wäre sie ein Wesen aus kostbarer Materie, unberührbar.
Wien
Plötzlich ertönen heitere Stimmen und rasche Schritte, die Tür schwingt auf – der Kaiser tritt ein. Leichte Sommergewänder trägt er, nicht nach französischer Façon, eher bäuerlich sehen sie aus. Der Hemdkragen steht offen, gibt den Blick auf seinen dünnen Hals frei, das fliehende Kinn der Habsburger. Er geht ohne Perücke, sein spärliches Haar ist zerzaust, was ihn jünger wirken lässt. Zwei Damen folgen ihm, lachend betreten sie den Raum, elegante Strohhüte auf den Köpfen, noch hallen die letzten Scherze nach.
Die Gäste erheben sich – Jakob schwankend, Anusia eilt, ihn zu stützen; Eva steht da wie hypnotisiert, sie starrt den Kaiser an.
Die beiden Männer, umringt von Frauen, messen sich mit Blicken. Jakob verneigt sich ehrerbietig, Evas und Anusias Kleider knittern im tiefen Knicks.
„Ja, wen sehen meine Augen da?“, der Kaiser setzt sich, streckt die langen Beine aus.
„Kaiserliche Hoheit ...“, beginnt Jakob mit schwacher Stimme.
Offenbach am Main
Die Messe wird allein für sie gelesen, die Polacken. Das Kirchlein ist dann voll bis auf den letzten Platz. Sie beten im Stillen, singen auf Polnisch. Jakob liegt auf dem Boden, die Arme zum Kreuz ausgebreitet, vor dem Altar. Für die wenigen Katholiken in Bürgel eine Sensation, solch östliche Glaubensinbrunst ist ihnen unbekannt. Der Gemeindepfarrer spricht sich löblich aus, ein gutes Beispiel solle man sich an ihnen nehmen. Seit sie hier sind, fehlt es nie an Kerzen oder Weihrauchkörnern. Und letzthin hat Eva neue Priestergewänder gestiftet und eine herrliche goldene Monstranz, mit den teuersten Steinen besetzt. Dem Priester wollten die Sinne schwinden, als er sie sah, und nun wälzt er sich nachts vor Sorge, das kostbare Stück könne womöglich einen Räuber anlocken.
Herzensfiguren
Von allen Figuren besonders ans Herz gewachsen ist uns Benedykt Chmielowski, Dechant von Rohatyn und Verfasser der ersten polnischsprachigen – wiewohl von lateinischen Begriffen durchsetzten – Enzyklopädie Nowe Ateny.29
Chmielowski, der brave Gottesmann, lebt fern von der Welt mit Diener Roschko, Haushälterin und Hündin im Pfarrhaus in Firlejów, schreibt an seiner Enzyklopädie und betätigt sich bisweilen auch poetisch:
Der Menschenleib ist nichts als ekel Luft
Erlös ihn durch des Gartens Duft
– worüber die Dichterin Drużbacka anfangs nur die Nase rümpfen kann. Bei einem Besuch Elżbieta Drużbackas in der Pfarrei schließen die beiden eine Herzensfreundschaft, die vor allem im brieflichen Austausch weiterbesteht. Heftig diskutieren sie den Gebrauch von Latinismen in Chmielowskis Enzyklopädie:
„Aber warum so viel Latein, Euer Gnaden?“ meldet sich die Drużbacka unvermittelt zu Wort. „Schließlich versteht das nicht jedermann.“
Der Priester macht eine unruhige Bewegung.
