TALKS Berührungsängste Wie ich lernte, den Krieg zu lieben
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Wie ich lernte, den Krieg zu lieben

Anfang 2012 fragte mich die Lektorin eines angesehenen israelischen Traditionsverlags, ob ich mir vorstellen könnte, Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues neu zu übersetzen. Da sich im Juli 2014 der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal jähren würde, wollte man zu diesem Datum eine Neuübersetzung herausbringen.

Meine erste Reaktion war – kalter Schweiß. Es ging ja um einen der größten Klassiker der deutschen Literatur im Besonderen und der Weltliteratur im Allgemeinen. Der Gedanke, einen Klassiker anzupacken, ist ohnehin schon furchterregend. Außerdem war der Roman zuvor dreimal ins Hebräische übersetzt worden. Bereits 1929, nur wenige Monate nach dem Erscheinen der deutschen Originalausgabe, kamen fast gleichzeitig zwei hebräische Übersetzungen heraus, eine in Tel Aviv und eine in Warschau (vor dem Zweiten Weltkrieg und der Zerstörung des europäischen Judentums lag das Zentrum für Hebräisch-Übersetzungen in Ost- und Mitteleuropa, vor allem in Berlin, Wilna und Warschau). Eine dritte Übersetzung erschien 1982. Seither waren zwar dreißig Jahre vergangen, eine Zeitspanne, nach der man zweifellos über eine Neuübersetzung nachdenken darf, aber ich hatte trotzdem schwere Bedenken. Bekanntlich spielt die Handlung unter deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Wie sollte ich israelischen Hebräisch-Leser·innen Paul Bäumers Gefühle und Erlebnisse vermitteln, ohne ihn zu sehr in einen israelischen Soldaten zu verwandeln? Durfte ich deutsche Soldaten überhaupt mit Begriffen schildern, die den israelischen Streitkräften entnommen waren?

Und wie so oft, wenn mich Angst und Bangen überkommen, flüchtete ich mich – statt mich mit dem konkreten Fall auseinanderzusetzen und mich zu fragen, ob ich das betreffende Werk neu übersetzen könnte und sollte – in abstrakte Erwägungen (nicht umsonst habe ich ja Philosophie studiert). Mit aller Macht versuchte ich mich selbst zu überzeugen, dass ich einen solchen Klassiker nicht neu übersetzen konnte: Ich erinnerte mich an den berühmten Satz von Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Wittgenstein meint hier natürlich Sprache im Allgemeinen und nicht eine spezifische Sprache, doch könnte man seinen berühmten Satz auch so verstehen: Es gibt eine Grenze, die die Welt der einen Sprache von der einer anderen trennt und keine Berührung zwischen ihnen erlaubt. Jede Sprache ist eine in sich geschlossene Welt, denn jede ist ein geordnetes System von Sätzen, die sich alle aufeinander und auf das Gesamtsystem beziehen. Deshalb ist ein beliebiger, außerhalb dieses Systems geäußerter Satz kaum richtig zu verstehen, denn jeder Begriff in diesem Satz, wie auch die Zusammenhänge zwischen den Begriffen, sind einzigartig für das System der betreffenden Sprache und bauen auf den anderen Sätzen darin auf.

Doch nicht genug damit, dass der Satz ohne Kenntnis des Gesamtsystems kaum zu verstehen ist – er entbehrt ohne diese Zusammenhänge auch jeglichen Sinns. Wir erlernen unsere Muttersprache gleichzeitig mit dem Erwerb des Wissens über die Welt und nicht im luftleeren Raum. Lerne ich beispielsweise das Wort „Haus“, habe ich vorher ja keine Ahnung oder Vorstellung von einem Haus, dem ich das Wort anhefte, sondern der Erwerb des Begriffs, das Erfassen dieser Situation in der Welt, die „Haus“ genannt wird, erfolgt Hand in Hand mit dem Erlernen der Sprache. Dementsprechend ist jeder dieser Begriffe – und dabei auch jede Sprache – stets untrennbar mit der Welt verbunden, in der sie erworben wurden. Und wenn sich diese Welt nun von der Welt, in der eine andere Sprache erworben wird, unterscheidet, führt das doch zu dem Schluss, dass es einen Berührungspunkt zwischen den beiden Sprachen weder gibt noch geben kann. Von einer Sprache in eine andere übersetzen bedeutet praktisch, eine Welt in eine andere zu übertragen, eine Berührung und Durchdringung herbeizuführen. Doch diese Welten sind meist völlig getrennt voneinander, berühren sich nicht. Daher lässt sich aus einer Sprache nicht in eine andere übersetzen: Denn man müsste bei der Übersetzung ja auch all die Zusammenhänge, in der sie erworben wurde, mit übertragen.

