Ein neues Lied, ein besseres Lied – Mit Gedichten übersetzen
Die doppelt und dreifachen Bedeutungen des Tätigkeitsworts übersetzen sind hinlänglich bekannt, ab- und ausgeweidet worden, eine aber scheint mir dabei noch nie recht in Betracht gekommen zu sein und vielleicht auch nicht allgemein gebräuchlich, meine Kenntnis von ihr reicht jedoch, möchte ich meinen, vor alle anderen zurück, in jedem Fall in die Kindheit. Gemeint ist hier eine Technik, die beim Schlittschuhlaufen Anwendung findet, zumindest wenn man in diesem nur alle Jubeljahre ausübbaren Wintersport höherer Weihen und allgemeiner Anerkennung teilhaftig werden will, wozu ich es jedoch nie gebracht habe. So konnte ich nur die furchtlosen Sportskanonen bewundern, die mittels dieses rasant-eleganten Überkreuzens der Schritte die Kurven nahmen, und verlegte mich später auf das andere Übersetzen, auch das indes nur sporadisch. In meinem Kopf scheint mir dabei dennoch oft ein ähnlicher Vorgang vonstatten zu gehen; um den Drive eines Gedichtes beim Übertragen in eine andere Sprache zu erhalten, müssen nicht selten Bewegungen des Gedichts und seines Kontextes gegeneinander verschoben werden. Zumindest geht es auf die ein oder andere Weise immer darum, die Kurve zu kriegen bei deutlich spürbaren Fliehkräften, und dabei nicht allzu sehr in Schieflage zu geraten.
Ich möchte diese Analogie keineswegs überstrapazieren, aber das Eis, auf dem sich die Kräfteverhältnisse des Übersetzens abspielen, ist offenbar glatter geworden, auch dünner. Kleinste Unachtsamkeiten können gegenwärtig zu Sturz und schmerzhaftem Fall führen, gar zu Einbrechen und Untergehen, unbarmherzig schließt sich eine eiskalte Diskursschicht über den Unglücklichen, die es wagten. Oder man ist schon vornherein disqualifiziert aufgrund abweichender Ausrüstung oder rein phänotypischer Merkmale. Das mag absonderlich klingen für einen Leser der Vergangenheit und hoffentlich auch für eine Leserin der Zukunft, ist aber Gegenwart. Nun plagt mich kein besonderes Verlangen, mich in die leidige Debatte um Amanda Gormans Gedicht und die Frage, wer befugt ist, es zu übersetzen und wer nicht, einzumischen, und nur, weil mich diese Frage als Übersetzerin von Gedichten Maya Angelous selbst betrifft, werde ich jetzt gleich hier am Anfang etwas dazu aufs Papier werfen, auf dass ich es hinter mir habe.
Ich hatte in der Tat Berührungsängste, als die Anfrage, die große amerikanische Autorin Maya Angelou, wenn auch nur in einer kleinen Auswahl, zu übersetzen, an mich herangetragen wurde. Warum ich, war meine erste innere Frage, die eben mit dem gefühlten Abstand zur Autorin zu tun hatte, der für mich vielleicht weniger im Unterschied unserer Hautfarben bestand, sondern schlicht auch ein Alters- und sozusagen Berühmtheitsabstand ist – Angelou stellt, wie man allerorten nachlesen kann, in den USA eine Ikone dar, nicht zuletzt auch eine der Bürgerrechtsbewegung (und auch sie las, wie Gorman, zur Vereidigung eines Präsidenten, was für mich noch mal ein ganz eigenes Distanzierungspotential besitzt). Ich wusste einfach nicht, ob ich dem Anspruch, der in solchen Fällen ein ganz und gar außerliterarischer ist, gerecht werden kann – und will. Fürs Übersetzen ist es eher unpraktisch, wenn der Ausgangstext mitsamt seiner Verfasserin auf einem zu hohen Podest thront, man muss ständig hoch- und dann wieder runter aufs Arbeitsmaterial gucken. Gleichwohl beschäftigte mich die Hautfarbenfrage, aber eben aus Gründen, die, wie ich sofort merkte, überhaupt nicht in mir selbst lagen, sondern irgendwie klimatisch an mich herangeweht wirkten, mir war einfach auf sozusagen diffuse Weise klar, welche Empfindlichkeiten und aus ihnen abgeleiteten Anfeindungen das heutzutage heraufbeschwören kann, d.h., wie mir bestürzt aufging, dass wir angefangen haben, mit einer Zensur im Kopf und einer Angst zu leben. Tatsächlich fragte dann auch ein Freund, als ich ihm vom Vorhaben erzählte, ob man da nicht eher eine Schwarze deutsche Übersetzerin hätte finden sollen. Und dieser ganze Ansatz, ein Jahr vor Gorman, kam mir zwar an sich gut gemeint, aber insgesamt doch völlig falsch gedacht vor, ich war empört und diese Empörung rührte aus der Angst her: etwas falsch zu