Wenn etwas berührt und Angst macht …
Literaturübersetzen braucht Einfühlung in das Sprachkunstwerk, in dem sich ein anderer Mensch ausgedrückt hat, braucht Einfühlung in das Andere, das potenziell Fremde, wie es Olga Radetzkaja in ihrem Beitrag Alle sein so wunderschön und treffend ausgeführt hat. Es braucht außerdem, aus dem großen sprachlichen Werkzeugkasten, den jede·r von uns angelegt hat, die passenden Stilmittel für den jeweiligen Originaltext, und sprachliche Inspiration für den individuellen Ton eines ganz bestimmten Originals. Wenn wir aber über Berührungsängste (oder -lüste) beim Übersetzen sprechen, geht es nicht nur und nicht in erster Linie um die Art Sprache, mit der wir in Kontakt kommen, es geht besonders stark um das Andere, zu dem wir in Beziehung treten müssen und wollen, um den oder die Andere.
Natürlich spielt hier eine Rolle, welche Lebenserfahrungen wir gemacht haben und wer wir sind. Im Rahmen der Debatte der letzten Zeit hat eine notwendige Abgrenzung von Identitätsfragen beim Literaturübersetzen stattgefunden. Ich habe in verschiedenen öffentlichen Äußerungen zu dem Themenkomplex betont, dass wir uns potenziell in alles und jede·n einfühlen können, das ist Teil unserer Aufgabenbeschreibung. Ebenso habe ich gesagt, dass „kürzere Einfühlungswege“, für die es biografische Gründe geben kann, möglicherweise hilfreich beim Übersetzen sind.
Dass das aber keinen Automatismus darstellt, möchte ich heute an zwei Beispielen illustrieren, zwei Angeboten auf meinem Schreibtisch, bei denen es mir noch einmal schlagend bewusst wurde. Die absehbare Berührung mit dem Geist und der Haltung hinter der Stimme eines Textes kann tatsächlich Ängste abrufen, und es ist unsere persönliche Entscheidung, eine Entscheidung mit unserer ganzen Persönlichkeit, ob wir uns darauf einlassen oder nicht. Und insofern ist der folgende Text auch persönlicher als alles, was ich bislang zum Literaturübersetzen geäußert habe.
Beispiel Nummer Eins ist der italienische Autor Curzio Malaparte. Eins seiner beiden Hauptwerke, „Die Haut“ (1949), las ich mit 21 als Student in Rom. Malaparte (1898-1957) ist eine schillernde, nicht unbedingt sympathische Figur der italienischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts; ein eigenwillig-dandyhafter Diplomat, Kriegsberichterstatter und Schriftsteller, der mit den Faschisten anbandelte, ihnen aber auch unbequem war (was ihm eine Verbannung auf die Insel Lipari einbrachte, von 1933-38), und der nach dem 2. Weltkrieg Katholik wurde und zugleich Maoist (er vermachte China sogar seine spektakulär futuristische Villa auf Capri, deren eigentlich unmögliche Baugenehmigung ihm 1938 Mussolinis Außenminister Ciani zugeschanzt hatte und die später zum Setting des Godard-Films „Die Verachtung“ wurde).
„Die Haut“ ist ein unter Hochspannung stehendes Buch, das auf Malapartes Eindrücken im Italien der Jahre 1943/44 beruht, in denen er als Verbindungsoffizier der italienischen Armee mit einem Offizier der US-Besatzungstruppen in Süditalien unterwegs war. Mussolini ist gestürzt, die Deutschen stehen und kämpfen noch im Lande, und Italien ist zerrissen: Was sind wir, Gewinner oder Verlierer des Krieges? Wie steht Europa in und nach diesem Krieg da? Diese großen Fragen treiben Malaparte tagtäglich um.
Entsetzen und Verzweiflung liegen unter dem scharfen, oft spitzzüngigen Reportageton des Buches, das wie ein autobiografischer Bericht daherkommt (erzählt von einem Ich namens Curzio Malaparte mit dessen biografisch zutreffenden Eigenschaften), aber gespickt ist mit surreal-fantastischen Szenen, die historisch nicht oder kaum belegbar sind und ihm von Zeitgenossen schwer vorgeworfen wurden. Malaparte schimpft viel. Auf die Italiener, die sich den Siegern an den Hals werfen; auf die Amerikaner, die meinen, für Geld könne man alles kaufen; auf die unmenschlichen Deutschen; auf, so seine gelegentlich hochkommende Verschwörungserzählung, alle möglichen Hintergrundseilschaften, die dafür verantwortlich sind, dass die Welt aus dem Lot ist. Fast zynisch könnte man sagen: Da darf ein Klassiker wie die Homophobie nicht fehlen. Zumal das dem Zeitgeist entsprach; damals schockierte das niemanden so recht, es war mehr oder weniger expliziter gesellschaftlicher Komment. (Der andere Klassiker, der Antisemitismus, fehlt übrigens, fast überraschenderweise.)
