Verstehen und Verstehen
Im Sommer habe ich während des ersten Corona-Lockdowns meine Übersetzung von Joshua Cohens Post-Holocaust-Roman Witz abgeschlossen. Der satirische Roman aus dem Jahr 2010 endet mit einem langen inneren Monolog des im Sterben liegenden letzten Auschwitzüberlebenden Joseph – ein Prosagedicht des Grauens, denn vor Josephs Augen zieht die Geschichte der Judenverfolgung von der Zerstörung des Zweiten Tempels über die Kreuzzüge des Mittelalters und die Pogrome in Osteuropa bis zum nationalsozialistischen Genozid vorbei.
In Josephs innerem Monolog geht es auch um die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Ghetto von Łódź, und hier springe ich aus Cohens Roman in meine Familiengeschichte. Im Rahmen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts wurden die Deutsch-Balten Ende 1939 in die annektierten Gebiete Polens „umgesiedelt“. Die Familie meines damals sechsjährigen Vaters zog aus Riga nach Łódź, das während der Besatzungszeit Litzmannstadt hieß. Mein Vater und seine Schwester fuhren jeden Tag mit der Straßenbahn durchs Ghetto zur Schule. Als 1942 immer mehr Menschen in die Vernichtungslager deportiert wurden, fragten die Kinder ihren Vater nach dem Grund der plötzlichen gespenstischen Leere. Mein Großvater – ein überzeugter Nazi – behauptete, die Ghettobewohner·innen wären ebenfalls „umgesiedelt“ worden.
Ich war erschüttert, als ich beim Übersetzen von Witz zu diesen biographischen Berührungsorten kam. Da ich schon zwei Bücher von Cohen übersetzt habe, bin ich locker mit dem Autor befreundet, habe mich aber nie getraut, ihm von dieser Koinzidenz zu erzählen. Ich hatte Angst davor, den Eindruck einer Parallelisierung historischer Erfahrungen zu erwecken, die sich nicht nur kategorial verbietet. Mit Adorno gesprochen, geht es in dieser Frage schließlich um den „Unterschied ums Ganze“: Meine Vorfahren wurden durch die Umsiedlung vor späterer stalinistischer Verfolgung gerettet – Cohens Vorfahren wurden unter dem Vorwand der „Umsiedlung“ von den Nazis ermordet.
Bei diesem „Unterschied ums Ganze“ setzt meine Aufgabe als Übersetzer an. Weil sich meine Persönlichkeit und meine Identität aus anderen biographischen Elementen und familiengeschichtlich vermittelten historischen Fakten zusammensetzen als die von Joshua Cohen, ist mein übersetzendes Lesen von Witz mitunter schmerzliche Arbeit an meinem kulturellen Vorverständnis. Im Zuge der Durchdringung des Originals und seiner Nacherschaffung im Deutschen kläre ich mich auch über meine kulturellen Vorurteile auf: Ich setze mich dem Schrecken über etwas aus, das in meiner Familie zeitlebens zwar geäußert, im Moment des Sprechens aber immer überspielt wurde. Im Übersetzen bekommt dieses Schweigen eine Stimme. Gleichzeitig ist alles wie immer: Ich setze mich der kulturellen Anderwelt des Romans aus und trete mit ihm in das unendliche Gespräch der Hermeneutik ein. Alles Lesen erweitert schließlich Wahrnehmung und Weltwissen. Ich lese und interpretiere das Kunstwerk einer anderen Kulturwelt – Cohens Roman gewordenes Denken und Fühlen, seine Erfahrungen und sein Wissen – vor dem Horizont meines kulturellen Vorverständnisses. Ich muss so genau wie möglich den Horizont des Originals rekonstruieren und zugleich dafür sorgen, dass das in meiner Kultur über Jahrzehnte Beschwiegene seinen Schrecken zurückerhält. Der Abgrund der Erfahrungsdifferenz hat seine sprachliche Realität – fast der übliche Spagat des Übersetzers ... An einer Stelle heißt es: „Sie sind ausgeruht, ausgewaschen, ausgekleidet; sie sind zum Duschen angetreten und zum Scheren. In der Luft hängt die Essenz der letzten Sommerrosen, flaues Parfum – oder ist es Rauch, sonderbar süß ...“ Auf der Inhaltsebene geht es um Menschen in New Jersey, die sich 1999 für die Synagoge feingemacht haben, aber „Duschen – Scheren – Rauch“ platziert sehr bewusst Wortmaterial, das die Vernichtungslager konnotiert.
Leser·innen einer Übersetzung brauchen Anknüpfungspunkte für ihr Vorwissen. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer, bei dessen Konzepten und Begriffen ich mich hier bediene, nennt diesen Verstehensprozess in Wahrheit und Methode „Horizontverschmelzung“. Sie kann bei einem Nachfahren der Täter, der den Roman eines Nachfahren der Opfer übersetzt, bestenfalls eine regulative Idee sein. Sie ist anzustreben, aber nicht zu erreichen. Die Arbeit an der Horizontverschmelzung ist ein Prozess des epistemischen Verstehens, dem Gadamer im nächsten Schritt das empathische Verstehen gegenüberstellt. Das empathische Verstehen ist der Versuch, die in den Weltentwürfen der Literatur aufbewahrten Erfahrungen nachzuvollziehen, die wir im eigenen Leben gerade nicht machen. Literarische Texte bieten und Übersetzer·innen vermitteln auch emotionale Verständnisangebote aus anderen Welten.
Meiner Meinung nach kommt es zu einem Trugschluss, wenn Identitätspolitiker·innen heute konstatieren, nur die Mitglieder der eigenen Opfergruppe dürften von ihrem historischen Schmerz sprechen. Konsequent weitergedacht, mündet diese Forderung in das Bestreiten der Empathiefähigkeit Gruppenfremder, in die Absage an die Möglichkeit der Verständigung über Gruppengrenzen hinweg und letztlich in die Unmöglichkeit allen Übersetzens: Wenn Frauen nur von Frauen und people of color nur von people of color übersetzt werden können, dann Juden nur von Juden und Amerikaner·innen nur von Amerikaner·innen. Wichtiger als die identitätsstiftenden Elemente der beteiligten Sprecher·innen sind in der Literatur aber die erkenntnis- und solidaritätsstiftenden Elemente der Texte.