machen. Und genau das schien mir so falsch. Genauso wie die damit einhergehende Beflissenheit, die man inzwischen geradezu in Reinform an der deutschen Gorman-Übersetzung studieren kann und die schon mit der Beauftragung von gleich drei Übersetzerinnen, keine davon der Lyrik nahestehend, begann. Diese Übersetzung ist einzig vom streberhaften Bemühen getragen, keinen wokeness-Fehler zu machen, ein Gedicht ist dabei jedoch nicht herausgekommen, sondern höchstens etwas, wie von Heines Harfenmädchen in der Winterreise, mit wahrem Gefühle/ und falscher Stimme Gesungenes. Zudem scheint es mir bei all diesen Bestrebungen auch weniger um die Vermeidung sogenannter Verletzungen zu gehen (und wie herablassend ist es eigentlich, Minderheiten und Benachteiligte immer nur als unendlich vulnerable homogene Gruppen anzusehen, die vor allem beschützt werden müssen) als um die Vermeidung eigener Unbill, also Ziel von Hetzkampagnen zu werden, weil man nicht die aktuell als korrekt festgelegten Worte verwendet oder sich sonstwie gegen die Parteilinie vergangen hat, wobei die Absicht oder Absichtslosigkeit dahinter gar keine Rolle spielt, und schrecklicherweise ist diese Furcht ja mehr als berechtigt angesichts der Selbstherrlichkeit und Ambivalenzintoleranz der totalitären Tugendbolde. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Angst, angegriffen zu werden, die Form einer Berührungsangst angenommen hat, vorauseilenden Gehorsams.
Mit dieser Haltung kommt man jedoch weder dem Weltfrieden noch einer guten Übersetzung näher, und beide hängen meiner Meinung nach unmittelbar zusammen. Denn die ganze Idee der Übersetzung an sich, auch als das, was man einstmals mit Völkerverständigung bezeichnete, wird ad absurdum geführt, wenn die Voraussetzung für sie ist, dass sich Autorin und Übersetzerin (männliche Form stets mitgemeint) möglichst ähnlich sein müssen (wobei sich noch die Frage stellt, was Ähnlichkeit eigentlich ist). Dann besteht nämlich entweder nicht die Notwendigkeit einer Übersetzung oder nicht die Möglichkeit dazu – denn wer soll es dann lesen? Auch nur lauter ähnliche Leute, weil die anderen es nicht verstehen können? Aber wozu – wenn sie dann nur mit Erfahrungen konfrontiert werden, die sie eh schon haben? Es zeigt sich darin also gleich noch eine andere Zeitgeistigkeit: die Blase. Keiner soll mehr gegen seinen Willen Dingen ausgesetzt sein, die sich nicht unmittelbar an sein Sein, life and opinions, anschmiegen. Am besten lässt man Übersetzungen daher ganz bleiben, denn ist nicht bereits der Umstand einer anderen Sprache einfach zu fremdartig, um das irgendwem zumuten, um auf Verständnis stoßen zu können?
Weil ich aber einer altmodischen gegenteiligen Ansicht anhänge, die dem Universalismus nahesteht, und mehr für sense & sensibility als sensitivity bin, habe ich dennoch 33 Gedichte von Maya Angelou übersetzt. Dass ich alles genau so verstanden und übertragen habe wie von ihr gemeint, ist natürlich stark zu bezweifeln, denn das ist es immer, so viele Leser, so viele Gedichte. Auf grundlegende, unsere unterschiedlichen Herkünfte, Lebenswege, Hautfarben betreffende Verständnisschwierigkeiten bin ich jedoch nicht gestoßen, und ich glaube auch nicht daran, dass es menschliche Erfahrungen gibt, die absolut nicht oder nur mit Vertretern der eigenen ethnischen, sozialen oder anders vermeintlich distinkten Gruppe geteilt werden können. Es hieße ja nichts anderes, als der ein oder anderen Seite einen Teil des Menschseins, dem, was allen gemeinsam ist, ein weit über den eigenen Lebensbereich hinausreichendes Vorstellungs- und Empathievermögen, abzusprechen. Mir bleibt hier eigentlich nur noch, Maya Angelou selbst zu zitieren, aus einem Gedicht, das Human Family heißt und das ich nicht in die Auswahl aufgenommen habe, weil es mir wohl ein wenig platitüdenhaft erschien, aber wie man sieht, müssen auch Selbstverständlichkeiten beständig wiederholt werden: I note the obvious differences/ between each sort and type,/ but we are more alike, my friends,/ than we are unalike. Und auch sie wiederholt die letzten beiden Zeilen noch zweimal, wie eine Selbstversicherung und eine Zuversicht gegen die, ebenfalls allen Menschen gemeinsame, Dummheit.
