Andreas Tretner

Am allerwichtigsten: das Haus. Von dem wir ein halbes Übersetzer·innenleben geträumt haben. Wir haben in Sofia endlich einen Ort, eine Klause – und was für eine! Einst Wohn- und Atelierhaus von Nenko Balkanski, wichtiger Porträt- und Landschaftsmaler der bulgarischen Moderne, im grünen Viertel Iztok. Lange leerstehend, dem Verfall preisgegeben – im günstigen Moment entdeckt, saniert und auf wunderbare Weise für die Zunft gewonnen, wofür eine Stadtverwaltung zu gewinnen, ein Verein zu gründen, dezent-penetrantes Lobbying und Fundraising zu betreiben war. (Und weil das alles fast zu schön ist, um wahr zu sein – Stoßgebet: Möge das Haus den Übersetzern und Yana Genova, sein guter, kluger Geist, dem Haus erhalten bleiben!)

Kammer unterm Dach und großes, helles Atelier. Hin und wieder ein abendliches Jour fixe der Sofioter KollegInnen, sonst himmlische Ruhe, Quittenbaum und viele Katzen. Der von König Boris angelegte Wildpark gleich nebenan. Ein hochproduktiver Monat – je zur Hälfte gewidmet einem toten bulgarischen Dichter und einem jungen bulgarischen Roman. Letztere Hälfte unterstützt vom Mobilitätsfonds. Die Übersetzung stand im nächsten Jahr bevor, es ging um den Zugang, Orientierung, Einfühlung – ein 3-Stufen-Programm:

Erstens: die Bekanntschaft mit dem Autor, Angel Igov, ein erster intensiver, vertrauensbildender Austausch – insbesondere über die ambitionierte Poetik des Buches, die „Erfindung“ eines kollektiven! Erzählers und seines diffizilen Verhältnisses zum Helden, eines eben noch Zugehörigen, der das Sozium verlassen hat, um „im Namen des Volkes“ zu richten. Vielfältige Brechungen und Häutungen, die es zu besprechen galt – der Grundstein für die Zusammenarbeit während der Übersetzung.

Zweitens: Ortsbegehung. Denn das WIR im Roman ist zu lokalisieren. Exkursionen, einmal zu Fuß, einmal in Yanas Auto, durch das alte Viertel Jučbunar, das im 19. Jh. das Viertel sephardischer Juden (Toledo lässt grüßen!), später ein proletarisch/subproletarischer Schmelztiegel war. Einiges davon ist noch zu sehen und zu ahnen, in Gesichtern von Häusern, Schuppen, Menschen. Das Brückchen, auf dem der Roman beginnt (der junge Held wirft seine Gedichte in den Fluss und beginnt ein neues Leben), habe ich schon gefunden.

Drittens: das Archiv. Das Buch handelt von den sogenannten Volksgerichten, mit denen nach dem kommunistischen Umsturz 1944 die alte, durch die Koalition mit Hitlerdeutschland belastete Elite liquidiert wurde. Die Akten dieser Prozesse liegen im Staatsarchiv. Der Autor hat damit gearbeitet. Noch ging es nicht um einzelne Dokumente, nur den Überblick – abzuschätzen, wie nah der Roman den Quellen ist und wie alles zusammenhängt.

Besser kann eine Übersetzung gar nicht anfangen.

Auch spannend: Bilder eines Romans. Andreas Tretners TOLEDO-Journal zur Übersetzung des Romans Der Perser von Alexander Ilitschewski