Andrei Anastasescu

Ich verbrachte die zweite Hälfte des Oktober 2018 im Literarischen Colloquium Berlin, wo ich an meiner Übersetzung von Christian Krachts Roman Die Toten arbeitete. Der Einstieg in den Roman war schwierig, aber am Ende des Aufenthalts hatte ich die ersten fünfzig Seiten hinter mich gebracht. Fünf oder sechs Arbeitsstunden in der Abgeschiedenheit meines bequemen Zimmers waren täglich nötig, um den angemessenen Ton langsam zu ertasten – jene für Kracht typische Mischung aus Satire, Farce, Kitsch, Groteske und Parodie, gespickt mit Gruseleffekten und sogar zärtlichen Zwischentönen – sowie vor allem um die rumänische Sprache in die ungünstige Logik der indirekten Rede hineinzuzwängen; Krachts verschachtelter, an Thomas Mann geschulter Satzbau soll nämlich eine immer schneller werdende, rasch und zackig wie im Stummfilm ablaufende Handlung in sich aufnehmen, was den Übersetzer vor eine paradoxe Herausforderung stellt: wie kann man äußerst gewandte narrative Bewegung in statischen, behäbigen Sätzen ausdrücken, und zwar so, dass der Humor solcher stilistischen (An)Spannung nicht zum Opfer fällt? Nach Stunden asketischen Ringens um Sätze, die ich aus ihrer tückischen Maniriertheit heraus zum Tanzen bringen musste, war die Geselligkeit des Hauses – mit Lesungen, gemeinsamen Essen, Austausch mit anderen HausgästInnen, den LCB-Mitarbeiter·innen, Berliner Verleger·innen und Autor·innen – genau die richtige wohltuende Abwechslung.

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Ich hielt mich bereits sechsmal im LCB in den letzten zehn Jahren auf. Jedes Mal, wenn ich da bin, fühle ich mich eingeholt von einer anderen Zeitebene, von einer Zeit unter der Zeit, wenn ich so sagen darf. Diese unterschwellige Zeit ist ebenso Teil meines Lebens wie die normale, die mich ständig begleitet, die ich durchlebe, ohne sie zu hinterfragen. Aber sie besteht aus nur wenigen Monaten, ein jeder getrennt von den anderen durch lange Zeiträume. Bei jedem LCB-Besuch flammt diese (sonst schlummernde) Zeit wieder auf, und mich erfasst eine Art Nostalgie, die etwas mit der konkreten Umgebung zu tun hat, mit der Materialität des Hauses, des Parks, des Sees, und mit meiner Anwesenheit dort, die Teil dieser spärlich besetzten Zeit, dieses Stücks Vergangenheit ist. Vielleicht erlebe ich meine je kurzen LCB-Aufenthalte im Jetzt als bereits vergangene Zeit, ich lebe da im Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit. Und jedes Mal, wenn ich zurückkomme, schlägt mir dieses Gefühl von Flüchtigkeit entgegen, ein Gefühl, das andererseits mit jedem neuen Besuch immer mehr zum Gedächtnis wird, zur Geschichte.

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Das Haus, die Umgebung, die Wohn- und Arbeitsbedingungen, die Gastfreundlichkeit der MitarbeiterInnen, die Aufmerksamkeit, die man genießt, die mühelose Art und Weise, wie man ins literarische Getriebe kurzfristig eingebunden wird, all das trägt fast utopische Züge und deutet auf eine mögliche Übersetzer·innen- und Autor·innengemeinschaft hin, die es in Rumänien nicht gibt und leider in der nahen Zukunft auch kaum vorstellbar ist. Die Würde eines Berufs, der bei uns aus finanziellen Gründen keiner ist, sowie das individuelle übersetzerische Selbstwertgefühl scheinen nach so einem Aufenthalt wiederhergestellt. Auch diese zwei Wochen wirkten nach meiner Heimkehr als eine Art erneuerbare Energiequelle lange nach. Für all das bin ich dem TOLEDO-Programm und dem LCB von Herzen dankbar.