Übersetzen und übersetzen lassen – ein politischer Akt
Gegeben sei x, das Buch einer schwarzen homosexuellen Transfrau und y, ein weißer heterosexueller Cis-Übersetzer. Wie viel Zeit wird vergehen, ehe z, die Feminazi-Minderheit der Branche, die Übersetzung f(x) auf dem Scheiterhaufen verbrennt? Zusatzfrage: Kann f(x) getrennt von y betrachtet, d.h. kritisiert werden, ohne dass y dies persönlich nimmt? Sie haben zwei Stunden Zeit.
Berührungsängste. Die Angst davor, beim Übersetzen eines Textes zu bereuen, den Auftrag angenommen zu haben.
Die Kontroverse um die Frage, ob manche Texte übersetzt werden dürfen, ist so interessant, dass sich eine Post-Lockdown-Diskussionsrunde unbedingt lohnen würde. Viele haben darüber nachgedacht, eine solche Runde zu organisieren, keiner hat es (bislang) getan. Spitze wie stumpfe Gegenstände müssten entfernt, Gläser im Voraus geleert, Defibrillatoren und Sauerstoffflaschen bereitgestellt und das Budget für eine psychologische Beratungskabine bewilligt werden … Ich übertreibe natürlich, aber wir alle haben schon die Erfahrung gemacht: Die Reaktionen auf die Frage nach der Legitimität einer Übersetzung fallen ziemlich heftig aus.
Ich finde diese Kontroverse spannend und könnte meine Kolleg·innen bei jeder Gelegenheit ganz unverdrossen dazu befragen. Mein Dank gilt daher Aurélie Maurin und Jürgen Jakob Becker, die mir ermöglicht haben, zum Jahreswechsel einen Beitrag zum Thema zu leisten.
Die Angst zu berühren, also. Jenen Text zu berühren, der drei Monate lang Ihr Konto füttern könnte. Den vielleicht Sie höchstpersönlich einem Verlag unterbreitet haben, weil Sie überzeugt von der Wichtigkeit sind, ihn über die Sprachgrenze zu führen. Der von einer Unterdrückung handelt, die mehr oder weniger auch Sie betrifft (seien wir ehrlich: eher weniger als mehr, aber Sie kennen eine ganze Menge Betroffener, die Ihre Übersetzung korrekturlesen und/oder Ihre Fragen beantworten würden, also alles bestens). Diesen Text zu berühren, der Sie ins Schwitzen bringt, seitdem die Frage nach der Legitimität in literarischen Kreisen öffentlich gestellt wird: Darf man über alles schreiben (und erst recht: alles übersetzen)? Schon legen Sie sich diverse Antworten auf mögliche Angriffe zurecht, schon reden Sie sich ein, dass es okay ist, diese Stimme zu übertragen, schon sammeln Sie Beispiele hervorragender Arbeiten von Übersetzer·innen, die nicht wie die Hauptfiguren oder der/die Autor·in unterdrückt werden und die trotzdem keiner infrage stellt. Schon leben Sie in der Angst, dass eines Tages auf der Buchmesse, als Sie gerade von der Toilette kommen, Ihnen jemand an die Gurgel springt und brüllt: WIE KONNTEST DU NUR? Jemand vom anderen Team.
Denn die Frage nach der Legitimität einer Übersetzung teilt die Übersetzerwelt in zwei Teams: Das eine Team hält alles für übersetzbar, das andere nicht.
Wer mich kennt, wird nicht lange überlegen, ehe er/sie mich dem Team 2 zuordnet, der Mannschaft, die den weißen heterosexuellen Cis-Übersetzern, die Bücher von diskriminierten Frauen und/oder feministische Essais übersetzt haben, auf der Frankfurter Buchmesse auflauert, um sie zu erschrecken. Tja, vielleicht ist es an der Zeit, sie zu überraschen …
Betrachten wir zunächst genauer, was passiert, wenn eine Übersetzerin sagt: „Ich glaube nicht, dass jede·r alles übersetzen kann“, und die andere mit hochrotem Kopf erwidert: „Doch, natürlich.“ Was lesen wir aus dem Rauch, der beiden aus den Ohren quillt? Was hören wir im Lärm der zufallenden Türen?