„Wie meint Ihr? Ein jeder Pole spricht doch so fließend Lateinisch, als wäre er mit dieser Sprache geboren. Das polnische Volk ist eine gens culta, polita, voll jeglicher Weisheit, capax, daher goutiert es völlig zu Recht das Lateinische und beherrscht auch seine Aussprache am trefflichsten. Wir sagen nicht wie die Italiener Redschina, sondern Regina, nicht tridschinta, quadradschinta, sondern triginta, quadraginta. Wir verhunzen die lateinische Sprache nicht wie die Teutschen und die Franzosen, die statt Christus Kristus sagen, statt Michael – Mikael, statt charus – karus ...“
„Aber welcher Pole denn, Ehrwürdiger Pater? Die Damen beispielsweise sprechen höchst selten Latein, wurden sie doch darin nicht unterwiesen. Auch den Bürgern ist das Lateinische eher weniger bekannt, und Ihr, Hochwürden, hättet gern, dass selbst die niederen Stände es läsen ... Sogar der Starost zieht dem Lateinischen das Französische vor. Mir will es scheinen, dass in der nächsten Ausgabe dieses ganze Latein gejätet werden müsste, wie Euer Garten, Hochwürden.“
Den Tod holt sich der gute Chmielowski im Frühjahr 1763, als er sich allzu voreilig ans Jäten in seinem liebevoll angelegten Gärtchen macht, was eine Verkühlung und Lungenentzündung zur Folge hat – an dieser Stelle wäre man als Übersetzer*in nur allzu geneigt, den unvermeidlichen Lauf der Dinge ein wenig zu modifizieren ... Der Abschied von Chmielowski fiel uns wahrhaftig schwer.
Die Dichterin Drużbacka ist Chmielowski in seinen älteren Jahren eine gute Freundin und bodenständige Ratgeberin.
Elżbieta Drużbacka
an den Priester Chmielowski,
oder Von der Vollkommenheit der unprecisen Formen
… übersende ich Euch, Ehrwürdiger Priester, meine Bände, vielleicht erblickt Euer scharfes Auge ja mehr darin als nur Eitelkeiten; um der Welten Fülle in Sprache zu fassen, sollte weder zu klare und offensichtliche noch zu eindeutige Worte man wählen – ansonsten eine Art Federskizze entsteht, da die Welt nur mit harten schwarzen Strichen auf eine weiße Fläche übertragen wird. Worte und Bilder aber müssen schmügsam und mannigfach in ihrer Bedeutung bleiben, flirren müssen sie und viele Sinne in sich bergen.
Es ist nicht so, dasz ich Eure Mühen, Hochehrwürdiger Priester, nicht zu schätzen wüsste, das Gegenteil ist der Fall, zutiefst beeindruckt bin ich vom Ausmasz Eurer Arbeit. Dennoch dünkt mich, Ihr suchtet Rath allein bei den Toten; dasz Ihr all diese Werke citiret und compliliret, kommt einem Wühlen in Gräbern gleich. Allzu rasch werden doch Thatsachen unbedeutend, verlieren an Actualität. Läszt sich aber unser Leben auszerhalb der Thatsachen beschreiben, einzig auf das gestützt, was wir sehen und spüren, auf unwesentliche Kleinigkeiten, auf Gefühle?
Mit meinen eigenen, nicht mit fremden Augen will ich die Welt betrachten
[…]
… und sie steht ihm, der aufgrund seiner selbstgewählten Einsamkeit recht weltfremd und naiv ist, in ausführlicher Korrespondenz zur Seite – wenn er auch ihre Dichtkunst mit ebensolchem Befremden betrachtet wie sie die seine. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, betätigt Elżbieta Drużbacka sich als Gesellschaftsdame und Begleiterin Katarzyna Kossakowskas auf deren zahlreichen Reisen, bildet einen warmherzigen Gegenpol zur ruppigen und herrschsüchtigen Kastellanin. Ihr weiteres Schicksal schmerzt kaum weniger als des Priesters Leichtsinn in den noch kalten Frühlingstagen, werden doch ihre Tochter und sechs Enkelinnen von einer unbenannt bleibenden Seuche (wahrscheinlich der Pest) dahingerafft – worauf die Dichterin sich verzweifelt nach Tschenstochau ins Kloster zurückzieht und den Briefkontakt mit dem Geistlichen abbricht.
Als frühe Feministin wäre Gitla Pinkasówna zu bezeichnen, die als Jakobs „Wächterin“ auf einer Etappe seines Weges, in Jezierzany, zur Compagnie stößt.
