Bei sich haben
„Manchmal fühlt es sich an, als hätte ich sie gegessen.
Manchmal denke ich, ich wäre ein Kannibale.“
Aus der Erfahrung einer Lebertransplantation sucht David Wagner andere Bedeutungsebenen der Anthropophagie und liest einen Roman, in dem ein Mensch aus Liebe verspeist wird.
What's within
"Sometimes it feels as though I've eaten them.
Sometimes I think I'm a cannibal."
Drawing on his experience of a liver transplant, David Wagner searches for alternative meanings of anthropophagy and reads a novel in which someone is eaten out of love.
i-juca piranha
„Den Begriff des Kannibalismus, oder aufgehübscht, der Anthropophagie, fand ich immer unverdaulich, in erster Linie, weil die als Kannibalen Bezeichneten nie eine Chance hatten, Stellung zu beziehen. Und ich weiß nicht, warum ich einen Text, den ich übersetze, verschlingen, verdauen, in anderer Form wieder herausspucken sollte?“ – fragt sich Odile Kennel bei ihrer Nachdichtung des Gedichts i-juca piranha von Érica Zíngano, welches selbst auf vielfältige Weise mit dem TUPI-Begriff spielt.
i-juca piranha
piranha (etim. - peixe dentado) (s.) – PIRA-
NHA, o mesmo que pirãîa (v.) (Lisboa, Hist.
Anim. e Árv. Do Maranhão, fl. 173)
PIRANHA, tisoura; peixe de dentes muito
cortantes.
Тупі трупи – Tupi trupy
Mit Mychail Semenko, Mykola Chwyljowyj und Majk Johansen stellt Claudia Dathe drei Protagonisten der avantgardistischen Bewegungen der Ukraine vor, die für die künstlerischen Widerstands- und Erneuerungsstrategien der 1920er Jahre stehen. Dathe betrachtet die damaligen Bestrebungen, sich von den kolonialen Praktiken Russland loszusagen durch das Prisma der Antropofagia und stellt so erhellende, neue Bezüge her.
Тупі трупи – Tupi trupy
Claudia Dathe introduces Mychail Semenko, Mykola Chwyljowyj und Majk Johansen, three protagonists of the Ukrainian avant-garde movement who showcase artistic strategies of resistance and renewal in 1920s Ukraine. Through the prism of anthropophagy, Dathe considers their attempts to break with Russia’s colonial practices and thereby establishes new, illuminating connections.
Von Schranken und Überschreitungen
Ein Mosaik mit anthropophagischen Motiven
Anhand von Beispielen aus der belarussischen Kunstszene ergründet Iryna Herasimovich das revolutionäre Potenzial von Anthropophagie und beschreibt im Gegenzug die kannibalischen Eigenschaften eines diktatorischen Systems, das in die intimsten Lebensbereiche der Menschen eindringt. Herasimovich stellt verschiedene anthropophagische „Überlebensmodi“ dar und erarbeitet ein Verständnis von Anthropophagie als Konzept zwischen Erstarrung und Einverleibung. Eine herzliche „Einladung zum Überwinden der gewohnten Denkschranken“.
On Limits and Transgressions
A mosaic with anthropophagic motifs
Drawing on examples from the Belarussian arts scene, Iryna Herasimovich explores the revolutionary potential of anthropophagy and describes in turn the cannibalistic characteristics of a dictatorial system which penetrates the most intimate areas of people’s lives. Herasimovich’s essay showcases various anthropophagical “modes of survival” and works towards an understanding of anthropophagy between assimilation and ossification. A hearty invitation to “overcome our habitual limitations of thought”.
Vom Genießen des Artgenössischen – ein Fetzenbild (Flesh fiction)
Patricia Klobusiczky nähert sich dem Konzept der Anthropophagie, das zunächst in ihrer Lebens- und Lesenswelt nicht vorzukommen scheint. Bei näherem Hinsehen begegnet es ihr plötzlich überall und präsentiert sich gar als eine Art Universalschlüssel zum Weltverständnis. Eine Variation der antropofagiá zwischen Abscheu und Faszination, Einverleibung und Einverliebung.
On savouring a fellow human – a patchwork (flesh fiction)
Patricia Klobusiczky takes a closer look at anthropophagy, a concept she initially thinks has nothing to do with her life. But on closer inspection, it turns out it’s everywhere – and even offers a kind of skeleton key to understanding the world. A reflection on antropofagiá which hovers between horror and fascination, incorporation and infatuation.
Anleitung zum Schmerzessen
Ein Rezept fürs Performance-Übersetzen
Logan February reflektiert das Konsumieren und die Umgestaltung der Werke Marina Abramovićs in seiner·ihrer Kunst und Schreiben. Die eigene künstlerische und akademische Beziehung zum Werk der Performance-Künstlerin beschreibt February als „eine Art ekphrastische Übersetzung“. Insbesondere die Spirit Cooking-Performance (1997) hat February inspiriert; sie ist eine Vorlage, um Schmerz und Gewalt als Kunst darzustellen, und zwar nach den Bedingungen der Künstler·in selbst. Anhand Marina Abramović, der Schriftstellerin Sakaya Murata und anderen Essays dieser Reihe erforscht February das subversive, queere und ermächtigende Potential verschiedener Formen kannibalistischer Zeremonien.
Eat the Pain
A Recipe for Performance Translation
Logan Febuary reflects on their consumption and transfiguration of Marina Abramović’s works through their own art and writing. February describes their artistic and academic relationship to Abramović’s work as “a form of ekphrastic translation”. In particular, the 1997 performance Spirit Cooking is an inspiration, a template for presenting pain and violence as art, on the artist’s own terms. Drawing on influences from Abramović to Sakaya Murata and other essays in this series, February explores the subversive, queer and empowering potential of different forms of cannibalistic ceremonies.