Hatte ich bei meiner ersten Lektüre mit 21 das empörte und zugleich geschliffene Gezeter zunächst noch mit amüsierter Distanz, ja, einem gewissen Vergnügen ob der Sprachmacht dieses stachligen ‚Diplomaten‘ gelesen, setzte bei der Homophobie heftiges Unbehagen ein. Das geht doch nicht, dachte ich. Ich zitiere aus Hellmut Ludwigs zuerst 1950 erschienener Übersetzung:
„Die Invertierten bilden bekanntlich eine Art internationaler Bruderschaft, eine geheime Gesellschaft, die von den Gesetzen einer empfänglichen und tiefen Freundschaft bestimmt wird und unabhängig ist von der Anfälligkeit und sprichwörtlichen Unbeständigkeit sexueller Bindungen. Die Liebe der Invertierten ist, Gott sei Dank, jenseits des einen und des andern Geschlechts und wäre ein vollkommenes Gefühl, völlig frei von jeder Art menschlicher Knechtung – sei es durch Tugenden oder durch Fehler, die dem Menschen eigen sind –, wenn nicht Launen und Hysterismen und gewisse hämische und bedauerliche üble Züge sie beherrschten, die ihrem Altjungferngemüte zuzurechnen sind.“ 1
Erstaunlich, wie der sich auszukennen behauptet, dachte ich. Und dann: Ist das denn so? Mir mit 21 war diese Bruderschaft noch nicht begegnet. Später, in einer besonders grotesken Szene, bezeichnet er sie (in einer recht verdrehten Argumentation) gegenüber seinem amerikanischen Offizier als „Helden der Freiheit“ und sagt:
„Du weißt nicht, wie wir schon gelitten haben wegen dieser feinen Rasse von Helden! Du weißt nicht, wie feige und bösartig diese Rasse von Helden ist! Sie würden sich rächen, sie würden mich ins Zuchthaus bringen, sie würden mich zugrunde richten. Jack, du weißt nicht, wie feige und bösartig Homosexuelle sind, wenn sie darauf aus sind, die Helden zu spielen!“
Mir wurde heiß. Mir, der sich nach der Beschäftigung mit den Nazis im Geschichtsunterricht mit 15 seine Nachbarschaft, Lehrer· und Mitschüler·innen argwöhnisch angeschaut und gedacht hatte: Wenn übermorgen das Regime wechselt, wer von euch würde mich nicht denunzieren und ins Lager bringen? So, dachte ich nun bei der Malaparte-Lektüre, denkt ihr also über uns, über mich? Von „tückischem Lumpengesindel“, „gellendem Weibergeschrei und fistelndem Stöhnen“ und dergleichen deftigen Zuschreibungen ganz zu schweigen.
Kurz gesagt, ich war verstört. Die Lektüre von „La pelle“ (auf Italienisch) machte mir im Jahre 1981 so viel Angst, dass ich noch einige Kapitel weiterlas und das Buch dann weglegte und verdrängte. Komplett. Als mich 38 Jahre später der Rowohlt Verlag fragte, ob ich „La pelle“ und Malapartes zweites Hauptwerk „Kaputt“ neu übersetzen wolle, erinnerte ich mich an Malapartes umwerfend starke literarische Sprache, an die intensiven historischen Momentaufnahmen, an grotesk-surreale Szenen im allgemeinen. An die galoppierende Homophobie und meine Angstabwehr erinnerte ich mich, ungelogen, nicht.
Ich signalisierte Interesse und vorläufige Zustimmung und machte mich an die erneute Lektüre. Dann kam das 4. Kapitel, „Die Rosen aus Fleisch“.
