Sich von außen betrachten und von innen sehen
Über Kannibalen, ehemalige Arbeiter, Übersetzer·innen und Milizen
Die Übersetzerin Simone Homem de Mello taucht für uns in ihrem Beitrag tief in die Geschichte Brasiliens ein und begibt sich gemeinsam mit ihren Landsleuten auf die Suche nach einer nationalen Identität. Ein Meilenstein für die brasilianischen Künstler∙innen war das Anthropophagische Manifest des Dichters Oswald Andrade von 1928, in dem er eindrucksvoll beschreibt, wie sich die Künstler∙innen der brasilianischen Moderne die europäische Kunst einverleibten und in etwas ganz anderes, etwas Eigenes, umwandelten – eine Metapher, deren Anwendung auf die Tätigkeit des literarischen Übersetzens sich sofort erschließt. Heute wiederum gewinnt die Auffassung zunehmend an Bedeutung, dass Amerika und Brasilien nicht entdeckt, sondern von den Europäern besetzt worden sind. Dieser Paradigmenwechsel wirkt sich auch auf die Theorie und Praxis des literarischen Übersetzens aus, so Simone Homem de Mello.
Jenseits von Original und Kopie.
Die Kulturtechnik der „Antropofagia“ im brasilianischen Modernismus
Durch die Betonung des Aspekts der Hybridität, mit welcher der Befreiungskampf aus kolonialen Machtstrukturen geführt wurde, ist das modernistische Konzept noch heute für Künstlerinnen und Künstler relevant. Die Antropofagia eröffnete einen postkolonialen Vorschlag für die Übersetzung von Kulturen, welcher sich nicht im Kopieren eines Originals erschöpfte, sondern einen interkulturellen Verhandlungsprozess in Gang setzte, der essentialistische Vorstellungen von kultureller Identität unterwanderte.