TALKS Berührungsängste Eine schwindelerregende Berührung
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Eine schwindelerregende Berührung

Am Anfang dieses körperliche Verlangen: Die Finger zittern, es kribbelt in den Händen, den Armen, den Schultern, den Beinen … Übersetzen, und seien es nur einige Seiten, dem Text zuhören, ihn auf Französisch ertönen zu lassen, zum Leben zu erwecken … Sonst geht es nicht. Ohne dieses Verlangen will ich nicht übersetzen.

Warum dieses dringende Bedürfnis, diese Ungeduld? Wo ist es verwoben – zwischen meiner Subjektivität, den Texten der Anderen und ihrem Eintritt in meinen Körper? Wo im Körper: in Herz, Brust, Hirn, in den Eingeweiden, den Haaren? Wie gestaltet sie sich, die Topografie meines übersetzerischen Verlangens?

Gestern fiel mir beim Übersetzen auf, dass man im
Russischen „bis zu den Ohren verliebt ist“, im Deutschen
sogar „bis über beide Ohren“, während es im Französischen
„bis an den Nagelrand“ geht.

Und vor allem, warum dieser körperliche Durst nach Begegnung: Den Text mit der eigenen Sprache und Zunge zu befühlen, ihn mit den Händen abzutasten, mit den Fingern darüber zu gleiten, ihn wie Fleisch zu formen? In ihn einzudringen, in seiner Struktur herumzuwühlen, die Reihenfolge der Wörter im Satz durcheinanderzubringen, den Atem, die Interpunktion anzugreifen … Wenn der Text ein Körper ist, ist es dann, als würde man in den Körper eines Anderen eindringen, um seine Organe herumzuschieben? Wie kann man eine derart heikle Operation durchführen, ohne Schaden anzurichten, eine Geste der Liebe daraus machen, ihn unversehrt lassen?

*

Galina Rymbu, die Lyrikerin, die ich im Moment übersetze, dokumentiert die soziale Realität in ihrem Land und schreibt über die Lage der Frauen in Russland. Die Autorin ist genauso alt wie ich. Sie hat Philosophie studiert, ist in feministischen Kreisen aktiv und publiziert in Lyrikzeitschriften. So wie ich. Aber Galina Rymbu ist in einem Arbeiterviertel im sibirischen Omsk aufgewachsen. Das Elend der 1990er-Jahre, das auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgte, hat sie und ihre Familie mit voller Wucht getroffen. Sie findet eine Sprache, um diese Realität auszudrücken, die ich nicht kenne und nicht kennen kann; meine Eltern sind aus dem Land geflohen, damit ich sie nicht kennen musste. Eine Frau meiner Generation, die sich wie ich mit Genderfragen auseinandersetzt und in der Sprache meiner Kindheit über die Realität eines Landes schreibt, das ich kenne, ohne es zu kennen (oder das ich nicht kenne, obwohl ich es kenne). Das Bekannte und das Ferne. Was mir nah und entschieden fremd ist.

Als Übersetzerin und Autorin merke ich, dass diese von der Distanz gefärbte Nähe oder diese nahe Fremde die Auswahl der Texte bestimmt, die ich übersetzen möchte. Galina Rymbus Lyrik erscheint mir wie ein kommunizierendes Gefäß, das mit meinem literarischen Schaffen in einen Dialog tritt. Sie geht Fragen nach, denen auch ich nachgehe, aber sie spricht von einem anderen Ort aus. Ich habe festgestellt, dass dies bei Autor·innen, die ich übersetze, häufig der Fall ist. Das Verlangen, zu übersetzen, bedeutet für mich auch: Der Text eines/einer Anderen ruft nach mir, setzt etwas in Bewegung. Und manchmal entstehen so Impulse für mein eigenes Schreiben, der Text löst in der Sprache etwas aus. Die Fragen, die ich mir schreibend stelle, versuche ich, im Dialog mit Anderen zu beantworten.

