Joel Scott

"Ich hatte Zeit, mich zu fragen, was denn dies war, diese Stadt, woraus sie ihr Wesen bezog, ihre Kraft, mit der sie unaufhörlich auf mich einwirkte. Es war immer mein Wunsch gewesen, in diese Stadt zu kommen, und nun, da ich hier war, kaum geduldet, zu den Niedrigsten gehörend, ging es darum, daß ich mich von ihr nicht in die Knie zwingen ließe."  Peter Weiss

Mein Weg nach Paris war wohl ein wenig unkonventionell. Ich arbeitete an meiner Übersetzung des zweiten Bandes der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss ins Englische; übersetzte also weder ins noch aus dem Französischen. Der Abgabetermin rückte immer näher und ich brauchte dringend Zeit, um konzentriert an der letzten Fassung zu arbeiten. Ich hatte die ausgedruckten und von Charlotte Thießen mit Bleistift grau bekritzelten Seiten des Entwurfs dabei, die ich zu bewältigen hatte. Untergebracht wurde ich im Maison Suger, am linken Ufer der Seine.

Ich kam während der Hitzewelle an, die Maison Suger hatte mir netterweise einen kleinen Ventilator auf den Schreibtisch gestellt, dessen Luftzug ich automatisch hin und her folgte. Wie gesagt übersetzte ich aus dem Deutschen ins Englische, der Zweck eines Aufenthalts mag also auf den ersten Blick nicht ganz einleuchten. Aber Weiss’ Roman fängt in Paris an: Auf dem Weg nach Hause, nach dem Zerfall der zweiten spanischen Republik, machen die Freiwilligen der Internationalen Brigaden in Paris Halt, als schon der ganze Kontinent in den großen Krieg zu fallen droht. Nur etwa das erste Drittel des Buchs findet in Paris statt, aber die Schilderungen sind so eindrucksvoll und detailliert, dass ich unbedingt dort an der Übersetzung arbeiten wollte, um einzelne Details zu erkunden, aber auch um ein Gespür für den Ort bekommen, um das Einwirken dieses Wesen, von dem Weiss spricht, am eigenen Leib zu spüren. Trotzdem musste ich ihm einzelne Dinge entnehmen. Die Schilderung der Siegessäule am Place Vendôme, „umstoben von ihren Kupferplatten“, habe ich erst ganz verstanden, als ich vor ihr stand. Andere Sachen waren naheliegender. Als ich aus dem Fenster starrte und darüber nachdachte, ob Weiss sich mit „Geländer entfernter Fenster“ einfach auf Fensterbretter bezog, fiel mein Blick auf die gusseisernen Geländer meines eigenen Fensters in der Maison Suger, die in Pariser Altbauten so häufig zu finden sind. Andere Details mussten ungeklärt bleiben. Den genauen Standort eines Fensters in der Rue des Martyrs, wo Théodore Géricault ein Atelier hatte und in dem er an seinem Großgemälde Das Floß der Medusa gearbeitet hat, konnte ich nie genau ausmachen. Durch den Hauseingang in den Hof kam ich nicht. Von hinten gelangte ich zwar durch ein Hotel auf einen Parkplatz von dem aus man in den Hof hineinblicken konnte, doch der Winkel machte es mir schwer, alles genau zu erkennen.

Vor dem „Stück teerigen Tuchs“ im Louvre durfte ich aber schon stehen, und einzelne Details erster Hand erkennen – die schemenhaft sichtbar übermalte Hand, der vibrierende Umriss des Kolonialsoldats Charles. Nach langem Suchen stellte sich heraus, dass das Triptychon des Heiligen Georgs an dem Tag abgesperrt war. Trotzdem konnte ich die Tafel durch die Gitter hindurch erspähen und die Reihenfolge der geschilderten Ereignisse nachvollziehen, auch wenn ich da entdeckt habe, dass es sich nicht wirklich um ein Triptychon sondern eher um ein Altarbild handelte, das aus mehreren Teilen bestand. Die Zeit in Paris war teilweise ermüdend und frustrierend, aber auch wahnsinnig produktiv. Meine Übersetzung hat sich in dieser Zeit radikal verbessert. Und dafür bin ich extrem dankbar.