Christiane Quandt

Die Gedanken zwischen den Sprachenufern treiben lassen

Während meines dreiwöchigen Aufenthalts im EÜK in Straelen habe ich an der Übersetzung des Erzählbandes „Escalas“ (dt: Stufen oder Skalen) von dem peruanischen Autor César Vallejo (1892-1938) gearbeitet. César Vallejo ist einer der berühmtesten Autoren Lateinamerikas. Er ist international bekannt für seine experimentelle und avantgardistische Lyrik – im spanischsprachigen Raum kennt man auch seine Prosa, Theaterstücke und seine journalistischen Texte („crónicas“). Vallejos Umgang mit der Sprache ist – insbesondere für seine Zeit – kreativ, innovativ und zuweilen experimentell, was die Übersetzung seiner Texte zu einer Herausforderung macht. Seine Sprache ist dicht, bilderreich, gelegentlich äußerst hypotaktisch und komplex, dann wieder lakonisch und parataktisch. Er setzt ein überaus breit gefächertes Vokabular ein, das zuweilen in verschiedene technische Fachgebiete hineinreicht und erschafft in avantgardistischer Manier collageartige Textpassagen mit den wildesten Metaphern, die eine Herausforderung für Leser und insbesondere für Übersetzer darstellen. Obwohl der Text mit etwa 70 Normseiten verhältnismäßig kurz ist, ist eine rasche Übersetzung weder möglich noch wünschenswert. Das dichte und komplexe Geflecht dieser zwölf Erzählungen will in angemessener Weise und mit Muße übertragen werden.

Diese Muße hat das Übersetzerhaus in Straelen, nahe der niederländischen Grenze, mit seiner Klosteratmosphäre geboten. Die wunderschönen Zimmer bieten einen Rückzugsort zum alleinigen Arbeiten, während die Arbeitsplätze in der Bibliothek die Möglichkeit bieten, auch außerhalb der eigenen vier Wände zu arbeiten. Die phänomenal ausgestattete Küche ist wiederum der Ort, an dem Kontakte geknüpft werden und wunderbare, mehr oder minder intensive Gespräche stattfinden können. Bei Wein und selbstgekochtem Essen bieten sich mannigfache Möglichkeiten zum Austausch. In dem kleinen Städtchen Straelen ist das Übersetzerhaus eine Insel, auf der die Gedanken zwischen zwei oder mehr Sprachenufern treiben können, kurz verweilen, sich weiter tragen lassen und schließlich an ihrem Ziel ankommen.

Die ersten zwei Wochen habe ich mich mit komplexen Vokabelproblemen und der Rohübersetzung befasst und die bereits übersetzte Lyrik Vallejos gelesen. Es wurde deutlich, dass bei diesem Autor verschiedene Motive und Gegenstände ganz anders besetzt sind, als in den meisten literarischen Werken. So hat beispielsweise die Spinne den Stellenwert einer Art Spiegelfigur für den Menschen, die vielfach dazu dient, Empathie zu erzeugen. Dies steht im krassen Gegensatz zur üblichen Belegung von Arachniden als Ungeziefer, das im Dunkeln lebt und womöglich mit finsteren Mächten in Verbindung steht. Bei Vallejo sind Spinnen durchweg positiv belegt und stehen für eine profunde Menschlichkeit. Die dritte Woche galt dem zweiten Durchgang und der Überprüfung verschiedener problematischer Passagen. Hierbei war es von unschätzbarem Wert, die Bekanntschaft anderer Übersetzer*innen – genannt seien Lorel Manzano aus Mexiko, Teresa Ruiz Rosas aus Peru, Daniel Najmías aus Argentinien/Barcelona und José Aníbal Campos aus Kuba/Wien – mit Zielsprache Spanisch zu machen, die großartige Impulse geben konnten.

Es war ein Privileg und ein Genuss, mich drei Wochen lang an diesem besonderen Ort mit diesem besonderen Text zu befassen und mich vollends auf die teils gewöhnungsbedürftigen Bilder einzulassen, die er bietet. Ein Beispiel aus der Erzählung „Liberación“ / „Befreiung“ sei an dieser Stelle zitiert:

„„Wenn ich daran zurückdenke“, fährt er fort, „weiß ich nicht, wie es Palomino so lange aushalten konnte. Es war eine unbeschreibliche Qual. Ich weiß nicht, woher er wusste, dass schon lange bevor er überhaupt eingesperrt wurde, seine Vergiftung im Gefängnis geplant war. Die Angehörigen des Mannes, den er getötet hatte, verfolgten ihn bis über sein Unglück hinaus. Sie waren es nicht zufrieden, ihn zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt zu sehen und seine Familie in Ruin und Ächtung getrieben zu haben: Der Durst nach Rache reichte noch viel tiefer. Und nun schlängelte er sich durch die Gänge hinter Kellertüren und unter den Sporen der Flechten hindurch, die zwischen den Fingern der Kerkermauern wuchsen, und durchdrang die geheimsten Federn im Uhrwerk des Gefängnisses; er bewegte sich hier nun freier als zuvor unter dem Licht der Sonne nach dem ungerechten Urteil und schürzte die Wimpern zum infamen Hinterhalt in der Umgebungsluft des Gefängnisses, die der Verurteilte atmen musste. Als er davon erfuhr, war es, wie man sich vorstellen kann, eine schreckliche Überraschung; er erfuhr es und seitdem konnte es ihm niemand mehr ausreden.“

Das Zitat ist Teil einer Erzählung, in der es um einen Gefängnisinsassen geht, der letztlich verstirbt (sofern man dem Erzähler glauben will), da er wohl vergiftet wurde oder aber aus Angst vor der Vergiftung durch die Angehörigen seines Opfers. Zum Ende der Erzählung wird dies alles jedoch noch einmal vollständig infrage gestellt und der Erzähler erweist sich als gänzlich unzuverlässig. Dieses Spiel mit Gewissheiten und Ungewissheiten, mit der Zuverlässigkeit von Erzählfiguren und letztlich mit unserer Beziehung zur Wirklichkeit ist es, was diese Texte so besonders macht. In Verbindung mit den bereits beschriebenen sprachlichen und literarischen Finessen lässt jede der zwölf Erzählungen die Leser und Leserinnen mit einem gewissen Unbehagen zurück, das für literaturbegeisterte Menschen einen großen Genuss darstellt.