Ich beobachte das gleiche bei Senthuran Varatharajahs „Vor der Zunahme der Zeichen“ (Fischer, 2016), einem Briefroman, der zugleich eine philosophische Reflexion über das Exil ist. Senthuran Varatharajah ist von tamilischer Herkunft und kam als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland. Beim Schreiben seines Romans hat er auf eine Reihe von autobiografischen Erinnerungen und Erfahrungen zurückgegriffen, die in einigen Punkten mit meinen übereinstimmen. Während ich sein Buch übersetzte, schloss ich gleichzeitig ein eigenes Buch ab, das den Titel „Silences d‘exils“ (Die Stillen des Exils) trägt. In diesem Buch umreiße ich in anderen literarischen Formen ähnliche Fragen. Sie betreffen den Verlust der Muttersprache, die Beziehung zum Stummsein, das Schweigen des Geflüchteten, dessen Sprache wie zugenäht ist oder von seiner Erfahrung zwischen den Ufern und den Welten überflutet wird.

Manchmal habe ich mich gefragt, ob Senthuran Varatharajahs Buch nicht zu nah dran ist. Zu nah an mir, an meinem Schreiben. Doch der Autor ist ein Mann, der aus einer Sprache und Kultur stammt, die von meiner weit entfernt ist. Ist diese Nähe, die ich empfinde, das Ergebnis einer Projektion? Diese Projektion in den Anderen kann mir bei der Übersetzung helfen. Aber ich muss herausfinden, wo mein eigener Platz ist, und sichergehen, dass ich die nötige Distanz wahre. 1

Um die Stimme eines oder einer Anderen tragen zu können, muss ich mir über mich selbst so klar wie möglich werden, über meine unbewussten Reflexe, meine sprachlichen Entscheidungen. Ich habe festgestellt, dass es mich zu Texten zieht, die in einer Art Verhältnis von Nähe und Diskrepanz zu meinem eigenen Schreiben stehen. Nun muss ich mir also meiner übersetzerischen Entscheidungen bewusst genug sein, damit meine Subjektivität die von mir übersetzten Texte nicht überschattet. Beim Übersetzen versuche ich mir stets folgende Fragen zu stellen: Wie werde ich dem Text gerecht, ohne übergriffig zu werden, ihn mir anzueignen, ihn zu kolonialisieren? Und bejahe zugleich, dass die Geste des Übersetzens ein Akt des Schreibens und des Neuschöpfens ist, der an die Subjektivität des Übersetzenden appelliert?

Die ganze Schwierigkeit, aber auch die Schönheit der Übersetzung rührt daher: Das Andere als Anderes zu respektieren, ein tiefgreifendes Verständnis seiner lyrischen Sprache zu erwerben, um sie in dem gleichen Moment, in dem man sie webt, wie eine zweite Haut überzustreifen. Aber man kann die Kleidung eines Anderen nicht tragen, ohne ein wenig von sich selbst zurückzulassen: Haare, Schamhaare, Schweißflecken …

Übersetzen, das ist auch die Reibung von Körpern, die Vermischung von Schweiß.
Im Inneren der Sprache eines/einer Anderen, man sieht alles, entdeckt alles.
Man weiß, wo er/sie die Unterhosen hinwirft, wie die Kleidung riecht, die er/sie achtlos über einen Stuhl legt.
Man hört, wie er/sie umherschweift und sich wiederholt.
Man putzt sein/ihr Zimmer an seiner/ihrer statt.

Wer spricht, wenn ich übersetze? Wenn ich vom Anderen eingenommen bin, fühle ich mich manchmal wie verfolgt, wie von den Autor·innen kolonialisiert, die ich übersetze. Ich bin von ihrer Sprache durchflutet, bis zu meinem tiefsten Grund. Bis zu dem Punkt, an dem ich nicht mehr schreiben kann, weil ihre Sprache mich völlig in Beschlag genommen hat.

