TALKS Berührungsängste Von Ängsten und Berührungen
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Von Ängsten und Berührungen

Antonina Slobodtschikowa: Wenn ich an deiner Stelle wäre, hätte ich ihn geschlagen. Wenn du an meiner Stelle wärest, hättest du geweint.

Das Wort Berührungsangst ist eines dieser deutschen Komposita mit einem eigenen Bedeutungsfeld und Aroma, die schwer zu übersetzen sind. Im Belarussischen und im Russischen sagt man wörtlich Angst, etwas zu berühren oder Angst vor Berührungen. Dabei geht es eher um physische Berührungen, um Formen der Phobie, nicht so sehr um die Angst, sich mit etwas zu beschäftigen, sich auf etwas einzulassen, das unangenehm oder bedrohlich werden könnte.

Als ich Deutsch lernte, faszinierte mich, wie oft das Wort gebraucht wird. Es steht für einen aufmerksamen Umgang mit den eigenen Ängsten, aber auch für ein Bekenntnis zur Achtsamkeit dem anderen gegenüber. Ziemlich schnell übernahm ich es in meinen Wortschatz. Im postsowjetischen Raum ist der Umgang mit Ängsten problematisch. Sich öffentlich mit der eigenen Angst zu beschäftigen ist für viele beschämend. Selbst in der Krise, die wir gerade in Belarus erleben. Man spricht über die Überwindung der Angst, nicht von der Angst selbst, als wäre die nie da gewesen. Man hat Berührungsangst vor der Angst.

Die Wörter “Berührung” und “Angst” kamen für mich sehr früh schon in Verbindung. Ich erinnere mich noch gut daran: ich war sechs Jahre alt, zusammen mit meiner Großmutter waren wir im Nachtzug unterwegs. Meine Oma kam mit der Nachbarin im Abteil ins Gespräch. Eine Zufallsbegegnung zweier Menschen, aber man unterhielt sich gut, und gegen Mitternacht ging es schon um ganz persönliche Themen. Ich spitzte die Ohren, um dem Gespräch der Erwachsenen zu lauschen. Die Frau erzählte, sie hätte große Angst vor dem Leichnam ihrer Mutter gehabt, bis ihr jemand riet, die Verstorbene an irgendeiner Stelle zu berühren – dann verschwände die Angst. Das sei ein alter Brauch und hätte sofort gewirkt. Ich stellte mir zwar mit Schrecken vor, wie ich einen Leichnam berühre, aber das Mittel merkte ich mir: Wenn man Angst vor etwas hat, muss man es berühren. Dann erzählte meine Großmutter ihre Geschichte, in der diese Berührung fehlte, denn ihre Mutter war von den Nazis verschleppt und erschossen worden, nicht einmal ein Grab war geblieben. Meine Großmutter weinte, als sie das erzählte und ich verstand, wie schwer das für sie war. Etwas nicht berühren zu können, ist viel schlimmer. Dann hat die Angst gar keine Chance, wegzugehen. Vielleicht weil ich in dieser Nacht Zeugin einer wahren Berührung zweier Geschichten war, glaube ich an dieses Mittel noch immer.

Ich habe das Glück, mich in zwei Sprach- und Kulturräumen zu bewegen. Gerne würde ich beides verbinden: Sowohl die aufmerksame Beschäftigung mit der eigenen Angst, als auch den Versuch ihrer Überwindung. Eigentlich tue ich das jedes Mal beim Übersetzen. Ich kann mich an keinen Text erinnern, bei dem ich nicht irgendwann auch Berührungsängste verspürt hätte: die Auslöser können sehr unterschiedlich sein, von einem neuen komplexen Thema über komplizierten Stil bis hin zum Übersetzungsprozess selbst. Ich weiß, wenn ich einen Text schon mal berührt habe, dann muss es weitergehen, auch über Durststrecken, in denen man ins Stocken gerät und Fehler macht, auch wenn man den Autor nicht mehr mag oder die Lust am Text verliert. Eine Berührung verpflichtet. Eine Berührung ist ein Risiko. Im Übersetzerberuf wie auch sonst im Leben.

Unsere Lebendigkeit ist aber auf Berührungen und Berührtsein angewiesen. Was machen wir, wenn Berührungen nicht möglich sind, wie jetzt in der Pandemie? Stellen wir uns auf ein Leben ohne Berührungen ein? Vonwegen. Wir vermissen direkte Berührungen und gleichzeitig erweitern wir den Begriff der Berührungen: Jetzt merken wir, dass auch Worte, Blicke, selbst Gedanken an ihre Stelle treten können. Als ich die Anfrage bekam, diesen Text zu schreiben, war ich vom Thema sehr angetan. Ich habe mich auf den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen gefreut. Dann kamen die Berührungsängste: Vor dem weißen Blatt, vor den eigenen Erfahrungen, vor diesem verwickelten Raum in mir, in dem meine Sprachen zusammenkommen und sich überlappen. Und die Zweifel: Ist das nicht zu persönlich? Ist es überhaupt verständlich? An manchen Tagen habe ich diesen Text nicht angerührt. Aber ich blieb dran.

 

18.12.2020
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©Antonina Slobodchikova

Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Kuratorin und Übersetzerin. Sie hat Werke von Lukas Bärfuss, Georg Büchner, Monika Rinck, Nora Gomringer, Mehdi Moradpour, Jonas Lüscher, Michael Köhlmeier, Franz Hohler oder Franz Kafka ins Belarussische übersetzt. Bereits dreimal hat sie die Belarussisch-Deutsche ViceVersa-Übersetzerwerkstatt geleitet. Seit 2018 kuratiert sie den übersetzerischen Teil des Forums „Literature Intermarium“ im Künstlerdorf Kaptaruny.