Karin Betz

TOLEDO-Aufenthaltsförderung im Übersetzerhaus Looren für die Arbeit an Cixin Liu, Jenseits der Zeit (死神永生), August 2018.

Sternstunden

Man muss schon einen Sinn für romantische Einsamkeit haben, um sich zum Übersetzen zwischen Schafe, Kühe und Hühner ins Schweizer Landidyll von Looren zurückzuziehen. Einsam bleibt dabei aber keine·r, denn viele philophone Seelenverwandte erwarten den Neuankömmling mit Gedichten und einer Flasche Wein.

Bei der saßen wir dann noch um Mitternacht unter dem sehr klaren Sternenhimmel in der Gartenlaube und ich erzählte (auf Englisch, denn unsere Runde bestand aus Übersetzer·innen aus Australien, Iran, Armenien, Frankreich und Deutschland) von dem Kapitel, das ich tagsüber übersetzt hatte. Ein unheilbar krebskranker Mann hat sich zum Wohl seiner Familie dafür entschieden, dank einem neuen Euthanasiegesetz freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Er hängt an einer Maschine, die erst dann das tödliche Gift in seine Vene lässt, wenn er fünf Mal die Frage, ob er wirklich sein Leben beenden möchte, mit „Ja“ beantwortet hat. Zwischen diesen Fragen lässt der junge Mann sein Leben als Außenseiter Revue passieren, vor allem die Erinnerung an seine große, unerwiderte Liebe an der Uni. Vor Kurzem ist er unverhofft zu einem großen Vermögen gekommen, mit dem er der geliebten Frau, die den Namen des Gönners nicht erfährt, einen Stern gekauft hat ...

Alle Kollegen zitterten mit, als ich die Geschichte erzählte, die zunächst einen scheinbar guten Ausgang nimmt. Der Mann stirbt nicht, aber er stellt sein Gehirn in den Dienst eines verwegenen Plans, mit dem der Feind aus dem All besiegt werden soll. Mehrere hundert Jahre und viele hundert übersetzte Seiten später hat der Feind sein Gehirn dem geklonten Körper des Mannes eingepflanzt und er trifft zwischen den Sternen seine große Liebe wieder und erzählt ihr drei Märchen,  in deren verschlüsselten Botschaften die Rettung der Menschheit steckt ... Abend für Abend hatte ich gespannte Zuhörer, die auf den Fortgang der Geschichte brannten und ich muss sagen: Selten habe ich mich auf so sympathische Art zum flinken Übersetzen angespornt gefühlt. Und vor allem kam mir beim mündlichen Erzählen so manche Erleuchtung, die mir zuvor allein am Schreibtisch für die optimale schriftliche Form nicht kommen wollte.

Aber es gab noch mehr Gründe, warum sich der letzte Band von Liu Cixins Zukunftsepos Die drei Sonnen im Übersetzerhaus Looren ein gutes Stück schneller und inspirierter übersetzen ließ als vor- und nachher:  Nicht nur, weil man dort seine Übersetzung reflektiert und einem plötzlich die richtigen Begriffe einfallen, in dem man internationalen Kollegen Geschichten erzählt. Auch, weil die iranische Kollegin die Phantasie mit exotischer Gewürzküche beflügelte und außerdem (hurra!) eine „Sternen-App“ besaß, mit der ich Nacht für Nacht am klaren ländlichen Himmel nach den Sternen suchte, auf denen gerade mein Romanleben tobte. Auf diese Weise habe ich mir in die ohnehin schon so vielsprachig-bunte Welt des Übersetzerhauses noch das Leben aus dem fernen All an den Tisch geholt, der im heißen Sommer gerne draußen stand. Statt mich wie so oft bei einer umfangreichen und komplexen Übersetzung wie auf einsamen Stern zu fühlen, fand ich mich in bester Gesellschaft zwischen kosmischen Sternen und menschlichen Sternstunden.

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