„Kaum war die Befreiung Neapels bekannt geworden, da strömten, wie von geheimnisvoller Stimme gerufen, wie angelockt vom süßen Geruch neuen Leders und Virginiatabaks, jenem Duft, blonder Frauen, der über dem amerikanischen Heere zu schweben scheint, die schmachtenden Scharen der Homosexuellen nicht nur Roms und Italiens, sondern ganz Europas zu Fuß durch die deutschen Linien (…)“
Meine Erinnerung tat sich auf wie eine Schleuse und flutete mich mit dem alten Unbehagen. Fucking shit, dachte ich, diesmal beiße ich mich durch. Und was soll ich sagen … an die Stelle der Angst war eine Art von Gelassenheit getreten. 38 Jahre ohne Wechsel zu einem Terrorregime und mit mancher Veränderung zu einer offeneren Gesellschaft bewirken natürlich etwas. Ich kann Malaparte als das sehen, was er wohl war: ein Mensch seiner Zeit, zerrissen von Verzweiflung und existenziellen Fragen der eigenen Zugehörigkeit, durchaus auch neidisch auf alle, für die die Zugehörigkeit einfacher aussah als für ihn (ob nun die ‚schlichten‘, ‚sauberen‘ Amerikaner oder die ‚dekadenten‘, ‚lüsternen‘ Homosexuellen). Und ein faszinierender, einzigartiger Stilist, dessen Sprachexzesse ich nicht als manieristisch oder pathetisch aufgeblasen empfinde, sondern als Ausdruck eines genuinen Ringens darum, seine Zeit mit all ihren Ungeheuerlichkeiten zu durchdringen und zu beschreiben. Angst macht er mir nicht mehr; oft empfinde ich Mitgefühl für seine Zerrissenheit – und echtes historisches Interesse an jener Zeit vor achtzig Jahren. Ich schlug dem Verlag ein einordnendes Nachwort vor, und nach der zustimmenden Antwort sagte ich zu.
Mit anderen Worten: Ich forderte Rowohlt nicht auf, sich doch bitte einen passenderen, einen homophoben, verzweifelten Übersetzer zu suchen … (Ja, ich weiß. Das hätte auch nie jemand verlangt, der oder die gleichberechtigten Zugang aller diskriminierten Minderheiten zu beispielsweise Übersetzungsaufträgen fordert. Niemand, dessen Kampf um Chancengleichheit ich ungeachtet von Identitätsfragen unterstütze.)
Ich bin gerade dabei, diesen Malaparte zu übersetzen. Es ist intensiv und wild und oft schwierig, aber es bereitet mir kein Unbehagen.
Ja, und manchmal gibt es Zufälle, die für jeden Roman zu unwahrscheinlich klingen würden. Ein Verlag (dessen Namen ich hier nicht nenne, weil es sich um ungelegte Eier handelt) fragte mich, ob ich „De profundis“ von Oscar Wilde neu übersetzen wolle. Dass bei dieser Casting-Überlegung die Tatsache meines selbstverständlich offen schwulen Lebens eine Rolle gespielt haben dürfte, musste nicht ausgesprochen werden; ein Verlag würde sich hier wahrscheinlich ungern ohne Not der heutzutage vielleicht drohenden Kritik aussetzen, einen Oscar Wilde von einem heterosexuellen Menschen neu übersetzen zu lassen.
Für problematisch oder unangemessen würde ich so eine Beauftragung übrigens nicht halten; Wilde schildert seine Erfahrungen und Gefühle, nachdem sein Leben durch öffentliche Demütigung und Gefängnisstrafe vernichtet worden ist, so eindringlich, dass niemand irgendwelche Mysterien der Homosexualität ergründen muss, um genau zu wissen, was die Einfühlung in diese literarische Stimme braucht. Es kommt, wie im Grunde immer, darauf an, dass die übersetzende Person sich dazu inspiriert fühlt und dazu in der Lage ist, eine überzeugende deutsche Entsprechung der literarischen Stimme zu gestalten, neu zu schreiben.
Auch „De profundis“ hatte ich in meinen Zwanzigern gelesen, also in den Achtzigerjahren. Da war es für mich biografisch noch nicht so lange her, dass ich mich hatte entscheiden müssen, ob ich für mein Leben das Risiko des Immer-Außenseiters in Kauf nehmen wollte, das seinerzeit durchaus noch drohte. Seinerzeit existierte im Fernsehen nur das Narrativ der Homosexualität als Verhängnis; wurden die gern als „heimlich“ oder „verboten“ bezeichneten „Neigungen“ überhaupt thematisiert, musste am Ende alles wieder seine Ordnung haben, sprich: der Schwule oder die Lesbe war tot, saß im Knast oder war zumindest hoffnungslos unglücklich. Bei allem politischen Aufbegehren der Regenbogen-Bewegungen gab es bestenfalls ein duldendes „Lasst uns doch damit in Ruhe“. AIDS wurde immer noch als „Schwulenseuche“ oder „Strafe Gottes“ bewertet, Regierungen wie die Ronald Reagans in den USA betrieben ganz real unterlassene Hilfeleistung, und die öffentliche Haltung war noch lange nicht in Mitgefühl und eine größere Offenheit in den Herzen und in der Politik umgeschlagen. Das kam erst später, nachdem auch andere Teile der Bevölkerung betroffen waren, bewunderte Promis usw.
