Odile Kennel

Senhor Roubado. Gelbe Linie. Endstation.
Kleiner Bericht über eine TOLEDO-Mobilitätsförderung in Lissabon

„Meine Großmutter, die, die mir versicherte, das Große Buch des Häkelns werde mir noch irgendwann nützlich sein, hat mir ein Wörterbuch vermacht, in dem jede Menge alte, nicht mehr geläufige Wörter standen. Eben auch calcite, ein altes Wort für calçada, hier, das Pflaster, auf dem wir gerade sitzen“. Eine Treppe am Fuße der Mouraria, wir trinken Bier. Es ist 20 Uhr 30, Raquel hat gerade erst Feierabend gemacht, sie hat eine neue Arbeitsstelle in einer Filmproduktionsfirma. Feierabendbier! Fast genau so lang wie Filmproduktionsfirma, und dazu noch unübersetzbar in die andere Sprache, Feierabend, noite de festejar, aber in diese Sprachrichtung navigieren wir gerade nicht, oder doch? „Ich liebe die deutsche Sprache“, sagt Raquel, „ich hatte sie zwei Jahre in der Schule, und dann habe ich Philosophie studiert“. Aber welche Geste meint genau „ „pegar-te nas mãos para ficar nelas“? (Raquel legt ihre Hände in meine. So.) Was bedeutet in diesem Kontext „Maisgift“? (Der vergiftete Mais, den die Stadt gegen die zu zahlreich gewordenen Tauben an der Praça de São Paulo ausstreute, wo wir just saßen, als ich diese Frage stellte. Überall tote Tauben? Überall tote Tauben.) Meint sie mit „homen“ Mann oder Mensch? (Mann.) „Odiles Fragen haben mir noch einmal einen anderen Blick auf meinen Text eröffnet. Warum habe ich diese Entscheidung getroffen? Warum diese Verknüpfung erstellt? Was verbinde ich mit diesem Bild?“, erklärt Raquel während unserer gemeinsamen Lesung im Garten des Goethe-Instituts, der eine grüne Oase ist. Es ist sommerlich warm an diesem Abend, wie an jedem einzelnen Abend in Lissabon in der Zeit, in der ich dort war. Das Publikum ist teils für uns gekommen, teils um ein Feierabendbier zu trinken, bleibt, hört zu. Wir lesen, Raquels Texte, meine Übersetzungen ihrer Texte, meine Texte, ihre auf Basis meiner Rohübersetzungen (in approximatives Portugiesisch) verfassten Übersetzungen meiner Texte. Gerne hätten wir mehr auch daran gearbeitet. Aber eine neue Arbeitsstelle ist eine neue Arbeitsstelle, auch Dichter müssen Miete zahlen, wollen essen. Clara Riso, die Leiterin von der Casa Fernando Pessoa stellt Fragen, zu unserem Kennenlernen auf der Buchmesse in Leipzig 2017, zu unserer Zusammenarbeit*.

Wir treffen uns immer abends am Fuße der Mouraria, an einem Tisch auf der Praça de São Paulo, in einem Restaurant, wo wir Cachupa essen, auf einer Caféterasse am Campo Sant’Ana. Arbeiten, Privates, Trinken, Essen, Reden, Arbeiten. Unsere Sitzungen fügen sich ins Leben ein, weil es so sein muss, weil es so gut ist. Produktiv. Ich hätte all meine Fragen per Mail nie so genau formulieren können, es hätten die Hände gefehlt, das Gestikulieren, das Aufstehen und Darstellen, das Lachen. Die allerletzten Fragen habe ich am Vorabend meiner Abreise gestellt, am Abschiedsabend. Die allerletzten Änderungen am Text habe ich in den zwei Stunden angebracht, bevor ich zum Flughafen aufbrach. Am offenen Fenster, Hochparterre auf die Straße, bei 30 Grad. Ich liebe das, 30 Grad, offene Fenster auf Straßen. Ich kann mich gut konzentrieren, wenn ich das Gefühl habe, am Leben da draußen teilzuhaben. Also der Text, der mich hergebracht hat, zu allerletzt, in Lissabon. Ich habe wortwörtlich den letzten Punkt gesetzt und bin losgegangen zur U-Bahn. Flughafen. Rote Linie. Endstation.

* Apropos Zusammenarbeit. Zusammenarbeit mit der Autorin und als „Nebeneffekt“ die  „Möglichkeit, die dortige, sich stets verändernde Lyrik-Szene weiter kennenlernen und berufswichtige Kontakte zu knüpfen und zu pflegen“, hatte ich als Begründung in meine Toledo-bewerbung geschrieben.  Und ich muss sagen, dass sich in dieser „nebeneffektiven“ Hinsicht meine Erwartungen übertroffen wurden: Die (eigene) Lesung am Goethe-Institut, (fremde) Lesungen und Inszenierungen in Bars und Galerien, die Teilnahme an „Poesia, um dia“ in Ródão, in der Nähe von Castelo Branco (Dichter residieren drei Tage in der Gegend, schreiben, tauschen sich mit den Bewohnern aus; Lesungen, Filme, Diskussionen) – plötzlich habe ich den Eindruck, Teil eines Netzwerks von Dichter*innen, Verleger*innen, Veranstalter*innen zu sein, das mir vorher nur abstrakt, oder vereinzelt bekannt war. Meine langgehegte Idee, einen Blog mit Lyrik-Übersetzungen zu beginnen, bekommt neuen Auftrieb. Es gibt so viele spannende Dichter*innen und so wenig Publikationsmöglichkeiten! Eigentlich dürfte der Nebeneffekt in dieser Hinsicht also nicht in der Fußnote stehen. Oder gerade doch?


Lesenswert: Eine Blume am Revers des Elends Ein Beitrag von Odile Kennel zu den Cities of translators Buenos Aires