Lorel Manzano

Die Straelener Familie

Nach einer langen Reise kam ich in einer Februarnacht im Europäischen Übersetzer-Kollegium in Straelen an. Im Haus gab es Abendessen und ich wurde gastfreundlich eingeladen. Während des Gesprächs dachte ich an die hellenische Gastfreundschaft, denn es erinnert sich ein Gast zeitlebens des Mannes, welcher in fernem Lande mit Lieb' und Freundschaft ihn aufnahm.” (Die Odyssee).

Zum ersten Mal hatte ich die Ruhe und die Freiheit zu Übersetzen und eine wunderbare Bibliothek zur Verfügung. Bald entdeckte ich die besonderen Klänge des Hauses: die Schritte auf den Treppen, hinunter und hinauf, das Lachen auf dem Flur, die Gespräche der ÜbersetzerInnen aus aller Welt, und wie die Töne unserer Muttersprachen, manchmal laut und oft schwach, hinter den deutschen Wörtern klingen. Ich hatte mein eigenes Zimmer, und wenn jede von uns fünfhundert im Jahr hat und ein Zimmer für sich allein; wenn wir an die Freiheit gewöhnt sind und an den Mut, genau das zu schreiben, was wir denken […] und menschliche Wesen nicht immer nur in ihrer Beziehung zueinander sehen, sondern in Beziehung zur Wirklichkeit”, dann… (Virginia Woolf).

Es war noch Winter und ich übersetzte wieder ein Buch von Felicitas Hoppe ins Spanische, als ich mir plötzlich eine Erkältung einfing. Das grausame Virus nahm sich jeden Tag ein neues Opfer im Haus, und wer noch gesund war, trank den ganzen Tag Ingwer-Tee mit Honig, um sich zu schützen. Würden die literarischen Übersetzungen aus dem Deutschen und ins Deutsche in einer richtigen Krise stecken?

"Der Tag, an dem unser Onkel starb, war sonnig und klar", fängt  Hoppes Kurzgeschichte "Am Zoll” an, eine der zwanzig Geschichten aus dem Band Picknick der Friseure an. In diesem Buch fand ich die Themen und Leitmotive, die in Büchern wie Pigafetta und Verbrecher und Versager. Fünf Porträts erscheinen. Anreise und Abreise, Heimweh und Fernweh, Abschied und Familiengeschichten. Vielleicht sollte ich jetzt zugeben, dass mich die Geschichten von Reisenden und Familien besonders faszinieren. Einmal sprachen wir über unsere Erfahrungen als reisende Übersetzer, als ein neuer Verwandter in die Küche kam und am Gespräch teilnahm. Wäre es möglich, dass diese Familie auf ihn seit langer Zeit wartete? Natürlich kannten wir ihn nicht, aber wir erkannten ihn sofort. Der verlorene Onkel aus einem fernen Land, der uns humorvoll von sich selbst erzählte. „Wenn du nicht schläfst, so erzähle mir eine deiner schönen Geschichten, damit wir uns diese Nacht damit vertreiben können!” (Tausendundeine Nacht)

Als König wartet man jede Nacht schlaflos auf eine neue Geschichte und als Scheheraezaden überleben wir dank diesen Geschichten. So ist das literarische Leben. Später, als die Nacht tiefer wurde, wollten wir in der Küche, dem Treffpunkt aller Familien, über unsere Kindheit und über die Eltern sprechen, über unsere Autoren und die politische Situation unserer Heimat, auch über die Verlage, die uns zu wenig bezahlten, und über die Miete. Über unsere Essays, Erzählungen, Romane und über die Aufgabe des Übersetzers. „So wie die Äußerungen des Lebens innigst mit dem Lebendigen zusammenhängen, ohne ihm etwas zu bedeuten, geht die Übersetzung aus dem Original hervor. Zwar nicht aus seinem Leben so sehr denn aus seinem „Überleben“. (Walter Benjamin)

Während ich diesen kleinen Text schreibe, rufe ich in Erinnerung das schöne Bild von Renate in der Sonne, das lebhafte Lachen von Tuesday und Nina, die laute Stimme von Aníbal, die ständige Hilfe von Frau Peeters, Frau Wenke und Herrn Laumann; Luis, André und Milan mit den Fahrrädern durch die Landschaft von Nordrhein-Westfalen auf dem Weg in die Niederlande. Ein Geschenk des Lebens. Das EÜK bot mir eine innige, liebe Familie aus aller Welt rund um die deutsche Sprache, in der ich als Gastfreundin in den letzten Tagen vom Winter 2019 lebte.