Die zweite, eine Lembergerin, Gitla mit Namen, groß und stolz wie die Königin von Saba, spricht kaum ein Wort. Es heißt, sie sei die Tochter des Pinkas, des Schreibers im Lemberger Kahal, doch selbst behauptet sie, es fließe königliches Blut in ihren Adern, von der polnischen Prinzessin, die ihr Urgroßvater entführt habe. Nun sitzen sie zu Seiten Jakobs, Schutzengelinnen gleichsam, herrliche Pelze auf den Schultern und auf dem Scheitel eine Kopfbedeckung, die Edelstein und Pfauenfeder zieren. Am Gürtel trägt jede ein kurzes türkisches Schwert, in einer mit Türkisen besetzten Scheide. Flankiert von den beiden, sitzt Jakob wie zwischen den Säulen eines Tempels. Bald wird die dunklere der beiden, Gitla, leibhaftig zu seinem Schild. Sie schreitet voraus, schützt ihn mit ihrem Körper, wehrt mit ihrem Stab die Menschen ab, die ihn bedrängen. Und ihre Hand liegt warnend auf dem Knauf des Schwerts. Als der Pelz ihr lästig wird, tauscht sie ihn gegen einen roten Dolman mit weißer Schamarierung ein. Jetzt quillt ihr dunkles Haar in widerspenstigen Locken unter einer Tschapka hervor.
Nie ist Jakob ohne sie zu sehen, und überall nächtigt er mit ihr, als wäre sie seine Frau. Gott hat sie ihm zum Schutz gegeben, heißt es. Sie wird mit ihm weiter durch Polen ziehen, sie wird seine Wächterin sein.
Gitlas Nähe zu Jakob ist nicht von langer Dauer; bereits schwanger, kommt sie bei Ascher Rubin unter und wird später dessen Frau. Widerspenstig und fortschrittlich in ihren Ansichten bleibt sie ihr ganzes Leben lang, beteiligt sich in Wien gemeinsam mit ihrem Mann an einer publizistischen Debatte über die Aufklärung.
Er wirft einen Blick ins Zimmer, wo der kleine Samuel auf dem zerschlissenen Teppich spielt. Gitla ist wieder guter Hoffnung, deshalb wohl ist sie so gereizt. Sie wollte dieses Kind nicht, doch eine Schwangerschaft ließ sich kaum vermeiden. In Frankreich, das hat sie irgendwo gelesen, verwendet man kleine Kapuzen aus Schafsdarm für das männliche Gemächt, der Samen bleibt dann in der Kapuze, die Frau wird nicht schwanger. Solche Schafsdarmkapuzen möchte Gitla haben und auf dem Wochenmarkt an alle Frauen verteilen, dass sie sie an ihre Männer weitergäben und nicht fortwährend Kinder zur Welt brächten. Ein Unglück ist diese regellose Vermehrung, dieses Gewimmel, wie Würmer in verdorbenem Fleisch, brummelt sie verärgert und streift ziellos durch die Wohnung, mit ihrem Bauch, der deutlich schon sich wölbt. Ulkig sieht es aus und traurig zugleich. Zu viele Menschen, dreckige, stinkende Städte, kaum sauberes Wasser, knurrt sie vor sich hin, das hübsche Gesicht missliebig verzogen. Und all diese Frauen, dick und unförmig, entweder schwanger oder im Wochenbett oder einen Säugling an der Brust. Weniger Ungemach hätten die Juden zu leiden, wenn die Jüdinnen nicht immerfort Nachwuchs bekämen. Wozu brauchen die Menschen so viele Kinder?
Wild gestikuliert Gitla, wenn sie spricht, und heftig schwingt ihr dichtes schwarzes, bis zur Schulter gekürztes Haar. Zu Hause trägt sie keine Haube. Ascher betrachtet sie liebevoll. Wenn ihr oder dem kleinen Samuel etwas geschähe, denkt er, dann würde auch er vor Kummer vergehen.