Insofern war damals die Lektüre eines Buches wie „De Profundis“, das einen wahren Fall dokumentierte, einfach nur quälend. Die restlose Abwrackung, Bloßstellung und Vernichtung eines blitzenden Geistes, die Rache vielleicht auch an einem spitzzüngig-scharfsinnigen Gesellschaftskritiker, sprich: der Totalverlust der bürgerlichen Existenz war die zweite Horrorvariante neben Rosa Winkel und KZ (und der dritten, eben AIDS). „De profundis“ hatte mich deprimiert, empört und durchaus auch aufgescheucht, mich selbst nicht wegzuducken, sondern mitzuarbeiten an der Selbstverständlichkeit, dass Sexualität kein Diskriminierungsgrund sein darf.
Der Lektor, der mich vor einigen Wochen fragte, hatte betont, wie sehr ihm sowohl an der großen, erschütternden Liebesgeschichte in diesem Werk als auch an der Anklage gegen die unvorstellbare Ungerechtigkeit der damaligen Gesellschaft und damit jeder repressiven Gesellschaft liege. Zwei Anliegen, die ich sofort unterschreiben würde! Kann es etwas Beglückenderes geben, als aus einem nicht mehr repressiven Heute heraus noch einmal dieses tragische Schicksal aufleben und leuchten zu lassen, für die geschliffenen, mit all seinem Herzblut geschriebenen Worte des großen Oscar Wilde meine eigene Sprache zu finden?
Ich las das Buch wieder. Oscar Wilde sucht verzweifelt zu verstehen, was ihm passiert ist. Er überhäuft seinen geliebten Bosie (Lord Alfred Douglas), der das Auffliegen ihrer Beziehung verschuldet hat, mit Vorwürfen, dann auch mit Liebeserklärungen. Er klingt zunehmend zermahlen von der gnadenlosen Härte der Strafe. Er schreibt von Demut und meint die Demütigung, die er (in Briefen und weiterem Material, das zu „De profundis“ gehört) in Gnadenappellen an die Obrigkeit noch vertieft, wo er sich der Perversion beschuldigt und versucht, sie mit der Selbstdefinition als Künstler, zu der nervöse Verirrungen halt dazu gehören, halbwegs zu entschuldigen. Und schließlich wirft er sich, da es keine diesseitige Rettung mehr gibt, in die Arme des Christentums. Er, der kritische Freigeist, geht einer Religion auf den Leim, von deren Kirche(n) und deren Untaten wir genug wissen, um das zusätzlich Tragische und quasi Verhöhnende dieser Wendung einschätzen zu können. Es ist unerträglich.
Und am Ende, tja, am Ende ist „alles in Ordnung“ – der Perverse ist da, wo er ‚hingehört‘, wie in den alten Filmen und Büchern, er ist am Boden, er kriecht, winselt um Gnade, die ihm verwehrt bleibt, er ringt um Reste seiner Würde als Künstler und Mensch, Schluss mit lustig, der Hofnarr muss dran glauben. Die letzte Zeit seines Daseins, im Pariser Exil, in ‚Freiheit‘, muss Wilde nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen sein, gebrochen, aus der Sicht der ‚normalen‘ britischen Welt also doppelt ‚unschädlich‘: außer Landes und zerstört.
Ich lese das, und alles in mir schreit: In dieses Gefühl will ich nicht hinein, in diesen Horror der Angst vor „So einen wie dich wollen wir nicht“ will ich nicht wieder zurück, zumal es ja nicht mehr die Angst davor wäre, sondern der Zustand, nachdem die Angst Wirklichkeit wurde. Die souveräne Gelassenheit gegenüber Malaparte, den ich nicht mehr als Angriff empfinde, ist dahin, wenn es um das Einfühlen in einen geschundenen ‚Bruder‘ geht.
Es hat mich selbst erstaunt, wie heftig ich auf dieses Buch reagiere. Und es hat mir gezeigt: Zwar habe ich Diskriminierung (und die Angst davor) in unendlich geringerer Dosierung selbst erlebt und meine genau zu wissen, worum es geht – aber genau deshalb bin ich der Falsche für dieses Buch. Es geht mir viel zu nah. Die Worte würde ich finden können. Aber ich will nicht nach ihnen suchen, will sie nicht aus mir herausholen und durch mich hindurchschicken. Ich will nicht diese Stimme werden.
Und ich hoffe, der Verlag wird die Neuveröffentlichung von „De profundis“ mit einer neu übersetzten Sammlung der brillantesten Aphorismen und einigen von Wildes nicht minder brillanten Essays und Märchen verbinden, zum Beispiel in einem Schuber – damit alle Leser·innen sich selbst davon überzeugen können, welch einen Geist die Unmenschlichkeit und Verlogenheit dieser Obrigkeit zerstört haben. Und sich, so wie ich, darüber freuen, dass wir in besseren Zeiten leben, für deren Werte es sich zu kämpfen lohnt. So wie es die Aktivist·innen gegen Diskriminierung und für Chancengleichheit tun.