Titty, or not titty, that is the question
Uljana Wolf considers the trope of cannibalism as a decolonial motif in translation theory with scepticism and humour. In her contemplation of Tarsila do Amaral’s paintings, she identifies a continuation of the colonial perspective of Antropofagia. Wolf’s gaze turns to Lygia Clark's Performance “Baba Antropofágica” (1969), in which threads are unwound from a mouth. The unwinding of a foreign body from one's own mouth – an anti-anthropophagic analogy to one’s own translation practice?
Titty, or not titty, that is the question
Mit Skepsis und Humor blickt Uljana Wolf auf die Kannibalismustrope, die in der literarischen Übersetzungstheorie der letzten Jahre als dekoloniale Figur interpretiert wird. Bei der Betrachtung der Bilder Tarsila do Amarals erkennt sie eine Kontinuität der kolonialen Perspektive der Antropofagia. Uljana Wolfs Blick richtet sich auf Lygia Clarks Performance »Baba Antropofágica« (1969), in der Fäden aus einem Mund abgespult werden. Das Abspulen eines Fremdkörpers aus dem eigenen Mund – eine anti-anthropophagische Analogie zur eigenen Übersetzungspraxis?
Die uralte Berührung
»Ein kleiner, hagerer Mann mit einem abgetragenen, dunkelgrünen Anzug, leuchtend rotem Bart und einem weit über den Kopf gezogenen Strohhut steigt auf dem Praça da Sé in São Paulo aus einem Reisebus. Er wird von einer Person ähnlicher Körpergröße, breiter gebaut, mit einer luftigen Tunika, europäisch gearbeiteten Lederschuhen, haarlosem Kinn, dunklen, leuchtenden Augen und einem braunen Der Pate-Hut, unter dem ein schwarzer, geflochtener Zopf hervorschaut, per Handschlag begrüßt. Gemeinsam gehen sie in eine nahegelegene Lagerhalle.«
An Ancient Encounter
"A slight, gaunt man in a dark green threadbare suit disembarks from a coach at Praça da Sé in São Paulo. He has a bright red beard and a broad straw hat pulled down firmly on his head. Someone comes to greet him with a handshake. This person is a similar height, though somewhat broader, and is wearing an airy tunic and European leather shoes. He has a smooth chin, bright eyes, and a black plait peeking out from beneath a Godfather hat. Together they stroll to a nearby warehouse."
Verschling(ung)en – Zum kannibalischen Übersetzen eines kannibalischen Textes
Haroldo de Campos: Cadavrescrito (Galáxias) – Übersetzung und Kommentar
Die galáxias von Haroldo de Campos (1929-2003) lassen sich nicht übersetzen. Charlotte Birkner-Behlen und Mandy Gratz haben es trotzdem getan und stellen hier ihre Übersetzung von cadavrescrito vor.
Von den Verlockungen des Kannibalismus und des Vatermordes
Eine Reflexion über die Weitergabe von Schlüsselkonzepten der beiden brasilianischen Avantgarden der Moderne
In ihrem Artikel rekapituliert Simone Homem de Mello zentrale Episoden der Überlieferung des Antropofagia-Begriffs in der brasilianischen Kulturgeschichte seit dem sechzehnten Jahrhundert. Dabei lotet sie metaphorische und metonymische Verschiebungen aus, die bei der Tradierung des Kannibalismus-Bildes stattgefunden haben, und hinterfragt die Diskrepanzen zwischen dem Diskurs zu dieser Kulturtechnik und der mit ihr verbundenen literarischen und übersetzerischen Praxis.
Tropikalypse now
Eine Verschreibung aus vorhandenen Worten und Bildern der bisherigen 13 Jahre, neu übersetzt, transformiert und collagiert im Jahre 2023.
Wahrhaftige Beschreibung der Tropikalisierung des ostdeutschen Künstlers Jan Brokof.
Kannibalisches Übersetzen oder Zur Poetik der Einverleibung
Anthropophagie, die metaphorische Einverleibung europäischer Kunst und Literatur und deren Transformation in ein ‹Eigenes›, ist ein wirkmächtiger kultureller Topos aus dem brasilianischen Modernismus. Wie lässt sich der kannibalische Ritus des Verschlingens des Anderen auf den Prozess des Übersetzens übertragen? Welche Möglichkeiten, aber auch welche Schwierigkeiten birgt der Begriff eines ‹kannibalischen Übersetzens›?
Kannibalismus
Der brasilianische Lyriker Ricardo Domeneck erörtert, welche Vorurteile es gegenüber dem Kannibalismus und Menschenopfern im Namen der Religion in der Kolonialzeit gab und weiterhin gibt. Er setzt sich mit dem Begriff des Ekels in unserem Verhältnis zu anderen Spezies auseinander und stellt uns vor, wie Oswald de Andrades Aufruf zu einer kulturellen Anthropophagie in verschiedenen historischen Kontexten in Brasilien und im Ausland aufgenommen wurde.
Anthropophagie und Gastfreundschaft
zu Oswald de Andrade und Haroldo de Campos
Für die brasilianische Kultur des 20. Jahrhunderts ist Anthropophagie ein zentraler Begriff. Oliver Precht hat einige der wichtigsten Büchern und Texten zu dem Thema ins Deutsche übersetzt. In seinem Beitrag beleuchtet er die politische Dimension des allgegenwärtigen Verschlingens (und also Übersetzens) anderer Kulturen.