Nachdem ich mir all das erklärt hatte, gelangte ich zu dem unausweichlichen Schluss, dass eine Übersetzung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ein auf Deutsch verfasster Roman bezieht alle Zusammenhänge der deutschen Sprache ein. Ihn ins Hebräische übersetzen bedeutet, ihn aus diesen Zusammenhängen zu lösen und in ein ganz anderes Bezugssystem einzubauen. Jeder Satz des Romans bekommt in der neuen Sprache eine gänzlich andere Bedeutung, eine, die den für die Zielsprache typischen Zusammenhängen entspringt. Sogar ein so simpler Satz wie „es geschah im Herbst“, lässt sich nicht übertragen, weil „Herbst“ bei deutschen Leser·innen etwas ganz anderes hervorruft als das entsprechende Wort „staw“ bei den hebräischen: andere Temperaturen, andere Klänge, Gerüche und Bilder, vor allem aber auch gänzlich andere kulturell bedingte Assoziationen. Ich war daher kurz davor, der Lektorin mitzuteilen, dass eine Neuübersetzung von Im Westen nichts Neues nicht möglich sei. Mehr noch: Von heute an würde ich gar nichts mehr übersetzen.

Aus diesem Sumpf gezogen hat mich kein anderer als Remarque persönlich. In einem Fernsehinterview über Im Westen nichts Neues sagte er: „Mein eigentliches Thema war ein rein menschliches Thema, dass man junge Menschen von 18 Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tode gegenüberstellt.“ Nicht über ein deutsches Thema hat Remarque also geschrieben, sondern über ein menschliches, und deshalb müsste es doch einen Weg geben, ihn in jede menschliche Sprache zu übertragen, müsste eine Berührung zwischen den Sprachen herzustellen sein, und dieser Berührungspunkt wäre gewiss die Menschlichkeit.

Sollte ich das Buch neu übersetzen (ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich meine Bedenken überwinden könnte), müsste ich eine Möglichkeit finden, mittels einer bestimmten Sprache, in diesem Fall des Hebräischen, ein allgemeinmenschliches Thema zu schildern. Wenn Remarque das auf Deutsch getan hatte, müsste es doch eigentlich auch auf Hebräisch gelingen. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Remarque, der Deutsch schreibt, benutzt das Beispiel deutscher Soldaten, um über das allgemeinmenschliche Thema zu schreiben. Ich hingegen müsste einen Weg finden, einerseits genug Fremdheit – das heißt Elemente aus der „deutschen“ Welt – im Hebräischen zu belassen, damit den Leser·innen bewusst wäre, dass es hier um deutsche Soldaten geht und nicht um Soldaten der israelischen Armee; anderseits müsste ich sie jedoch auch ein wenig an die Hand nehmen, um sie nicht unvermittelt dieser ihnen fremden Welt auszusetzen. Nur so würde es mir gelingen, den allgemeinmenschlichen Blickpunkt des Helden zu vermitteln und die emotionale Erschütterung zu erwirken, die der Roman mit seiner universalen Antikriegsbotschaft erzielen möchte.

