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Berührungsängste, Tabuzonen

Usbekistan ist ein überwiegend muslimisches Land, in dem Themen wie Homosexualität, weibliche Sexualität und Feminismus auf Ablehnung und Widerstand stoßen. Es gibt viele Tabuzonen. Eine Übersetzerin, die den Mut hat, sie zu berühren, muss mit Ärger rechnen. Als ich Ilija Trojanows „Der Weltensammler“ ins Usbekische übersetzte, wurden die Beschreibungen weiblicher Nacktheit oder Andeutungen körperlicher Annäherungen zensiert.

Die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen reduzieren Frauen auf ihre Rollen als Mütter und Ehefrauen, verbunden mit rigorosen Keuschheitsvorstellungen. Emanzipation wird mit Chaos gleichgesetzt, die Unterdrückung der Frau zum Dienst an der Gesellschaft. Wo die staatliche Kontrolle aufhört, übernimmt die Familie die Rolle des Staates. Auf dem (sehr überschaubaren) Buchmarkt dominieren religiös-didaktische Werke, moderne westliche Literatur gilt als dekadent und moralisch verwerflich. Als Teenager fiel mir Boccaccios Decamerone in einer unzensierten usbekischen Übersetzung in die Hände – heute kaum noch vorstellbar.

© Gulnoz Nabieva

Wir leben in einem postsowjetischen Land. Durch mehrere gezielt durchgeführte Schriftreformen und die Sprachpolitik der Sowjetunion haben wir den Zugang zu unserem literarischen Erbe verloren, das eigentlich offener und toleranter war als die sowjetische Literatur. Die Werke usbekischer Autoren wurden unter Stalin durch Sonderkommissionen der sowjetischen Ideologie angepasst; die besten Köpfe fielen den Repressionen der Dreißigerjahre zum Opfer. Der sowjetisch-russischsprachige Kanon ist international nicht anschlussfähig. Auch nach der Unabhängigkeit 1991 herrschte im Land 30 Jahre lang eine Politik der Unterdrückung und Überwachung. Wenn man Menschen in Angst versetzt, werden sie religiös, und genau das ist passiert. Vor ein paar Jahren konnte man keinen einzigen guten Buchladen in der Hauptstadt Taschkent finden, auf den Basaren verkaufte man religiöse Literatur. Auch in den Werken der namhaftesten usbekischen Schriftsteller·innen dieser Periode dominieren die religiösen Stoffe und Themen.

© Gulnoz Nabieva

 

Erst seit dem Tod des ersten Präsidenten und dem Machtwechsel 2016 ändert sich die Lage allmählich. Buchläden und Buch-Cafés sind entstanden, in denen man Literatur aus der ganzen Welt in russischer und usbekischer Übersetzung erwerben kann. Eine junge Generation von Autor·innen und Übersetzer·innen will die ausgetretenen Pfade verlassen, wünscht sich den Austausch mit der Welt, auch durch Übersetzung. Weg mit den Berührungsängsten!

© Gulnoz Nabieva

 

18.12.2020
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© privat

Gulnoz Nabieva, geboren am 4. Juni 1981 in Samarkand, studierte Germanistik und Englisch an der Samarkander Hochschule für Fremdsprachen und an der Nationalen Mirzo Ulugbek-Universität Usbekistans. Sie übersetzte bisher eine Reihe von Kurzgeschichten von Rafik Shami, Matthias Nawrat, Saša Stanišić, Shida Bazyar, Jo Lendle, den Roman von Ilija Trojanow „Der Weltensammler“ sowie den Roman „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari ins Usbekische. Zudem übersetzte sie Lyrik von Paul Celan und Jan Wagner. Zurzeit arbeitet sie im Goethe-Institut und lebt in Taschkent.