Leider neigt die Kontroverse dazu, sich schnell zum persönlichen Angriff auszuwachsen. Ihr bleibt kaum Zeit, Diskurs zu sein. Warum? Weil die Behauptung, jemand habe nicht das Recht, einen Text zu übersetzen, zwischen den Zeilen gelesen am Ende bedeutet, dass die Qualität seiner/ihrer Übersetzung, ergo seine/ihre Arbeit, ergo seine/ihre Kompetenz angezweifelt wird. Ich verstehe die Empörung. Es wäre in der Tat anmaßend, gegenüber jemandem zu äußern: „Ich habe deine Übersetzung zwar nicht gelesen (vielleicht hast du ja noch gar nicht damit angefangen), kann dir aber jetzt schon sagen, dass sie nicht gut ist.“
Autsch. Dies führt uns zu einer kurzen Abschweifung: Was ist eine gute Übersetzung?
Keine Sinnverschiebungen, keine Anpassungen, Berücksichtigung von Poesie und Rhythmus, von Stilfiguren und Sprachregister, besonderes Augenmerk auf der Verortung in Raum und Zeit, sorgfältige Wortwahl, vor allem bei wissenschaftlichen, philosophischen, historischen Texten usw. Das ist ein ganzer Haufen Kästchen zum Abhaken! Eine schwierige, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe. Jede·r Übersetzer·in, und sei er/sie noch so gut, wird bezeugen: Übersetzen heißt Entscheidungen treffen.
Wie gehen wir also vor? Zunächst einmal können wir auf unsere Kolleg·innen zählen, denn eines ist sicher: Nur zu gern widmen wir uns den Übersetzungsproblemen anderer. Als Nächstes können wir ganz einfach die Autor·innen kontaktieren, sofern sie nicht tot und wenn sie sympathisch sind. Wir können ihnen die Situation erklären, in Erfahrung bringen, ob an dieser oder jener Stelle Klang oder Sinn bevorzugt wird, und ihnen sogar mehrere Lösungsvorschläge unterbreiten. Sollten die Autor·innen jedoch nicht zur Verfügung stehen, können wir uns immer noch an die Verlage wenden, für die wir übersetzen. Sie sind es schließlich, die in das Buch (meistens mit Verlust) investieren wollen und ausgerechnet Sie mit der Übersetzung betraut haben. Ganz bestimmt haben sie eine Meinung dazu, wie in Ihrem Fall die Übersetzung auszusehen hat und welche Kästchen Sie unbedingt ankreuzen sollten.
Kurzum: Wir sind uns alle einig, dass die perfekte Übersetzung nicht existiert und wir mehrere Werkzeuge zur Verfügung haben, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Aber wieso gibt es dann eine Gruppe von Unbelehrbaren, die ihren netten Kolleg·innen wegen unliebsamer Übersetzungen jederzeit den Hals umdrehen würden?
Vielleicht, weil wir viel zu häufig die vierte Akteurin in unserem kühnen Abenteuer vergessen, welches die Übersetzung eines Titels darstellt: die Leserin (da die Leser größtenteils Leserinnen sind, gebrauche ich hier das generische Femininum). Wir denken zwar oft an ihre Brieftasche, vergessen aber möglicherweise zu häufig, dass die Leserin auch Erwartungen hat. Und ich frage mich, ob sich in Team 2 nicht vielmehr die Leser·innen als die Übersetzer·innen äußern.
Stellen wir uns einen französischen Leser vor, dem die deutsche Sprache vertraut ist und der Hölderlins Gedichte entdeckt. Er ist bewegt und träumt davon, sein Empfinden mit den ihm Nahestehenden zu teilen, die allerdings kein Wort Deutsch verstehen. Er besorgt sich eine hervorragende Übersetzung ohne Sinnverschiebungen und in einem Französisch aus Hölderlins Zeit, die jedoch ausschließlich den Sinn wiederzugeben bemüht ist. Weder der Rhythmus noch das sorgfältig angelegte Reimschema wurden erhalten. Große Enttäuschung. Eine Übersetzung, die sich etwas vom Sinn loslöst, um die Schönheit der Form zu bewahren, wäre diesem Leser wohl lieber gewesen.
Stellen wir uns jetzt eine junge Aktivistin vor, deren Englisch nicht ausreicht, um ihre feministische US-Lieblingsautorin im Original zu lesen. Sie kauft sich die Übersetzung und stellt fest, dass sie von einem weißen Cis-Mann stammt. Sie zweifelt nicht eine Sekunde an den Sprachkenntnissen des Übersetzers, an seinem mutmaßlichen Interesse am Thema, doch sie kann nicht darüber hinwegsehen, dass die Worte, die sie im Begriff ist zu lesen, die Worte eines Mannes sind. Selbst wenn der Mann mit einer feministischen Aktivistin verheiratet, wenn er tagtäglich von feministischen Aktivistinnen umgeben wäre und sich womöglich selbst für Frauenrechte einsetzen würde: Nicht einmal dann könnte er wissen, was es bedeutet, eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein.
Während nur wenige Leserinnen ein Bewusstsein dafür haben, dass sie eine Übersetzung lesen (ein weiteres Problem, auf das ich später zu sprechen komme), kaufen Übersetzer·innen selten ein Buch, ohne zu wissen, ob es sich um eine Übersetzung handelt. Daher glaube ich, dass die Empörung mancher über die Entscheidung ihrer Kolleg·innen, gewisse Texte zu übersetzen, in erster Linie Ausdruck einer Leserinnenfrustration ist (sei die Leserin selbst Aktivistin oder sich einfach nur der Funktionsweise des repressiven Systems bewusst, in dem wir leben).
Diese übersetzende Leserin weiß außerdem, dass die Vergangenheit massenweise Übersetzungen hervorgebracht hat, die Texte, welche das repressive System infrage stellen, (wissentlich oder unwissentlich) gekürzt, adaptiert oder verraten haben. Als Beispiel sei die US-amerikanische Fassung von Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht genannt, übersetzt 1953 von dem emeritierten Professor Howard M. Parshley, der sich leider dutzendfacher Auslassungen erkühnt hat.
Im Jahr 2020 kann man sich dergleichen wohl nicht mehr leisten. Aber selbst wenn die (sofern Zeit und Budget vorhanden sind) korrekturlesenden Übersetzer·innen und Lektor·innen die besten Absichten der Welt hegen, gibt es doch eine Sache, gegen die sie nichts unternehmen können: die kognitive Verzerrung, die unbewusst unser Handeln bestimmt. Diese Verzerrung hängt mit unserem Geschlecht, unserer sozialen Schicht, Bildung, Altersgruppe usw. zusammen. Es lohnt sich nicht, gegen sie anzukämpfen, denn es gibt einen weiteren Punkt, in dem unser Berufsstand sich einig ist: Eine Übersetzung ist immer die subjektive Lesart eines Textes. Sie kann daher ihrem Wesen nach nicht objektiv sein.
In einem Interview mit der Chicago Review of Books erklärt Emily Wilson, die 2018 Homers Odyssee neu übersetzt hat: „I think we should aim not to be ‚unbiased‘, but to be responsible, and that involves being as conscious as possible about our biases and preferences (…). It’s been unsurprising that many people have asked me about how my gender identity (as a cis-gendered woman) affects my translation of the Odyssey. It’s also unsurprising, but highly problematic, that hardly anyone (except me, so far!) seems to ask male classical translators how their gender affects their work. (…) [U]nexamined biases can lead to some seriously problematic and questionable choices (such as, in that instance, translating rape as if it were the same as consensual sex).“
Es wird im Allgemeinen behauptet, beim Übersetzen gehe immer etwas „verloren“. Ich für meinen Teil bin der festen Überzeugung, dass man au contraire viel „gewinnen“ kann, wenn man dank dem Übersetzungsprozess über die kognitive Verzerrung nachdenkt.
Aude Sécheret, Übersetzerin von Jouir, einem bei Éditions Zones publizierten Essai der Kanadierin Sarah Barmak, schreibt in ihrem Blog: „Ich schlage vor, dass die Übersetzung feministischer Texte, die von Frauen geschrieben wurden, Übersetzerinnen vorbehalten sein sollte.“ Aude Sécheret gehört offenbar Team 2 an. Sie nimmt sich in dem wunderbaren Beitrag die Zeit, eine übersetzerische Entscheidung zu rechtfertigen: „Manche können ihr Geschlecht nicht mit den Händen berühren“ für „Some can’t touch themselves“, anstatt „Manche können sich nicht berühren“ oder gar „Manche können nicht masturbieren“, wie ein befreundeter Kollege und übrigens-großartiger-Übersetzer vorgeschlagen hatte. Warum diese Wahl? Weil Aude Sécheret überzeugt ist, dass Sarah Barmak „mit den Händen berühren“ gemeint hat. Weil Sécheret genauso wie Barmak weiß, dass kleine Mädchen zu der Vorstellung erzogen werden, ihre Vulva sei etwas Schmutziges, und dass viele Frauen die Berührung ihrer Vulva ein ganzes Leben lang vermeiden, indem sie mit Gegenständen onanieren oder ihre Unterhose anbehalten (oder gar nicht masturbieren), indem sie sich mit Waschlappen statt mit der Hand waschen, Damenbinden statt Menstruationstassen verwenden usw. Aude Sécheret findet, dass „eine Übersetzerin derlei Feinheiten besser und schneller erkennt als ein noch so guter Übersetzer“, und ich schließe mich ihr an. Allerdings weiß ich nicht, ob man behaupten kann, dass jede Übersetzerin dieses Detail erfasst hätte, denn neben Transfrauen auf der einen Seite gehören zu unserer Zunft auch Kolleginnen, die wahrscheinlich noch nie über ihr Verhältnis zu ihrem Geschlecht nachgedacht haben. Jedenfalls finde ich auch, dass es nicht besonders interessant gewesen wäre, einen Text wie Jouir einem Cis-Übersetzer anzuvertrauen – vielleicht für ihn, aber nicht für die Tausenden von Leserinnen, die das Buch sehnsüchtig erwartet haben. Die Variante „Manche können nicht masturbieren“ wäre nicht falsch, die Übersetzung nicht schlecht gewesen, aber mit dem besonderen Blickwinkel, den nur eine solche Automatismen reflektierende Übersetzerin einnehmen kann, haben die Leserinnen etwas gewonnen, und mit ihnen der Feminismus.
Da politische und/oder Bücher zum Thema Aktivismus starke Gefühle auslösen, Engagement bewirken und Grenzen verschieben können (zum Guten wie zum Schlechten, aber das soll hier nicht Thema sein), gilt dasselbe auch für ihre Übersetzungen. Und da Übersetzer·innen immer das letzte Wort haben, lastet die Verantwortung für alles Übermittelte auf ihnen. Der Glaube, eine Übersetzung sei der simple Wechsel von einer Sprache in die andere, scheint mir daher naiv, wenn nicht sogar unverantwortlich.
Ich höre und verstehe all jene, die es lächerlich fänden, wenn ab sofort nur noch Übersetzer·innen mit Behinderung das Recht hätten, Autor·innen mit Behinderung zu übersetzen, wenn nur noch schwarze Übersetzer·innen schwarze Autor·innen und nur noch Transübersetzer·innen Transautor·innen übersetzen dürften. Schon allein deshalb, weil es mehrere Übersetzungen ein und desselben Textes geben kann (wenn wir annehmen, dass jede Übersetzung eine subjektive Lesart ist – im Theaterbetrieb übrigens an der Tagesordnung) und uns somit – theoretisch – freisteht, (neu) zu übersetzen, wen wir wollen (wobei erwähnt werden sollte, dass ein ungeschriebenes Gesetz im Literaturbetrieb besagt, dass der Autor einer Kollegin nicht ohne deren vorherige Zustimmung übersetzt werden darf, und wobei daran erinnert sei, dass die englischsprachigen Leserinnen des anderen Geschlechts, nachdem sich die ersten Stimmen gegen die Übersetzung von Howard M. Parshley erhoben hatten, fast dreißig Jahre lang warten mussten, ehe 2009 die Neuübersetzung erschien). Und schließlich auch deshalb, weil zahlreiche Autor·innen, die einer unterdrückten Minderheit angehören, zufrieden sind mit den Übersetzungen ihrer Texte durch Übersetzer·innen, die nicht ihrer Gruppe angehören.
Bis hierher habe ich zweierlei Gründe für Empörung herausgestellt: Erstens, weil die eigene Arbeit infrage gestellt wird, und zweitens, weil die übersetzende Leserin ihre Erwartungen enttäuscht sieht. Jetzt nimmt allmählich ein dritter Grund Gestalt an. Und diese dritte Empörung wird uns vielleicht versöhnen, hoffe ich jedenfalls.
Ich glaube, dass die Frage nach der Legitimität des übersetzerischen Tuns nicht nur Zweifel an der Kompetenz der Übersetzer·innen sät, sondern auch deren altruistische, humanistische Werte anzweifelt. Die Rede von der unvermeidlichen kognitiven Verzerrung besagt letzten Endes: „Ob du willst oder nicht, mit Sicherheit wirst du den Text und seine·n Autor·in früher oder später verraten.“ Dies allerdings ist für den leidenschaftlichen Übersetzer, für die gründliche Übersetzerin, die tagelang nach dem passendsten, griffigsten und klangvollsten Begriff sucht, die stundenlang über einem Thema brütet, um der Autor·innenintention so nahe wie möglich zu kommen, eine unerträgliche Vorstellung. Und auch dies ist absolut verständlich.
Was wir dieser dritten Empörung entnehmen sollten, ist wohl die Forderung, für die Unterstützung bestimmter Bevölkerungsgruppen nicht unsere Berufsgruppe zu spalten. Worauf Team 2 entgegnen wird, dass es nicht gerade konsequent ist zu behaupten, man strebe eine gerechtere, egalitärere Gesellschaft an, während man sich kein bisschen darüber wundert, dass zum Beispiel nichtweiße Übersetzer·innen bei den Assises de la traduction, bei Stammtischen, auf Seminaren oder in Residence an einer Hand abzählbar sind.
So. Kommen wir endlich zum Kern der Sache.
Ich weigere mich deshalb, in einem der beiden Teams zu spielen, weil die Kontroverse für mich ganz woanders stattfindet.
Die eigentliche Frage, die ich mir als Mensch stellen will – und mithin als Autorin und Übersetzerin, denn meine Arbeit besteht darin, die Welt (meine eigene Welt und die anderer) in meinen Worten zu erzählen – diese Frage lautet: Wie kann ich eine gute Verbündete sein?
„Im Aktivismus bezeichnet ein·e Verbündete·r eine Person, die nicht selbst unterdrückt wird, sich aber mit Opfern von Unterdrückung solidarisiert, um gemeinsam das System zu bekämpfen. So lautet die klassische Definition von <Verbündete·r>, die alle denkbaren Verwendungsbereiche abdeckt. Ob sich der Kampf nun gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie oder anderes richtet, der/die Verbündete erfährt die Diskriminierung nie selbst, ist sich ihrer aber bewusst und möchte gegen sie vorgehen.“ (Definition, die ich für sehr treffend halte, gefunden auf dieser Seite).
Kiffe ta race, exzellenter Podcast für weiße Verbündete
Viele Artikel und Podcasts zum Thema lehren uns: Um gute Verbündete zu sein, müssen wir Übersetzer·innen uns als Erstes der eigenen Privilegien und unserer Position in dem repressiven System bewusst werden, dessen wir alle Teil sind (ob wir das gutheißen oder nicht). Erst dann können wir die Gründe ausloten, warum ein Verlag ein Buch „machen“ will, möglichen Leserinnenerwartungen zuvorkommen und die Schwierigkeiten eines Textes besser erfassen.
Dann muss der/die Verbündete lernen zu schweigen. Wir haben als Verbündete nur eine theoretische Vorstellung von der tagtäglichen und von Anfang an erlebten Unterdrückung jener, die wir unterstützen. Daher müssen wir die Position eines/einer Lernenden einnehmen, und zwar unser ganzes Leben lang. Am Ende werde ich nämlich nie wissen, was es bedeutet, beispielsweise nichtweiß zu sein, ganz gleich, wie viele Bücher, Podcasts und Dokus ich zu Rate gezogen habe.
Was aber kann ich tun, wenn ich zwar wie Agnès Jaoui „glaube, dass Bilder einen enormen Einfluss auf uns haben, und zwar umso mehr, je weniger wir uns dessen bewusst sind“, als Autorin also nicht immer nur Liebesgeschichten zwischen weißen heterosexuellen Cis-Figuren schreiben will, sondern den unterdrückten Minderheiten, die ich zu unterstützen gedenke, mehr Platz einräumen möchte – wenn ich mir gleichzeitig aber nicht zutraue, für jene Menschen zu sprechen, die ich gern öfter auf der Bühne sehen würde, mich also scheue, solchen Randfiguren meine Stimme zu geben? Was kann ich als Übersetzerin tun, wenn ich beschließe, ausgerechnet jene Bücher nicht zu übersetzen, die ich Familie und Freunde lesen lassen möchte, um sie zum Kampf gegen Sexismus, Rassismus, Ableismus, Transphobie oder Homophobie zu bewegen?
Die Antwort liegt für mich im Kollektiv. In der Gemeinschaft, also.
Anstatt uns untereinander zu zerfleischen, sollten wir Kolleg·innen gemeinsam an die Verlage herantreten, unsere Verleger·innen gemeinsam fragen, warum sie ein bestimmtes Projekt einem/einer bestimmten Übersetzer·in anvertraut haben, und somit gemeinsam über die Homogenität unserer Berufsgruppe nachdenken.
Die Frage nach der Rechtmäßigkeit ist eine ausgrenzende Frage. Jemand sitzt auf einem Stuhl und wird gebeten, einer anderen Person Platz zu machen. Wieso können wir nicht zu zweit auf diesem Stuhl sitzen? Jede·r eine Pobacke. Warum sollten wir uns entscheiden müssen, ob wir entweder allein oder gar nicht übersetzen? Wie wäre es, wenn wir uns nicht mehr damit begnügen, dass unsere weiblichen, nichtweißen, queeren oder behinderten Freund·innen uns (zum Wohle des Textes) korrekturlesen – wohl wissend, dass nur unser Name in dem Buch stehen wird, sondern uns dafür einsetzen, dass diese Menschen in unserer Branche herzlich willkommen sind?
„Legitimität zahlt keine Miete“, schreibt meine Kollegin Stéphanie Lux, und da hat sie recht. Die wenigsten von uns können sich den Luxus leisten, einen Auftrag abzulehnen und/oder sich mit einem Verlag anzulegen, denn unsere Arbeit ist äußerst prekär: keine Planbarkeit des kommenden Jahres, sehr geringes Einkommen, die ständige Befürchtung, alles könnte jederzeit aufhören.
Lasst uns die Aufträge, die uns angeboten werden, auch weiterhin annehmen, lasst uns den Verlagen weiterhin Projekte antragen, die uns Verbündeten am Herzen liegen, aber lasst uns dies nicht mehr tun, ohne uns dabei Fragen zu stellen. Wir sollten Verleger·innen auf das Problem aufmerksam machen, sollten Minderheiten, die sich nicht angesprochen fühlen, unseren Beruf vorstellen, sollten mit unseren Autor·innen sprechen, damit wir den Transfer in die andere Sprache nutzen können, um ihren Text zu „erheben“ anstatt an ihm kleben zu bleiben. Wir sollten kooperieren.
Ich habe diesen Text „Übersetzen und übersetzen lassen – ein politischer Akt“ genannt.
Übersetzen – ein politischer Akt, weil wir uns nicht länger hinter dem naiven Klischee vom unsichtbaren Fährmann verstecken dürfen. Wie jede·r Künstler·in (ja, Literaturübersetzer·innen sind Künstler·innen, wir zahlen in die Künstlersozialkasse ein, wir bekommen Tantiemen, wir sind also Künstler·innen) offenbaren wir mit unserer Arbeit unsere Weltanschauung, ob wir wollen oder nicht. Wir haben also eine Verantwortung, die wir uns bewusst machen sollten, um sie eines Tages ganz selbstverständlich auf uns zu nehmen.
Übersetzen lassen – ein politischer Akt, weil ich der Meinung bin: Solange man Übersetzer·innen weiterhin unsichtbar macht, solange man ihre Namen ganz klein auf die Umschlagseite 4 oder ins Buchinnere setzt, solange man sie nicht erwähnt, wenn man im Radio oder Fernsehen Auszüge aus ihren Übersetzungen liest oder zitiert, solange man sich dagegen wehrt, dass mehr als ein Name im Übersetzungsvertrag steht oder auch nur in der Danksagung erwähnt wird – solange all dies so bleibt, wird die Welt in dem Glauben gelassen, die literarische Übersetzung sei bloß eine Dienstleistung. Etwas Objektives. Wenn aber der Name des Übersetzers oder der Übersetzerin konsequent auf dem Titel stünde, dann würden die Verlage ihre Übersetzer·innen behutsamer auswählen, dann würden die Übersetzer·innen sorgfältiger abwägen, ob sie einen Auftrag annehmen, dann würde mehr Konsistenz zwischen der Entscheidung für ein Buch und der Wahl der Person bestehen, welche die richtigen Worte findet, um das Buch zum Leben zu erwecken.