Berührungsängste
Masken, Abstand, Kontaktverbote: Berührungsängste haben in Zeiten der Coronapandemie eine Sonderkonjunktur. Und motivierten uns zu der Frage, welche Berührungsängste beim Übersetzen eigentlich eine Rolle spielen. Übersetzer·innen kennen das: die Hemmungen, einen vielfach übersetzten Klassiker neu anzugehen oder sprachlich komplexen Ausgangslagen zu begegnen; die Scheu, harten, verstörenden Stoffen eine Sprache zu geben; die Gefahr, politisch vermintes Gelände zu betreten, oder auch die eigene Position mit den postkolonialen Diskursen unserer Tage zu hinterfragen. Wir haben 30 Übersetzer·innen aus aller Welt nach ihren Berührungsängsten beim Übersetzen gefragt, und viele interessante, zum Teil sehr persönliche Antworten erhalten. Sie zeigen, wie stark Übersetzer·innen in politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen involviert sein können, und wie spannungsgeladen der „Austausch der Kulturen“ mitunter verläuft. Auch hier mischen sich die Formen: kurze Essays sind dabei, Statements aus Frankreich, ein Gespräch der Übersetzerin Roberta Gado mit ihrem Autor Clemens Meyer, bewegte Bilder einer Diskussion mit Camille Luscher und Carolin Emckes französischem Übersetzer Alexandre Pateau, und schließlich ein künstlerisches Video aus Stettin: Iwona Nowacka erzählt von ihrer Liebe zum Deutschen, der „Sprache des Feindes“. Die Reihe wird fortgesetzt.
»Im Sommer habe ich während des ersten Corona-Lockdowns meine Übersetzung von Joshua Cohens Post-Holocaust-Roman Witz abgeschlossen. Der satirische Roman aus dem Jahr 2010 endet mit einem langen inneren Monolog des im Sterben liegenden letzten Auschwitzüberlebenden Joseph – ein Prosagedicht des Grauens, denn vor Josephs Augen zieht die Geschichte der Judenverfolgung von der Zerstörung des Zweiten Tempels über die Kreuzzüge des Mittelalters und die Pogrome in Osteuropa bis zum nationalsozialistischen Genozid vorbei.«
»Vor etwa zehn Jahren erhielt ich den schönen Auftrag, den autobiographischen Roman einer deutschen Autorin ins Ungarische übersetzen. Dass die Autorin in meinem Alter war, schien zunächst irrelevant zu sein, aber schon während der ersten Lektüre des Buches empfand ich, was ich hin und wieder gegenüber Autorinnen und Autoren, deren Werke ich übersetze, empfinde: eine Vertrautheit, ja seelische Verwandschaft, als seien wir Zwillinge. [...] Kurzum: ich hörte meine eigene Stimme in dem Buch, es beflügelte meine Arbeit.«
»In diesen Zeiten des Lockdowns und Abstandhaltens habe ich viel über die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Nähe, nach einem engen Kontakt zu einer verwandten Seele oder einem klugen Kopf nachgedacht. Wie so häufig existiert auf Deutsch ein perfekter Begriff, um dieses Gefühl zu vermitteln und ihm eine Form zu geben: Berührungssehnsucht. Es ist diese Sehnsucht nach Gemeinschaft, die mich als Übersetzerin maßgeblich antreibt.«
»Fast jede·r würde unterschreiben, dass man aus so mancher Lektüre nicht unbeschadet hervorgeht, was aber ist mit manchen Übersetzungen? Vom Unbehagen, das mich befällt, wenn ich verstörende und negative Gefühle oder Stimmungen in meine Muttersprache übertrage? Natürlich hinterlässt das Spuren. Bilder, die sich in mein Gehirn einbrennen und in manchen Situationen meine Wahrnehmung beeinflussen, sogar von Gegenständen in der Welt, die mich umgibt.«
»Die eigentliche Frage, die ich mir als Mensch stellen will – und mithin als Autorin und Übersetzerin, denn meine Arbeit besteht darin, die Welt (meine eigene Welt und die anderer) in meinen Worten zu erzählen – diese Frage lautet: Wie kann ich eine gute Verbündete sein?«
»Eine meiner Berührungsängste bestand tatsächlich weniger in dem Gefühl, nicht den notwendigen Erfahrungshorizont zu besitzen, sondern im Gegenteil, ich stand meinem Text viel zu nah, um die nötige Distanz zu wahren, die jeder Übersetzung gut tut.«
– Aber trotzdem findest du, dass das möglichst von jemand anderem hätte übersetzt werden sollen?