„Gibt der Körper einer Frau“, fragt Gitla häufig, „etwa seine besten Substanzen nur deshalb her, um einen weiteren Menschen zu schaffen, dessen Leben sowieso im Tode endet – und dann war alles umsonst? Wie schlecht ist das doch erdacht. Kein Funken Verstand steckt dahinter, weder in praktischer noch in anderer Hinsicht!“
Unsere herzliche Sympathie weckte weiterhin Antoni Kossakowski, genannt Moliwda – der ewig Suchende zwischen allen Welten. Aus einer polnischen Adelsfamilie stammend und mit Katarzyna Kossakowska verwandt, verliebt er sich als Jugendlicher in eine Jüdin, verlässt sie jedoch, als sie schwanger wird und die Unterschiedlichkeit ihrer beider Welten allzu deutlich zutage tritt. Später schließt er sich den Bogomilen an, verdingt sich als Dolmetscher in Smyrna – wo er Nachman und Reb Mordke kennenlernt –, sucht auf der Insel Athos sein Glück. Jakob begleitet er eine Weile als dessen Dolmetscher und auch Anhänger, wiewohl er auch bei den Frankisten niemals recht dazugehören kann. Als die katholische Kirche Jakob und seine Schar streng unter die Lupe nimmt, wendet Moliwda sich rasch von ihnen ab.
Ein phantasievoller Geschichtenerzähler ist er, und trotz oder gerade wegen seiner Schwächen ein schillernder Charakter, sehr menschlich in seinen Irrungen und Wirrungen.
Was seinen neuen Namen betrifft – Moliwda, denn so will er jetzt genannt werden –, erzählt er Verschiedenes und macht großen Eindruck damit. Zum Beispiel, dass er König einer kleinen Insel im griechischen Meer sei, die so heiße: Moliwda, ebenjener Insel, an deren Gestade er schiffbrüchig gestrandet sei. Wo die Frauen ihn gefunden haben, so mutternackt. Schwestern seien sie gewesen und stammten aus einer Familie türkischer Edelleute. Er dachte sich auch Namen für sie aus: Simelda und Edina. Sie machten ihn betrunken, verführten ihn. Dann heiratete er beide, denn so ist es Sitte dort, und als bald darauf ihr Vater starb, wurde er zum Herrscher über die Insel. Fünfzehn Jahre lang war er König, sechs Söhne wurden ihm geschenkt, ihnen überließ er vorerst das kleine Reich, doch wenn die Zeit gekommen ist, wird er sie alle sechs nach Warschau holen.
Die Runde klatscht begeistert in die Hände; wieder füllen sich die Gläser.
Sitzt er in besser gebildeter Gesellschaft, strickt er die Geschichte anders – eher durch Zufall und vor allem seiner fremdländischen Herkunft wegen sei ihm die Herrschaft über die Insel zuteil geworden, woraus er über Jahre hinweg eifrigen Nutzen gezogen habe, es erging ihm wohl dabei. Dann beginnt er, die Sitten und Gebräuche zu beschreiben, die exotisch genug sind, das Interesse seiner Zuhörer zu wecken. So erzählt er etwa auch, den Namen von chinesischen Kaufleuten erhalten zu haben, die er in Smyrna traf, sie handelten mit Chinalack und Seide. Moli-hua, so hätten sie ihn genannt: Blüte des Jasmin. Wenn er davon berichtet, sieht er ein schiefes Grinsen auf den Gesichtern der Zuhörer, die dem Spott nicht abgeneigt sind. Woran Moliwdas Erscheinung auch immer denken ließe – es wäre gewiss zuletzt Jasmin.
