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Sonntagsläuten

Beim Übersetzen des Romans „Herztier“
 

Ich bin in Enver Hoxhas Albanien aufgewachsen, einem Land, in dem es verboten war, Angst zu haben oder gar zu zeigen. Der Kommunismus mochte keine Angsthasen. Hätte man Angst gezeigt, wäre man kein würdiges Mitglied der Gesellschaft gewesen. „Der neue Mensch“, erschaffen durch das diktatorische System Enver Hoxhas, musste stark sein gegenüber den vielen Feinden des Sozialismus, die in der Paranoia des Diktators und des ganzen Systems, das diese Paranoia nährte, nicht nur an den Grenzen des selbstisolierten Albaniens agierten, sondern genauso auch innerhalb des Systems und der Gesellschaft.

Als man mir die Übersetzung des Romans „Herztier“ der Nobelpreisträgerin Herta Müller anvertraute, erfasste die Konfrontation damit alle meine Sinne. Eine regelrechte Panik erfasste mich, raubte mir den Schlaf. Es war eine völlig neue, irritierende Erfahrung, und sie ging nicht zurück auf die Sorge, einem literarischen Text nicht gewachsen zu sein, der durch seine Komplexität herausfordert: „Herztier“ ist auf starken Metaphern aufgebaut und besticht durch seine poetische Prosa, die reich ist an Idiomen, die mal aus dem Deutschen und mal aus dem Rumänischen kommen, und reale Situationen vermischen sich oft mit surrealen. Dieses Buch berührte mich schon mit dem ersten Satz: „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, sagte Edgar, wenn wir reden, werden wir lächerlich.“

Rumänien unter dem diktatorischen Regime Ceausescus ist mit Albanien unter dem Regime des Diktators Hoxha vergleichbar. Die Figuren aus „Herztier“ kannte ich, noch bevor ich ihnen in dem Buch begegnete. Es waren alte Bekannte aus meiner Vergangenheit, gestorben vor langer Zeit. In meiner Erinnerung wurden sie jetzt wieder lebendig, klagten an – warum hatte ich nichts unternommen, um sie zu retten? Lola, die Hauptfigur des Romans, ist Studentin, genauso wie ich es zu jener Zeit war. Wir haben beide in einem offenen Gefängnis gelebt, im Elend eines kleinen Studentenzimmers, wo auch die Wände Augen und Ohren hatten, wo wir uns auf dem Bügeleisen Eier brieten, uns gegenseitig Kleidung borgten und das wenige armselige Essen in der Studentenmensa aßen, wo aus den Lautsprechern vom Frühstück bis zum Abendbrot die Parteipropaganda im Chorgesang der Arbeiterklasse dröhnte. Lola, eine am mörderischen System verzweifelte, entpersonalisierte, ausgenutzte Studentin, erhängt sich mit dem Gürtel ihrer Zimmergenossin - es hätte mein Gürtel sein können. Das Gefühl der Verantwortung, ja Schuld, sie nicht gerettet zu haben, ließ mir keine Ruhe. Als Studentin war auch ich ein Opfer wie Lola, doch jetzt, beim Übersetzen, wurde ich gleichermaßen zur stummen Zeugin eines Verbrechens. Mit den Ängsten der Figuren durchlebte ich meine eigenen Ängste. Die Schatten der Vergangenheit und der Diktatur liefen nicht nur in den Zeilen des Romans und in meinen Erinnerungen umher, sondern nahmen auch Besitz von meiner Lebensrealität in der Gegenwart. Sollte ich darüber schweigen oder darüber sprechen? Ich begann, darüber zu schreiben. Eine Kindheitsszene:

„Als du geboren wurdest, mein Kind, trennte sich dieses Land von Gott. Dieses Land wurde verflucht.

„Aber warum, Oma? Was heißt, ‘es wurde verflucht?’“

„Ein Land, in dem keine Glocken mehr läuten, wird verflucht”, sagte sie. „Du wurdest in der Karwoche geboren. Aber wir haben die religiösen Feste nicht mehr öffentlich gefeiert. In jener Nacht ja, versteckt in Freude über deine Geburt. Am Ostertag ließ dich deine Mutter heimlich in einer Kirche in Südalbanien taufen. Vor die Haustür des Parteisekretärs hatte jemand nachts rote Eierschalen geworfen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Kleinstadt erstarrte vor Furcht. Und weil man ausspioniert hatte, dass wir gefeiert hatten, wurde deine Mutter in das Haus der Spitzel vorgeladen, das „Komitee der Partei der Arbeit” hieß.

‚Berichte der Partei‘, wurde sie aufgefordert, ‚habt ihr Ostern gefeiert?‘

‚Wir haben nur die Geburt meiner Tochter gefeiert.‘

‚Und warum hast du die roten Eierschalen vor die Haustür des Parteisekretärs geworfen?‘

‚Ich habe nichts geworfen.‘

‚Und warum hast du deine Tochter heimlich taufen lassen?‘

Ach du Schreck, wie hatten sie davon erfahren?! Sie antwortete auf keine Frage mehr.