– Naja, ich denke, es wäre gut, wenn es mehrere Übersetzungen gäbe.
»Ängste hatte ich immer schon viele: vor anderen Menschen, vor lauten Zügen, vor Großstadt und Einsamkeit. Vor dem leeren weißen Blatt. Wahrscheinlich deswegen ist die Übersetzung in meinem Leben einst so wichtig geworden – sie öffnete mir den Großraum Literatur, blieb aber mit dem Gefühl der Nähe und Intimität verbunden. Mit 23 glaubte ich, mich hinter der Autor·in verstecken zu können, übersetzend meine literarische Stimme zu erheben, ohne mich direkt angreifbar zu machen.«
»Eure Einladung erreicht mich in der von außen betrachtet ruhigsten, sesshaftesten Periode meines Lebens, doch unter der lächelnden Oberfläche brodelt es gewaltig – keine Vorahnung, sondern Gewissheit: Es kommen härtere Tage. Meine bisherige Lebensstrategie war stets die Flucht – nur weg, immer weiter. Jetzt aber bin ich auf das innere Exil, auf ein Kopfdasein via ZOOM reduziert, bei dem man allem in die Augen schauen muss. In der Corona-Windstille und im Halbschlaf kommt alles hoch.«
»Die bisher größte Berührungsangst beim Übersetzen erlebte ich bei der Neuübersetzung von Thomas Manns „Tonio Kröger“. Das Werk ist auch in Japan sehr bekannt, wurde mehrfach von renommierten Germanist·innen und Übersetzer·innen ins Japanische übersetzt – einige dieser Übersetzungen haben ihrerseits Klassikerstatus.«
»Eine Übersetzerin, die den Mut hat, die vielen Tabuzonen zu berühren, muss mit Ärger rechnen. Als ich Ilija Trojanows „Der Weltensammler“ ins Usbekische übersetzte, wurden die Beschreibungen weiblicher Nacktheit oder Andeutungen körperlicher Annäherungen zensiert.«
»Allmählich wurde mir klar, dass diese Sprache nicht nur schön klingt, sondern auch die Grenzen meiner Welt verschieben kann. Zu Hause rief meine Liebe zur deutschen Sprache eher verhaltende Reaktionen hervor: „aber es gibt doch so viele schöne Sprachen auf der Welt!“ Meine spätere Berufswahl stieß auf ähnlich gedämpfte Begeisterung, zuletzt auf ein resigniertes „na gut, die Sprache des Feindes muss man können“.«
»Weil viele meiner Autor·innen fließend Englisch können, denke ich auch an sie, da sie unweigerlich mitlesen. Wer kann schon ermessen, wie groß der Einfluss ist, den sie auf mich haben, wenn ich sie unbewusst mitadressiere. Diese Berührungsangst habe ich weitgehend überwunden, doch sie lauert immer noch im Hintergrund. Bin ich der Aufgabe gewachsen, die Wünsche des Genies zu erfüllen? Kann ich Lyrik und Prosa überhaupt (nach-)schreiben? Indem meine Autor·innen mitlesen, mitdenken, mitschreiben, wandern sie – ihr Geist – mit in die Flasche, gehen mit auf die Reise ins Ungewisse. Wer weiß schon, von wem die Flasche gefunden wird.«
»[...] Als Übersetzerin muss ich mich in seinen Kopf hineinschleichen, ihn aus der Nähe und aus der Distanz betrachten, die Spielanordnung des Autors studieren, irgendwie nachahmen. Ich muss Fabers Stimme hören, nicht nur im übertragenen Sinne, als Verkörperung der Syntax, sondern seine ganz reale: wie klingt sie?«
»[...] Schwierig sind zur gleichen Zeit die Annäherungsversuche an Thomas Melles Die Welt im Rücken – eine längst überfällige, immer wieder unterbrochene Übersetzung, deren Stoff rund um die bipolare Erkrankung des Autors („wenn die Neuronen außer Rand und Band feuern“) mich als Hochsensitiven in Mitleidenschaft zieht. Die Arbeiten bedeuten lange Tage am Bildschirm, parallel zum Lockdown mit all seinen Folgen.«
»Zu den „Berührungsängsten“ fällt mir als Erstes ein etwas aus der Mode gekommener Begriff ein: Berufsethik. Aspekte der Moral, des Respekts und der kritischen Reserve können sich darin ausdrücken – nicht die schlechtesten Begleiter im Leben als Grenzgänger zwischen den Sprachen und Literaturen.«
