Tobias Roth

TOLEDO im Florentiner Gehäus

Dank der Förderung von TOLEDO konnte ich mich für zwei Wochen in die Arbeit an einer Anthologie mit Texten der Italienischen Renaissance zurückziehen – in Florenz, was für die Renaissance in genügenden Fälle heißt: am Originalschauplatz. Natürlich ist es der Stadt Florenz und ihren Lobrednern nicht zu glauben, dass die Renaissance je ein Zentrum gehabt hätte, Florenz zum Beispiel. Aber was gerade das dortige 15. Jahrhundert an Texten hervorgebracht und hinterlassen hat, ist, um es so gemäßigt wie möglich zu sagen, der absolute Wahnsinn.

Die Einzimmerwohnung, in die ich mich für die zwei Wochen einquartiert hatte, war unfassbar winzig und optimal. Ein Gehäus. Keine fünf Fußminuten von der Biblioteca Nazionale Centrale entfernt, ausgerüstet mit einem Bett für abends und einer Moka Express für morgens, im Bauch der Stadt. Im Haus gegenüber war einige Jahrhunderte zuvor der Humanist Coluccio Salutati aufgebahrt gewesen, die Namen der Häuser und Plätze rundum fand ich mit fröhlicher Regelmäßigkeit in den Büchern vor, während ich in der Bibliothek saß. Durch die Sammelbewegung des Anthologisierens kam ich mit einer Vielzahl und Vielfalt von Autorinnen und Autoren in Berührung. Die Tage vergingen in Windeseile, es ging immer etwas mehr über die Bühne als ich gedacht hätte. Auch hierzu passte das Gehäus, zu den stillen gleichförmigen Tagen, sich aufsaugen lassen von den Buchstaben, zwangloses Schweigen außen, während innen so viele Stimmen durcheinanderreden, vertraute und neue, ferner und näher.

Der Wechsel der Themen ging bunt aus den Bücherstapeln hervor, von religiösen Sonetten zu Briefen und Tagebucheinträgen zu Kunsttraktaten und Dantekommentaren. Da waren diesmal vor allem Texte von den großen älteren Humanisten wie Leon Battista Alberti, Leonardo Bruni, Cristoforo Landino, oder Marsilio Ficino, verrätselte Versdichtungen von den Florentinern der Medici-Zeit, wie Girolamo Benivieni Giovanni Pico, ein gemischter Sack voll Sonette, vor allem von den gewitzten Dichterinnen des 16. Jahrhunderts, und die leuchtend lebensbejahenden Hexameter von Girolamo Fracastoro (dem Namensgeber der Syphilis). Ich arbeite an dieser Anthologie schon seit Jahren, das Entdecken wird immer schöner, das Weglassen immer schwerer.

Da waren auch so bekannte Autoren wie Machiavelli. Machiavelli, berühmt als kalter und kluger Politiker und Stratege, hat, soweit ich sehen kann, bisher kein richtig berühmtes Zitat, das mit einem ich denke also bin ich oder einem verweile doch, du bist so schön mithalten könnte. Ich möchte deshalb einen Satz vorschlagen. Er stammt aus einem Brief Niccolò Machiavellis an Luigi Guicciardini vom 8. Dezember 1509. Machiavelli hält sich gerade in Verona auf, erlebt dort im Zuge einer Gesandtschaft haarsträubende Abenteuer, plant allerdings bereits für seine Rückkehr nach Florenz und denkt über seine nebenberufliche Zukunft nach. Fazit: „Ich plane, Hühnerhändler zu werden.“

Während meines Aufenthaltes wüteten Unwetter in Italien, von denen ich zwar in der Bibliothek wenig mitbekam (der Arno führte sehr wenig Wasser), von denen ich allerdings auch in der Bibliothek etwas spürte. Die Biblioteca Nazionale Centrale liegt direkt am Flussufer, etwas stromaufwärts von den Uffizien; zwar nicht in erster Reihe, aber doch mit offenem Blick auf die andere Seite des Arno. Das gravitätisch klassizistische Gebäude ist gar nicht so alt, wie es daherkommt und wie die (viel älteren) Sammlungen, die es beherbergt, vermuten ließen. Das Gebäude wurde in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts fertig. Dennoch bahnte das Wetter sich einen Weg. Eines frühen Abends stand der Regen so heftig und geradezu senkrecht auf der Fassade der Bibliothek, dass es das Wasser durch die Fenster der Sale di Consultazione drückte. Der ein oder andere klassische Eimer, der das langsam tropfende Wasser aus der Decke nach langem Fall auffängt, fehlte in den darauffolgenden Tagen auch nicht. Es ist bedrückend, ein solches Schatzhaus, die größte Bibliothek Italiens, so verletzlich zu sehen. Mögen uns die Leser nicht ausgehen.

Ein anderes anekdotisches Detail kündet hingegen von großer, geradezu unbesiegbarer sprezzatura und Poesie: Die gewaltigen, kritischen Editionen der frühneuzeitlichen Kommentare zur Commedia Dantes stehen, in den dunklen Galerieregalen der doppelgeschossigen Lesesäle der Sale di Consultazione, unter der Regalbeschriftung TECNOLOGIA. Ich kann nicht genau den Finger darauf legen, aber das ist ein Verständnis von Technologie, das ich sehr gut finde. #ichplanehuehnerhaendlerzuwerden