Die gute Nachricht, dass ich eine TOLEDO-Förderung bekommen habe, kriege ich, so weit ich mich erinnern kann, im Februar. Ich plane den Aufenthalt für Juni, weiß, dass mein Autor, der Dramatiker Mehdi Moradpour, in der Zeit gerade nach München umzieht. Was gut passt, weil wir dann beide neu in Bayern sind und ich noch den Abschluss der Theaterspielzeit miterleben kann. Dann kommt März. Und mit ihm: Unsicherheit, Angst, Planungsunmöglichkeit und im Bezug auf Stipendienaufenthalte Fragen wie: soll ich gehen oder mich für immer zu Hause verbarrikadieren? Wie soll man und frau mit anderen Stipendiat∙innen umgehen? Wie soll ich in der gemeinschaftlichen Küche hantieren, wenn ich vor einer Gabel Angst kriege, die eine andere Stipendiatin gerade noch in der Hand hatte? Was soll ich machen, wenn der Nachbar hinter der Wand heftig zu husten anfängt?
Ich sage also meinen Aufenthalt im April ab. Erst Ende Juli entscheide ich , dass ich es im September doch wagen werde. Und es ist genau das Wort: wagen. Nach vielen Monaten zu Hause, nach dem zwanghaften Reiseentzug, Pflichtquarantäne, Lockdown, fühle ich mich wie in die Vergangenheit versetzt. Ich bin wieder 15 Jahre alt, Reisen ist mir nicht so üblich und zugänglich, ich träume nur davon.
Ich setze meine Mund- und Nasenbedeckung auf und mich in die PolRegio Stettin-Berlin. Kurz vor Tantow muss ich an diese Schmetterlinge im Bauch denken, die ich früher jedes Mal gespürt habe, wenn ich über die Grenze gefahren bin. Da ich sie irgendwie wieder spüre. Ich denke an die Kontrollen und Schlangen an den Grenzen von früher, an die Aufregung bei dem Gedanken an das Shopping im Westen. Ich muss wieder daran denken, wie ich mit meiner Mutter in den 90ernin die nächstliegende Großstadt gefahren bin, wo in einer Buchhandlung „Der Spiegel“ erhältlich war. Und wie ich dann auf der Rückreise die Zeitschrift in der Hand hielt, wie eine Trophäe. Und wie ich sie dann monatelang gelesen habe. Einerseits, weil die Sprache für mich noch viel zu schwierig war, andererseits aber, weil ich sie wirklich von A bis Z gelesen habe, Kleinanzeigen inklusive, weil sie so teuer und so schwer zu bekommen war, dass ich wusste, sie muss für länger genügen. Und ich muss an diese Kinder aus dem Grenzgebiet denken, die angeblich während des Lockdowns gefragt haben, was eine Grenze ist, da sie ja tagtäglich darüber einfach so hin und her laufen, als ob nichts wäre. Ich muss an die Familien denken, die während des Lockdowns getrennt wurden, und an die an der deutsch-polnischen Grenze protestierenden Deutschen und Polen mit Transparenten, auf die „Wir vermissen euch“ geschrieben war.
Dann steigen die Zollbeamten ein, kontrollieren meinen Ausweis, ich will meine Mund- und Nasenbedeckung wegmachen, wenn einer von ihnen auf mein Abbild guckt. Er verdeckt jedoch mit seinem Finger die untere Hälfte meines Fotogesichts und sagt: „Lassen Sie, ich kann es ja auch so machen“. Er lacht, gibt mir mein Dokument zurück und ich sage: „Danke“.