»[...] In diesem Moment wurde mir klar, was Zensur eigentlich ist. Sie ist eine Hexe, die Dichter verstummen und erblinden lässt. Mir ging durch den Kopf, dass der iranische Freund mit der Auswahl seiner Gedichte vielleicht vorsichtiger sein sollte. Sie zu publizieren war riskant.«
»Vor relativ kurzer Zeit kam die Diskussion darüber auf, ob Schriftsteller und Übersetzer eine Legitimierung im Hinblick auf ihre Themen mitbringen müssen. Es wurde die Ansicht vertreten, sie müssten über den erforderlichen Erfahrungshintergrund verfügen, um einen „sensiblen“ Text entweder zu schreiben oder zu übersetzen. Nachdem ich gerade die Übersetzung des Erzählbandes Der Trost runder Dinge von Clemens Setz abgegeben habe, in der unter anderem auch das Thema einer Panikattacke behandelt wird, kann ich nicht behaupten, dass es mir in irgendeiner Weise geholfen hat, die „legitimierenden“ Kriterien für diesen Auftrag zu erfüllen. Ich habe zwar früher einmal eine Panikattacke durchgemacht, aber das wirkte sich auf die Übersetzung selbst kaum aus.«
»Eine bestimmte Art von Angst hat mich lange vom Übersetzen abgehalten: Anders als beim literarischen Schreiben hat man immer ein Original vor sich, das einen, so kommt es mir wenigstens vor, permanent anschaut. Einer vorher existierenden Schrift folgen zu müssen, hatte etwas Beängstigendes für mich.«
»Ich übersetze in eine Sprache, die, nachdem sie hierher importiert wurde, nun Teile der Welt beherrscht. Ich schreibe heute aus dem Land der Ahnen der Kiikaapoi, der Peoria, der Bodéwadmiakiwen und der Myaamia. Meine Arbeit mit der Sprache finanziert meine physische Anwesenheit an einem Ort, der seinen Bewohner∙innen mehrere Jahrhunderte vor meiner Ankunft gestohlen worden ist, und an den meine Vorfahren, laut familiärer Überlieferung, vor mehreren Jahrhunderten gelangt sind, nachdem sie ihre Heimat in Orten wie Eymru, Éire, Deutschland und Frankreich fliehen mussten. Die Angehörigen jener Völker, die vor der Gründung der Vereinigten Staaten hier waren, sind noch immer hier, und diejenigen aus den Ländern meiner Vorfahren sind sowohl hier als auch dort.«
»1980er Jahre. Wir waren ein dreiköpfiges Team und hatten den Auftrag eines renommierten Teheraner Verlags erhalten, Brechts Gesamtwerk ins Persische zu übersetzen. Nach über zwei Jahren harter Arbeit und der Veröffentlichung der ersten Bände wurde Brecht auf eine schwarze Liste gesetzt. Die islamische Revolution von 1979 hatte gesiegt – Ende des Projekts.«
»Ich arbeite derzeit an der Neuübersetzung der Werke, die Anna Seghers in den Jahren des Exils in Mexiko veröffentlicht oder geschrieben hat: Das siebte Kreuz wurde zuerst 1942 in Mexiko veröffentlicht, und zwar auf Deutsch im Exilverlag „El libro libre“ (Das freie Buch), später auch in spanischer Übersetzung. Transit hat sie zwischen 1941 und 1942 in Mexiko beendet, hier erschien 1944 auch die erste spanische Übersetzung. Ebenfalls in Mexiko verfasste sie 1944 – nach dem Unfall, der sie fast das Leben gekostet hatte – die Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen.«
»Das Wort Berührungsangst ist eines dieser deutschen Komposita mit einem eigenen Bedeutungsfeld und Aroma, die schwer zu übersetzen sind. Im Belarussischen und im Russischen sagt man wörtlich Angst, etwas zu berühren oder Angst vor Berührungen. Dabei geht es eher um physische Berührungen, um Formen der Phobie, nicht so sehr um die Angst, sich mit etwas zu beschäftigen, sich auf etwas einzulassen, das unangenehm oder bedrohlich werden könnte.«
- Hattest du Berührungsängste, als du mich übersetzt hast?
- Ich hab sie immer noch.