Das bringt mich zu einer entscheidenden Frage: Wer hat in der Beziehung zwischen Autor·in und Übersetzer·in die Macht? Ich tendiere dazu, zu glauben, dass es die Übersetzenden sind, mit der Zielsprache in den Händen. Das ist auch der Grund, weshalb man nicht naiv sein sollte: Was die Einen Liebe nennen, heißt für die Anderen Vergewaltigung. Sobald es ein Verlangen gibt, besteht auch ein ernsthaftes Risiko von Einflussausübung bis hin zu Machtmissbrauch. Vielleicht erklärt das auch die Leidenschaft, die in der Debatte um Amanda Gorman zum Ausdruck kommt. Der Grat zwischen Begierde und Übergriff ist schmal, die Sprache manchmal intimer als der Körper. Welchen Sinn hat es, nach der Zustimmung der Autor·innen zu fragen, die wie ein Kind vor der unbekannten Sprache stehen und nicht wissen können, wozu sie ihre Zustimmung geben? Als Übersetzerin bin ich allein, mit meiner ästhetischen Intuition und meinem ethischen Bewusstsein als einzigen Wegweisern.

Als übersetzte Autorin ist es mir passiert, dass ich mich durch Übersetzungsvorschläge für meine Texte verletzt, verwundet, misshandelt gefühlt habe. Denn die Übersetzung kommt uns wirklich sehr nahe. Und dennoch trete ich für das Recht der Übersetzenden ein, sich den Text anzueignen. Das erfordert, dass man an sich selbst arbeitet, um das Andere in einem Text zu akzeptieren, das unseren Namen trägt. Manchmal auch nicht einfach.

*

Kürzlich wurde ich mit einem Grenzfall konfrontiert. Als ein Verleger, mit dem ich arbeite, mir ein Manuskript auf Russisch schickt und mich bittet, es schnellstmöglich zu lesen, weiß ich noch nicht, dass ich als eine der Ersten in ein Geheimnis eingeweiht werde. Eine Frau, ehemalige Lebensgefährtin eines öffentlich bekannten Mannes, schildert ihre Trennung, aber vor allem die häusliche Hölle, die er ihr auferlegte, die Vergewaltigungen, die Schläge und den verheerenden psychischen Einfluss, den er auf sie ausübte. Wie lässt sich angesichts dieser Art von Zeugenschaft eine Distanz wahren und welche Distanz ist die richtige, wenn man mit dem nackten Grauen konfrontiert wird? Instinktiv möchte ich den Text verteidigen. Ich will, dass er erscheint, ich glaube, dass in dieser rohen Darstellung von psychischer Gewalt etwas steckt, das es wert ist, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden.

Das Manuskript, das die Autorin geschickt hatte, ist ein erster Entwurf, an dem noch gearbeitet werden muss. Es beinhaltet sowohl sehr starke als auch unfertige Kapitel. Ich werde nicht nur mit der Übersetzung beauftragt, sondern auch vorab mit der Begleitung des Textes, eine Arbeit, die mit dem etwas vagen Begriff „Rewriting“ umschrieben wird. Die Architektur des Ganzen muss überarbeitet werden, einige Passagen werden gestrichen, andere auf Wunsch des Verlegers oder auf meinen Wunsch hinzugefügt. Als Übersetzerin übernehme ich eine heikle Vermittlerrolle. Manchmal muss ich die Autorin bitten, genauer zu werden und ein traumatisches Erlebnis in Worte zu fassen, um es den Leser·innen verständlich zu machen. Ich bin mir bewusst, wie viel Gewalt in meiner Bitte liegt.