Rabbi Nachman ben Lewi aus Busk ist Jakobs wohl treuest ergebener Freund und Anhänger. Anders als der charismatische Prostak ist Nachman ein hochgebildeter Gelehrter, der sich mit den kompliziertesten kabbalistischen Fragestellungen befasst. Aufrecht und offenherzig ist er, auf eine sympathische Weise gutgläubig. So nimmt man es ihm nicht übel, dass er – im Bestreben, ehrlich zu sein, und so das Beste für Jakob zu tun – den katholischen Priestern beim Verhör gerade die Argumente an die Hand gibt, die zu Jakobs Arretierung führen.
Ebenso offen spricht er in seinem Lebensbericht, den sogenannten „Resten“, von seiner unerfüllten Liebe zu Jakob:
Viele Male hatte ich an Jakob gedacht bei meiner Familie in Podolien. Besonders vor dem Schlaf sehnte ich mich nach ihm, wenn die Gedanken wandern, wohin es ihnen beliebt, und sich nicht lenken lassen vom Willen. Traurig war das, lag doch neben mir meine Frau, der ich nicht allzuviel Beachtung schenkte. Unsere Kinder kamen schwächlich zur Welt, starben bald nach der Geburt. Doch nicht darum kreisten meine Gedanken. Es schien mir, als würde Jakobs Gesicht zu meinem, als schliefe ich mit seinem statt meinem Gesicht ein. Und nun sah ich dieses Gesicht lebendig vor mir.
Des Abends dann, als wir endlich beisammensaßen – Jakob, Reb Mordke, Isochar, Nussen, der kleine Herschele und ich –, überkam mich ein großes Glücksgefühl, und reichlich sprach ich dem Wein zu, an dem es nicht mangelte; wie ein Kind fühlte ich mich offen und zu allem bereit, was das Schicksal bringen sollte, und ich wusste, was immer auch geschähe, ich würde bei Jakob sein.
Vor Jakob verborgen, notiert Nachman detailliert seine Beobachtungen und Reflexionen. Diese Notizen beleuchten die Figur Jakob Franks auf kritische Weise aus einer zweiten Perspektive, sie sind neben der Erzählerstimme eine wichtige Stimme in dem polyphonen Roman.
Während ich in die Betrachtung all dieser Dinge versunken war, dieser ganzen neuen Welt, die sich in fremden Landen vor Jakob aufgetan, dachte ich bei mir: Ist das noch derselbe Jakob? Schließlich habe ich meinen Namen von seinem genommen, Jakubowski, als wäre ich sein Eigen, seine Gemahlin, doch traf ich ihn nicht mehr so an wie einst. Etwas beleibter war er geworden, sein Haar nun schon gänzlich weiß – von Tschenstochau ist ihm das geblieben.
Wołowski und mich empfing er in seiner Kammer; nach türkischer Manier ist sie gestaltet, man sitzt dort auf dem Boden. Der Genuss von kaffa nach Belieben sei ihm verwehrt, so klagte er, den Magen trockne es ihm aus. Überhaupt war er sehr mit seiner Gesundheit befasst, was mich verwunderte, hatte er sich doch früher verhalten, als besäße er gar keinen Körper.
So vergingen die ersten Tage – wir besichtigten die Umgebung, gingen zur Messe, saßen beim Gespräch beisammen –, doch wirkten auch die Unterhaltungen eigentümlich leer. Ein Unbehagen hatte sich meiner bemächtigt. Nach allen Kräften mühte ich mich, wie einst in Smyrna, den jungen Mann in Jakob zu sehen, rief ihm in Erinnerung, wie seine Haut sich damals schälte an seinem ganzen Körper, wie er auf dem Meer mich von meiner eigenen Furcht zu erlösen suchte. „Bist du es wirklich, Jakob?“, frug ich ihn einmal, wobei ich vorgab, zu viel getrunken zu haben – tatsächlich aber achtete ich genau darauf, was er mir antworten würde. Meine Frage schien ihn zu verwirren. Später dachte ich bei mir, nur ein Tor würde erwarten, dass die Menschen stets die Gleichen blieben, ein gewisser Hochmut gibt uns ein, uns selbst für unveränderlich zu halten, als wären wir in alle Ewigkeit unwandelbar die eine, fest umrissene Person.