Auch hier kam mir Remarque selbst zu Hilfe. Auch er hatte den Weg finden müssen, den Leser·innen zu vermitteln, wie der einfache Soldat das allgemeinmenschliche Wesen des Krieges wahrnimmt. Er tut das hauptsächlich auf zwei Wegen, denen wir bereits im Eröffnungssatz des Romans begegnen: „Wir liegen neun Kilometer hinter der Front.“ Erstens spricht Remarque von „wir“, nicht „ich“. Die einzigen Stellen des Romans, an denen der Text in die Seele des Einzelnen eindringt, sind diejenigen, an denen der Held über seine Zukunft nachdenkt oder sich an seine Vergangenheit erinnert; die Kriegserlebnisse hingegen werden allesamt in der ersten Person Plural wiedergegeben, der alle meinenden und alle vereinenden Sprachform. Was jedoch vielleicht noch wichtiger ist: Die Kriegsereignisse und die Erlebnisse der Soldaten werden im Präsens geschildert, der Zeit des unmittelbaren Erlebens. Die Verwendung des Präsens war seinerzeit ein ungewöhnliches literarisches Stilmittel, Remarque hat es daher sicherlich bewusst gewählt, um die Leser·innen in das Geschehen hineinzuziehen, ihnen das Gefühl zu vermitteln, selbst an vorderster Front zu stehen.

Und hier fand ich auch den überzeugenden Grund für eine Neuübersetzung des Romans. Bei der vorigen Übersetzung ins Hebräische, aus den 1980er Jahren, hatte der Übersetzer sich den Normen der hebräischen Literatur seiner Zeit angepasst und die Gegenwartsform des Originals in die Vergangenheitsform übertragen, war also in einem wichtigen Punkt von Remarques Schreibstil abgewichen. Das bewegte mich letztlich dazu, meine Bedenken zu überwinden und den Roman neu zu übersetzen: Der Wunsch, die Gegenwart in das Buch zurückzuholen, um es den hebräischen Leser·innen wieder nahezubringen, damit das allgemeinmenschliche Thema auch sie berühren konnte.

Eine angenehme Überraschung bezüglich der Fähigkeit einer Übersetzung, interkulturelle Brücken zu bauen, erwartete mich im Dezember 2020, mitten im zweiten Lockdown und in dem harten, kontaktarmen Winter. Eines Tages rief mich die Lehrerin einer religiösen Mädchenschule in Jerusalem an und erzählte mir, ihre Schülerinnen hätten meine Übersetzung von Im Westen nichts Neues gelesen und würden mit mir gern ein Zoom-Gespräch über die Übersetzung des Buches und über das Übersetzen im Allgemeinen führen. Normalerweise meide ich Zoom-Meetings jeglicher Art, da mir der menschliche Kontakt dabei fehlt. Doch hier habe ich gern eine Ausnahme gemacht, denn die Kultur der frommen Mädchen in Jerusalem war mir, dem säkularen Mann, der in Berlin lebt, ja in gewisser Hinsicht auch fremd. Ich erzählte ihnen ein wenig von den Gedanken, die ich hier ausgeführt habe, vor allem aber hörte ich ihnen zu. Mit Erstaunen merkte ich, wie sehr ihnen das Buch zu Herzen gegangen war und wie recht Remarque mit seiner Äußerung gehabt hatte, er habe einfach über „ein rein menschliches Thema“ geschrieben.

 

22.04.2021
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© Yehuda Swet Art

Gadi Goldberg, ursprünglich aus Israel, lebt seit mehr als 20 Jahren in Deutschland, ca. 17 davon in Berlin. Seit 2005 übersetzt er vollberuflich deutsche Literatur und Philosophie ins Hebräische, darunter Philosophiewerke von Kant, Hegel, Schopenhauer, Herder u.v.a. sowie Autor·innen wie Wolfgang Köppen, Erich Maria Remarque, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Arno Schmidt, Uwe Timm, Robert Menasse, Clemens Setz, Saša Stanišić, Kathrin Röggla, Barbara Honigmann u.v.a. Seit 2011 leitet er (zusammen mit Anne Birkenhauer) die Deutsch-Hebräische-ViceVersa-Übersetzerwerkstatt.

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