Um die richtigen Worte zu finden, muss ich so nah wie möglich ran an das, was die Autorin erlebt hat. Manchmal führt das dazu, dass ich besonders bohrende Fragen stelle, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich einen traumatisierten Menschen so etwas je fragen würde. Ein Beispiel aus unserer Korrespondenz, ich befrage sie zu einer Vergewaltigungsszene:

„Die Szene sehe ich noch nicht vor mir. Hat er seine Knie auf deine Hände oder deine Unterarme gepresst?“
„Die Unterarme.“
„Und sein Penis in deinem Mund? Das lässt du aus.“
„Ja. Ich kann nicht über Sex schreiben.“
„Ich glaube, dass das explizit sein müsste. Ich schreibe: ‚Sein Geschlecht in meinem Mund.‘ Okay?“
„Okay.“

Die Grenzen zwischen Schreiben und Übersetzen sind schon im Normalfall fließend. Das einzige, was eine Art Solidität versichert, ist die objektive Existenz eines abgeschlossenen Originaltextes. Wenn der Originaltext jedoch selbst unbeständig ist, wird das Ziehen der Grenzen zu einer sehr gewagten Sache. Mit der Autorin an einem solchen, sich im Entstehen befindenden Manuskript über eine derartige Zeugenschaft zu arbeiten und gleichzeitig zu ihrer französischen Stimme zu werden, ist wirklich schwindelerregend.

Die Autorin schickte mir via Facebook Ergänzungen, Fragmente, die ins Manuskript eingefügt werden sollten, manchmal nur einige Sätze. Ich war die Einzige, der das vollständige Puzzle vorlag, das sich gerade durch das von ihr Geschickte zusammenfügte. Im Laufe dieser Arbeit, bei der es darum ging, mit der Autorin das Buch zu entwickeln, hatte ich die ganze Zeit die Befürchtung, ich könnte meine Macht missbrauchen – das Buch handelt von der Missbrauchsbeziehung, der die Autorin zum Opfer gefallen war, und ich hatte große Angst, durch die Eingriffe in ihren Text zu viel Macht auszuüben.

Kurz vor der Veröffentlichung beschloss ich, ein Pseudonym zu verwenden. Die Personen, um die es in diesem Buch geht, sind aus Fleisch und Blut, nicht aus Papier. Es ist ein Mittel, um Distanz zu schaffen, eine Grenze zu setzen und mich selbst zu schützen. Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen. Wie weit darf mein Engagement als Übersetzerin in mein eigenes Leben eingreifen? Eine weitere Frage, auf die ich keine Antwort habe.

*

Übersetzen oder auch berühren tangieren tasten streifen zerren umstellen sich einschleichen aushöhlen eingreifen entgräten auseinandernehmen zusammensetzen ausbeinen zusammenheften nähen besticken verfeinern sich aneignen zurückgeben verlieren geben nehmen finden erfinden vorstellen enträumlichen ansiedeln verheimatlosen utopisieren vergrößern veredeln verwandeln. All dies kann zum Übersetzen dazugehören.

Wie jeder Liebesakt kann auch die Übersetzung eine zweischneidige Angelegenheit sein. Wie jedes chirurgische Unterfangen ist sie fürsorglicher Eingriff und Blutbad zugleich.

In der Übersetzung wie auch im Leben ist es wahrscheinlich nur der Begriff der Verantwortung, der die Heilkunde von Schlächterei unterscheidet – und den/die Liebende/n vom Sexualverbrecher.

 

22.04.2021
Fußnoten
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©Michela Di Savino

Marina Skalova ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Deutschen und Russischen ins Französische. Sie übersetzt lyrische Prosa (Dorothee Elmiger, Senthuran Varatharajah), Theater (Thomas Köck, Katja Brunner, Ernst Barlach...) und Lyrik (Galina Rymbu, Maria Stepanova, Oksana Vassyakina, Martin Bieri, Dragica Rajcic, Rolf Hermann u.a). Als Autorin schreibt sie an den Grenzen zwischen literarischen Genres und Sprachen. Zu ihren eigenen Veröffentlichungen zählen der zweisprachige Lyrikband Atemnot (Cheyne éditeur, Prix de la Vocation, 2016), Exploration du flux (Seuil, 2018), das Theaterstück Der Sturz der Kometen und der Kosmonauten (L’Arche / Fischer, 2019) und, zusammen mit der Fotografin Nadège Abadie, das hybride Buch Silences d’exils (en bas, 2020).

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