Anne Posten

Im Rahmen meiner Arbeit an Anja Kampmanns tollem und vielfältigem Roman Wie hoch die Wasser steigen und mit Unterstützung einer Toledo-Mobilitätsförderung habe ich 10 intensive, bereichernde und überraschend sonnige Maitage in Aberdeen, Schottland, verbracht. Die Hauptfigur des Romans, Waclaw Großzak, ist Bohrarbeiter und der Roman spielt (neben vielen anderen Schauplätzen) auf verschiedenen Bohrinseln, an die er sich während einer Reise durch Europa in Rückblenden erinnert. Das Buch beinhaltet also einen großen technischen Wortschatz und – was letztendlich noch wichtiger war – ein tiefes Wissen darüber, wie so eine Ölplattform funktioniert, wie sie aussieht und wie die Menschen an ihr und um sie herum arbeiten, leben und interagieren. Ich musste also recherchieren und ins Gespräch kommen mit Menschen, die das selbst erlebt hatten.

Obwohl Aberdeen nur nebenbei im Buch vorkommt, ist die Stadt einer der wichtigsten Orte für die Nordseeölindustrie. Da sie eine englischsprachige Stadt ist (ich übersetze ins Englische) und auch ein Maritimes Museum mit einer Ölindustrieabteilung hat, war sie für mich die perfekte Wahl für Recherche und eine intensive Arbeitsphase.

Im Museum gibt es first und foremost ein großes maßstabgetreues Modell einer Nordseeölplattform, welches einen Überblick schafft, der mit Bildern allein und selbst mit einem Besuch auf einer solchen Plattform unmöglich wäre. Tafeln haben sowohl den Vorgang der Erdölaufbereitung als auch wichtige Geschichten über die Entwicklung der Industrie, Sicherheitsmaßnahmen und das tägliche Leben geschildert. Und das alles natürlich mit viel Vokabular – aber alles wurde auch so erklärt, dass ein Laie wie ich die Zusammenhänge verstehen konnte. Für das Buch ist es wichtig, dass ich dieses Wissen hatte, damit alle Referenzen stimmig sind, aber damit es auch klar für den normalen Leser wirkt, denn letztendlich soll es nicht technisch belastet oder verwirrend wirken, sondern einfach authentisch – und das kann man nur schreiben, wenn man sich ein bisschen auskennt!

Im Museum gab es auch zwei Dinge, die mich besonders fasziniert haben: erstens eine echte Kabine von einer Plattform, ähnlich wie die, in der Waclaw wohl „lebte“, und zweitens ein Video, in dem Bohrarbeiter eine Plattform und ihr Funktionieren vorstellen. Das Tolle an dem Video war, dass mir alles sehr bekannt vorkam – weil die Figuren und die Szenerie im Buch so authentisch beschrieben werden. So wusste ich, dass ich mit meiner Übersetzung auf der richtigen Spur war, weil ich schon ein Gefühl für die Atmosphäre entwickelt hatte.

Ich fand Aberdeen neben dem Museum auch eine sehr interessante und außergewöhnliche Stadt. Den Spitznamen „the grey city“ trägt es trotz Sonne zu Recht – fast alle Gebäude sind aus einem intensivgrauen Granit gebaut. Diesen Granit abzubauen war interessanterweise bis zu den 1970er Jahren die Hauptindustrie Aberdeens – erst danach kam das Öl. Die Ölindustrie ist sehr präsent in Aberdeen, aber die Stadt ist auch sehr vielseitig, mit exzellenten Restaurants und Cuisine aus aller Welt, einer überraschend lebendigen Kunst- und Kulturszene und einem der schönsten Parks – Seaton Park, am Fluss Don –, in dem ich je gewesen bin.

Aber hauptsächlich war es für mich eine intensive Arbeitszeit. Im Buch ist Waclaw viel in Hotels – immer unterwegs, immer woanders, immer in diesen Zwischenorten, die irgendwie ein Zuhause bieten: nur nicht das eigene. So war es sehr passend, dass ich ganz viel von dieser Übersetzung in einem Bed-and-Breakfast Zimmer geschrieben habe. Manchmal ist die richtige Stimmung für eine Übersetzung einfach unentbehrlich!


Unbedingt lesen: Anne Postens Journal zur Übersetzung des Romans Wie hoch die Wasser steigen von Anja Kampmann: Von Liebe und Arbeit