Dieses erste auf Deutsch gesagte Wort nach einer längeren Pause klingt immer mehr wie ein metallenes Truthahnkollern. Wie aus einer nicht geschmierten Maschine. Der Sprechapparat ist überrascht, dass er auf einmal andere Laute herausbringen soll. Ohne Warm-Up, ohne Vorwarnung, die vom Kopf einfach nicht rechtzeitig geliefert worden ist. Ich weiß es schon, ich kenne das sehr gut. Ich kenne auch den Stress vor einer sicheren phonetischen Niederlage. Die nächsten Wörter sind reibungsloser, gelungener, immer runder, immer flüssiger. Der Sprechapparat streckt sich, gibt nach, passt sich den langen Vokalen an, dem weichen E, dem nasalen NG und dem vokalisierten R. In München angekommen denke ich nur noch auf Deutsch, führe innere Monologe in der deutschen Sprache. Die Melodie ist wieder da. Was für ein Glück! Ich kann es noch, ich kann es wieder, ich habe es nicht verloren. Was für eine Erleichterung! Was für ein schönes Gefühl! In der dritten Nacht träume ich dann in meiner Wahlsprache. Und muss an meinen ersten Deutsch-Traum denken, in dem ich auf einem weißen Sofa vor einem riesigen blauen Bildschirm gesessen habe, auf den Sätze projiziert wurden. Sätze mit „weil“ und Sätze mit „dass“, Konditionalsätze, Hauptsätze mit untergeordneten Sätzen, die von unten nach oben flossen, wie bei einem Karaoke-Abend. Sätze, die wunderschön waren und hell glänzten. Und ich war die einzige Zuschauerin dieser wundervollen Show! Sie flossen auf diesem Bildschirm nur für mich!
Aber noch bin ich auf der Reise. Ich steige in den ICE-Sprinter in Berlin Gesundbrunnen um. Im Wagon tragen alle tatsächlich eine Mund- und Nasenbedeckung, was in polnischen Zügen eher eine Seltenheit ist. Vor allem, dass die Nasen hier tatsächlich ganz bedeckt sind. Vielleicht steigen daher bei uns die Zahlen immer noch so heftig. Kurz vor der Reise ging ein Gerücht um, dass jetzt alle aus dem Ausland Zurückkehrenden wieder in die Zwangsquarantäne geschickt werden. Im Hinterkopf habe ich also ständig diese Frage: was, wenn ich in ein paar Tagen wieder zurück muss oder wenn die Reise durch die Grenze wieder so schwierig wird? In Berlin trinke ich einen Kaffee , muss meine Telefonnummer und Adresse angeben, mich einchecken usw. Das wird bei uns nicht durchgeführt. Ich verstehe die Notwendigkeit, muss aber sofort denken: mit jeder eingegebenen Nummer wächst ja die Möglichkeit, dass ich angerufen werde. Was dann? Werde ich eine Quarantäne in meinem kleinen Stipendiatenzimmer verbringen müssen? Oder lande ich sogar in einer Isolierstation, einem Krankenhaus, wovor ich die größte Angst habe?
Die Selbstverständlichkeit im Umgang mit der ganzen Situation im Stipendiatenhaus und in der gastgebenden Institution, der Internationalen Jugendbibliothek, beruhigen mich ein wenig. Beim ersten Treffen mit meinem Autor bin ich kurz nicht sicher, ob wir uns umarmen dürfen. Das löst er schnell auf, indem er sagt: „Ganz kurz nur“. So machen wir es und erzählen einander zuerst, wie wir die Lockdownzeit erlebt haben. Sehr schnell stürze ich mich in die Arbeit an der Übersetzung, in die Attraktionen der Stadt, gehe sogar das erste Mal seit dem Ausbruch der Epidemie ins Theater, probiere Spezialitäten der bayerischen Küche, bewundere mit Erstaunen die Dirndl-Schaufenster, besuche das Fassbinder-Grab. Ich spüre, wie ich entspanne, wie sich die ganzen Ängste langsam auflösen, wie sie verschwinden.Wie ich mich daran gewöhne, in der sogenannten neuen Normalität zu funktionieren. Wie eingefrorene Projekte in fast tagtäglichen E-Mails wieder ins Leben zurückkommen. Wie vieles aus dem alten Leben zurückkehrt. Nicht alles. Aber eine wichtige Sache schon: die Selbstverständlichkeit dessen, dass ich hier bin, in meiner zweiten, ja, nennen wir es: Heimat. In dem Land, zu dem ich mich aus eigener Wahl zugehörig fühle. Mit allem und trotz allem. Und dass mir das niemals weggenommen werden kann. Auch wenn die Grenze ab und zu schließt, ich bin sowieso immer auf deren beiden Seiten.
Iwona Nowacka, München, TOLEDO-Mobilitätsfonds-Aufenthalt September 2020
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