Sie legten ihr ein Blatt Papier und einen Stift hin und sie sollte den Namen des Priesters aufschreiben. Sie sagten ihr, dass sie das Zimmer nicht verlassen wird, auch nicht zum Stillen, bis sie seinen Namen aufschrieben hat. Irgendwann, als es dunkel wurde, bekam sie, in der „Abteilung für Inneres“ eingeschlossen, reißende Brustschmerzen vom Milchstau und hohe Temperatur. Gegen Mitternacht wurde sie bewusstlos auf dem Fußboden liegend aufgefunden. Aus dem Krankenhaus kam sie am nächsten Tag nach Hause. Du hast in der Nacht viel geschrien. Wir konnten dir nichts zu trinken geben, weil du noch gestillt wurdest. Ich habe ein wenig Zucker genommen, eine Messerspitze, habe ihn in ein weißes Tuch wie in einen Schnuller gestreut und immer, wenn du geschrien hast, habe ich ihn dir in den Mund gesteckt, du hast daran gesaugt und hast dich beruhigt. Ich habe zu Gott gebetet, dass der wenige Zucker nicht ausgeht, bevor deine Mutter zurückkommt. Wir waren sehr arm. Irgendwann hast du dich beruhigt. Aber an der Brust wolltest du auch nicht mehr trinken. Du hast immer angesetzt und dann hast du geschrien. Bestimmt war die Milch bitter geworden. Wahrscheinlich haben sie deiner Mutter in der Nacht der seelischen Folter das Blut und die Milch vergiftet.“

 

Wir waren ein verängstigtes Volk. Wir lebten in der grausamsten Diktatur des ehemaligen kommunistischen Blocks, waren extrem isoliert. Die Grenzen waren unüberwindbar, viele Fluchtversuche endeten tödlich. Die meisten Todesopfer haben kein Grab, ihre sterblichen Überreste sind verschwunden.  Mit meinen Kinderaugen habe ich gesehen, wie die Leichen der bei Fluchtversuchen getöteten jungen Männer durch die Straßen gefahren und mit Steinen beworfen wurden. Post mortem. Wie kann man einen Toten mit Steinen bewerfen? Die Albaner verehren den Verstorbenen. Sie erweisen ihm mehr Ehre als einem Lebenden. Das System hatte die besten Traditionen nicht nur des Lebens, sondern auch des Todes vergewaltigt.

„Herztier“ zu übersetzen wurde zur Auseinandersetzung mit dieser finsteren, von der ganzen Gesellschaft verdrängten und beschwiegenen Vergangenheit. Wir hier in Albanien haben weder den Diktator getötet, wie es in Rumänien geschah, noch seine grausame Frau (die im Alter von über neunzig Jahren vor wenigen Monaten starb), noch die kriminellen Mitarbeiter der beiden; wir haben die Akten der Staatsicherheitsmitarbeiter nicht zugänglich gemacht, wie es in anderen ex-kommunistischen Ländern in Osteuropa der Fall war. Eine Aufarbeitung der blutigen Geschichte der Diktatur hat noch nicht stattgefunden. Die ehemaligen Parteifunktionäre retuschierten ihre Akten und verschleierten die Wahrheit. Einige von ihnen gingen mit gefälschten Dokumenten in den Westen und gaben sich als Verfolgte aus, dabei waren sie die Verfolger. Die Vergangenheit ist in meinem Land nicht vergangen, die Netzwerke der ehemaligen Staatssicherheit sind immer noch einflussreich.

Die von Herta Müller beschriebene Atmosphäre des Misstrauens und der Einschüchterung hat mich mit meinen Ängsten konfrontiert, den Traumata der albanischen Gesellschaft. Mein Ausweg war das Erzählen, um die Verdrängung zu überwinden. Der Erzählungsband „Kambanat e së dielës“ („Sonntagsläuten“) ist das Resultat, der 2019 erschien. Wir müssen die Verdrängung überwinden. „Herztier“ hat mir den Weg gewiesen, und ich wünsche und hoffe, dass meine Übersetzung auch die albanischen Leserinnen und Leser verändert.

 

22.04.2021
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© privat

Anna Kove, geboren 1968 in Pogradec, ist eine bekannte Dichterin und Übersetzerin aus Albanien. Sie studierte „Albanische Sprache und Literatur“ an der Universität Tirana (1986-1990) und setzte in Deutschland ihr postuniversitäres (Master-)Studium in „Medien und interkulturelle Kommunikation“ an der Europäischen Universität Viadrina (2002-2004) fort. Sie ist Autorin vieler Gedicht- und Prosabände, u.a. »Wo warst du St. Valentin«, »Wasserbrennen«, »Die Nymphe des verlorenen Baumes«, »Sonntagsglocken«. Als eine der angesehensten zeitgenössischen Autorinnen in Albanien wurde sie mit zahlreichen Preisen geehrt. Auch als Übersetzerin wurde sie mit vielen Preisen und Stipendien ausgezeichnet.

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