TALKS Berührungsängste Ein Leichenwäscher wäscht, egal wen
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Ein Leichenwäscher wäscht, egal wen

Auf Menschen, die beruflich überwiegend Routinetätigkeiten ausüben und sich hin und wieder darüber beklagen, ist bei uns ein Sprichwort gemünzt: „ein Leichenwäscher wäscht, egal wen!“

1980er Jahre. Wir waren ein dreiköpfiges Team und hatten den Auftrag eines renommierten Teheraner Verlags erhalten, Brechts Gesamtwerk ins Persische zu übersetzen. Nach über zwei Jahren harter Arbeit und der Veröffentlichung der ersten Bände wurde Brecht auf eine schwarze Liste gesetzt. Die islamische Revolution von 1979 hatte gesiegt – Ende des Projekts. Auch der Verlag wurde, aus anderen Gründen, liquidiert. Zu unserer Freude bot uns ein anderer angesehener Verleger eine Zusammenarbeit an, mit einer Einschränkung allerdings: „Wir brauchen dicke Romane, besonders von Thomas Mann!“

Jahre später beschloss ich, den Schwerpunkt meiner übersetzerischen Arbeit auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu legen, und als die erste Übersetzung 2005 auf dem Markt war, fragte mich ein Journalist der Deutschen Welle: „Warum übersetzen Sie keine deutschen Klassiker?“ Die Frage wird mir immer wieder gestellt.

Das Islamische Kulturministerium hat eine Abteilung, die sich „Buchbehörde“ nennt, wohinter sich eine Zensurbehörde verbirgt, die auch unsere übersetzerischen Tätigkeiten unter die Lupe nimmt. Und wie in jedem iranischen Ministerium gibt es auch dort eine Abteilung für „Informationen“ (sprich: Nachrichtendienst). Zweimal bin ich von dieser Abteilung vorgeladen worden. Das erste Mal wurde ich mit einem schmierigen Respekt behandelt. Die erste Frage des dann ziemlich unangenehm verlaufenen Gesprächs lautete: „Sie haben Politikwissenschaften studiert, warum übersetzen Sie nicht Geisteswissenschaft?“ Die zweite Vorladung des Nachrichtendienstbüros im Kulturministerium habe ich ignoriert.

Mein Sohn hatte die Aufnahmeprüfung für ein Magisterstudium bestanden. Auch das iranische Wissenschaftsministerium, das die Prüfungen organisiert, hat eine „Informationsabteilung“. Mein Sohn wurde einbestellt. „Dein Vater ist Übersetzter deutschsprachiger Literatur. Wer gibt ihm die Aufträge? Von wem bekommt er die Bücher, die er übersetzt?“

2018 beantragte ich ein Aufenthaltsstipendium in Deutschland, das Geld sollte aber, weil es um ein Dürrenmatt-Projekt ging, aus der Schweiz kommen. Etliche Jahre zuvor hatte ich drei Kriminalromane Dürrenmatts übersetzt und wollte diese Serie fortzusetzen. Grund für die Absage: „In diesem Jahr werden nur Übersetzer·innen unterstützt, die junge Schweizer Literatur übersetzen!“

Wie heißt das Sprichwort? Ein Leichenwäscher wäscht, egal wen.

Seit vielen Jahren bin ich Übersetzer, seit der Geburt Iraner, lebe im Iran, kenne die Spielregeln und die sogenannten „roten Linien“. Oft genug habe ich mich mit Verlegern, mit der Administration und der Zensurbehörde angelegt. Das Sensorium reagiert zuverlässig, wenn ich in einem Text auf etwas stoße, das hinweist auf Islam, Gott, Nationalität, Marxismus, Tyrannei, Pazifismus, Frauenkörper, Spirituosen, Sex, Homosexualität, Juden, KZ, Liebe, Küssen, westlicher Lifestyle. Sensitive Translating? Das klingt harmlos, ist für mich aber eine fragwürdige Sache, denn hier im Iran werden Verstöße gegen politische und ideologische Empfindlichkeiten des Regimes rigoros sanktioniert.

Viele Berührungsängste gehen zurück auf unangenehme Erfahrungen mit der Außenwelt. Und dann es gibt es noch die inneren Dämonen, mit denen man zu kämpfen hat. Da hilft nur Abstand: zu den merkantilen Interessen der Verleger; den Unterhaltungswünschen der Leser; zur Versuchung, auf der Bestsellerliste zu landen; dem eitlen Antrieb, Preise zu gewinnen; vor jeder Art modischer Kategorisierungen. Und die Befreiung vom „Kreativitätsimperativ“, wie Andreas Reckwitz das genannt hat: vom inneren Druck und der Erwartung von außen, ständig kreativ sein zu müssen.

Die Pandemie hat uns Masken auferlegt und Abstandsgebote. Übersetzen mit Abstand kann eine gute Übung sein. Nicht mit Abstand zu Kolleginnen und Kollegen, zu den Workshops, den Kulturinstitutionen, wo wir uns begegnen, nicht mit Abstand zu all denen, die wir alle schrecklich vermissen, sondern Übersetzen mit Abstand zu unseren Berührungsängsten, den äußeren und inneren.

In Zeiten von Corona in Teheran, Nov. 2020

                                                                     

18.12.2020
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© privat

Mahmoud Hosseini Zad, geboren 1946, ist Theater- und Prosaautor und gehört zu den bedeutendsten iranischen Übersetzern deutschsprachiger Literatur ins Persische. In den letzten Jahren übersetzte er fast ausschließlich zeitgenössische Werke (von Judith Hermann, Ingo Schulze, Uwe Timm und viele andere). 2013 wurde er mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet.