TALKS Berührungsängste Das andere und ich, das andere in mir
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Das andere und ich, das andere in mir

Erstes Bild

Ein Grundschulhof, Kinder stehen aufgereiht vor ihrem Klassenzimmer, ich muss acht oder neun sein. Ich unterhalte mich intensiv mit einem kleinen Jungen vor mir, ich erzähle ihm von meinem Adoptivbruder. Sehr interessiert fragt er: "Und aus welchem Land kommt er?" Ich höre mich antworten: "Nein, nein, er ist normal" und noch hinzufügen: "Wie wir halt".

Man bedenke: Der kleine Junge vor mir ist ein Adoptivkind, das in einem asiatischen Land geboren wurde. Meine Bemerkung ist daher nicht nur rassistisch, sondern auch völlig absurd.

Ich erinnere mich genau an zwei gegensätzliche Gefühle, kurz bevor es zum Unterrichtsbeginn klingelte: Die Schande, auf die Kategorie "Normalität" zurückgegriffen zu haben, um eine Geburt in Frankreich zu definieren und die Verwirrung darüber, meinen Klassenkameraden geradeheraus eben dieser (selbstverständlich irrelevanten) Kategorie zugeordnet zu haben, während meine Worte es gleichzeitig ausschlossen.

Ich sehe mich mit zwei weiteren Kindern, die die Schnur halten, beim Seilspringen: Mit beiden Füßen zunächst auf einer Seite des Seils springe ich über das Hindernis, bleibe am Seil hängen, ein Fuß auf der einen, der andere auf der anderen Seite der Grenze.

 


 

Michaël Borremans, Gone
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Zweites Bild

Ein Kaffee in der Sonne, eine Pause mit N., einer Übersetzerinnenkollegin, die ich soeben kennengelernt habe. Ich spreche mit ihr über einen Treffpunkt in der Nähe meiner Wohnung in Berlin, der "für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle" bestimmt ist und erkläre, dass es mich immer gestört hat, dass die Bezeichnung "Heterosexuelle" beispielsweise nicht auf dem Schaufenster steht.

Aus einem mir heute noch rätselhaften Grund (war es das gute Wetter, die Feinfühligkeit von N., ihre ruhige und intelligente Art?) ist N. die Erste, die mir zeigt, was ich in dem, was ich bis dahin für eine umgekehrte Diskriminierung gehalten hatte, nicht gesehen habe. Sie öffnet mir die Tür zu einem - ihrem - Raum, erzählt mir von der Verwundbarkeit, die ihre sexuellen Entscheidungen mit sich bringen, und von ihrem Bedürfnis, hin und wieder einen geschützten Ort auf ihrem Weg vorzufinden. Sie predigt nichts und besteht auf nichts, sie teilt ihre Gefühle mit mir.

Sie ist eine der beiden Klassenkameraden, die ein Ende des Springseils hält und es hoch genug über meinen Kopf hinwegschwingt, sodass ich darunter hindurch über die Grenze gehen kann.

 


 

Paula Modersohn-Becker, Mädchen in weißem und blauem Hemd
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Drittes Bild

Nachname, Vorname, Familienstand, Wohnsitz. Wenn ich diese Formularfelder ausfülle, überkommt mich jedes Mal ein unwohles Gefühl. Die Daten sagen eindeutig, wer ich bin: Frau, weiß, verheiratet, Mutter, wahrscheinlich aus einem relativ bürgerlichen und kultivierten Umfeld.

Ist das wirklich so eindeutig? Bin ich wirklich nur die Summe dieser Etiketten? Habe ich nichts anderes zu sagen, denken, fühlen, als das, was diese Etiketten bedeuten?

                    
Ich bin allein mit meinem Springseil, das sich dreht, dreht, dreht, einen engen und verzerrten Kreis um mich herum zeichnet. Ich hüpfe in diesem präzise abgesteckten Kreis herum und langweile mich schrecklich.

 


 

Frida Kahlo, Ich und meine Papageien
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***

 

Diese Linien in Form eines Springseils, die eine Grenze zwischen dem anderen und mir ziehen, die Räume begrenzen und stets machtlos sind, wenn es darum geht zu beschreiben, was sich in dem Bereich abspielt, der vom anderen zu mir und von mir zum anderen führt, schlängeln sich auch um die Bücher.

Das Buch, das ich übersetze, ist dieses andere, vertraut und unbekannt, wie der kleine Junge in meiner Klasse. Übersetzen wäre dann der geglückte Dialog zwischen uns, bei dem man ihn versteht, obwohl ich es bin, die sprechen muss, einen Fuß auf jeder Seite des Springseils, diesmal ohne zu stolpern. Ohne dass meine Worte ganz unbewusst eine Grenze um mich und meine "Normalität" ziehen.

In meiner letzten Übersetzung, Töchter von Lucy Fricke1, stellte sich beispielsweise die Frage nach dem Geschlecht von "wir". Wenn die Erzählerin des Romans, Betty, "wir" sagt (Personalpronomen, erste Person plural, im Deutschen geschlechtsneutral), kann man sich zu Recht fragen, ob dieses "wir" ausschließlich weiblich oder gemischtgeschlechtlich ist. Im Austausch zwischen Lucy Fricke und ihren Übersetzerinnen stellte sich heraus, dass die Autorin bestimmte Passagen nicht auf das Weibliche beschränken wollte, dass es für sie wichtig war, dass sich jede·r unabhängig von seinem Geschlecht damit identifizieren kann. Um den Roman nicht bis ins Äußerste zu "feminisieren" und ihm nicht anzudichten, was er nicht sagt, musste ich also versuchen, im Französischen auf geschlechtsneutrale Formulierungen zurückgreifen, um dieses "wir" zu begleiten (geschlechtsunspezifische Adjektive und Verben, die in der Vergangenheitsform mit dem Hilfsverb „avoir“ konjugiert werden, da diese, anders als mit "être" konjugierte Verben, geschlechtsneutral sind, usw.). Hier habe ich auch das französische Pronomen "on" verwendet, das nicht unbedingt eine Deklination nach dem Genus mit sich bringt - wobei diese geschlechtsneutrale Form eigentlich eine männliche Form ist, was durchaus Anlass für weitere Debatten sein könnte.

Übersetzen bedeutet ebenfalls wie N. an diesem Tag in der Sonne zu sein: eine Vermittlerin, die in der Lage ist, Grenzen zu verschieben, mit (fast) ausschließlich Worten und Aufrichtigkeit als Waffe. Ich suche in dieser Szene nach der mysteriösen Zutat, die die Grenze aufgelöst hat, und weil ich diesen Moment als ein besonders helles Ereignis erinnere, wähle ich Klarheit und Durchblick. Dieses andere, das Buch in seiner ganzen Klarheit sehen, so wie den Ort, an dem ich "auf Erden stehe".2

Genau in dieser Position, die mir eigen ist, möchte ich übersetzen, ohne mich in der Begrenzung, die das Springseil zieht, selbst einzusperren. Ich möchte aus meinem Kreis ausbrechen, um dieses andere zu streifen, dieses andere, das ich nicht bin, das aber irgendwo in mir wohnt. Übersetzen heißt, den Mut zu haben, sich dem anderen zu nähern, das andere zu berühren – Berührungsmut.


 

Kiki Smith, Lying With A Wolf
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24.02.2021
Fußnoten
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© privat

Isabelle Liber, geboren in Avignon, lebt und arbeitet seit 2003 in Berlin. Ihre erste Übersetzung aus dem Deutschen erschien 2002 bei Actes Sud. Neben dem Übersetzen beteiligt sie sich auch gerne an anderen kreativen Tätigkeiten, die mit ihrer Arbeit verbunden sind - sei es die grafische Konzeption des Buches, die Treffen mit den Lesern bei Lesungen oder die Ausbildung von jungen Übersetzern. Sie übersetzte u.a. David Wagner, Karen Köhler, Alina Bronsky und Lucy Fricke.

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