Nun möchte ich nicht behaupten, dass biographische oder anders geartete Nähe einer Übersetzung nicht dienlich sein können, nur ist die Krux der Seelenverwandtschaft die der Identifikation (und Identität, dieses beliebte und immer wieder in besagte Debatten geschleuderte Wort, ist eben nur das, was es besagt: Übereinstimmung mit sich selbst; es kann daher nie ein Gruppenmerkmal sein, weil niemand in einer Gruppe vollständig aufgeht) und damit der Befangenheit: man kann sich selbst und auch ein Fast-wie-ich-selbst oft nicht gut übersetzen, und zwar aus unbewusster Angst vor einer, durch Übertragung ins fremde Andere (auch wenn es in diesem Fall die eigene Sprache ist), Verfälschung des Ich-Selbst. Das Original scheint in diesem Fall am stärksten das unantastbare Nonplusultra zu sein, jede Umformung ein Sakrileg. Als Schriftstellerin kenne ich die Erfahrung nur zu gut, dass gewisse, emotional aufgeladene Dinge sich erst mit einigem Abstand künstlerisch wertvoll zu Papier bringen lassen, und dies erweist sich auch im Verhältnis von zu übersetzender Autorin und Übersetzerin als wahr. Die Sache muss einen Haken haben: nämlich zum einen den als Angel fungierenden, der mich zu dem fremden Text hinzieht, mich berührt, und den der Widerborstigkeit, mit dem der Text sich mir zunächst entzieht.
Dies aber ist am häufigsten, weil am deutlichsten von Idiosynkrasien geprägt, bei Lyrik der Fall, weshalb ich sie auch am liebsten übersetze. Es tritt dabei ein hilfreiches Paradox auf: es ist gerade der größere Abstand, den man einnehmen muss – um aus einem Gedicht wieder ein Gedicht und keine Prosa zu machen – der für mich größere Nähe beim Übersetzen bedeutet, eben weil ich auch Dichterin und damit in meinem Element bin. Ich fühle gegenüber den mir anvertrauten englischen Gedichten eine besondere poetische Verantwortung, weil es nicht „nur“ darum geht, sie anständig ins Deutsche zu bringen. Und als ich an die Grenze kam,/ da fühlt ich ein stärkeres Klopfen: das beschreibt den Reiz, die Herausforderung recht gut, die in der Bewegung der gleich mehrfachen Grenzwertbestimmung beim Gedichtübersetzen liegen. Zunächst einmal ist da immer die Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Problematik der Unübersetzbarkeit von Gedichten, die ja geradezu als Ausweis ihres Gelungenseins gilt; eine Annahme, die meiner Meinung nach auch zutrifft, da Poesie nicht durch einen allgemeinsprachlichen Oberflächengebrauch von Sprache entsteht, sondern das Gedicht Sprache in ihrer Tiefenstruktur selbst ist, und dabei kann ein Grad der Intrikatheit und Komplexität entstehen, der eine Übersetzung mitunter nicht mehr sinnvoll erscheinen lässt, es sei denn, man verlegt sich, falls überhaupt möglich, auf eine Nachbildung, bei der das Originalgedicht dann nur noch Pate steht. Und im Zweifelsfall bin ich immer für die Nachdichtung anstelle wortgetreuer Übersetzung, was aber heißt, dass die Übersetzerin keine Bedenken haben darf, sich die Finger schmutzig zu machen, denn es muss dabei mit den bloßen Händen in der Erde gewühlt werden, um bei dieser Entwurzelung und Verpflanzung trotzdem das nötige Fingerspitzengefühl zu behalten, die feinen Würzelchen nicht rabiat abzubrechen. Vereinfachung und Verluste sind ohnehin fast unvermeidbar, schon allein, weil bei der Übersetzung oft, aus grammatischen und semantischen Gründen, etwas entschieden werden muss, das im Original unentschieden bleiben kann.
Darüberhinaus gibt es aber immer auch die Grenze zum eigenen Gedicht, die nicht überschritten werden darf. D.h. es sollten weniger Berührungsängste, als vielmehr Verrührungs- und Verführungsängste vorherrschen; was man in die eigene Sprache trägt, muss immer mehr sein als bloßes Material zu einem Text, der den eigenen zum Verwechseln ähnlich sieht. Auch wenn ich, selbstverständlich aus dichterischem Hochmut, überzeugt bin, dass Dichter die geeignetsten Übersetzer anderer Dichter sind, darf schon aus dieser Gefahr heraus die poetische Nähe beider nicht zu groß sein.
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,/ ich kenn auch die Herren Verfasser? Mir ist es lieber, ich kenne sie nicht. Am besten sind sie schon tot. Meine Berührungsangst ist, was diesen Aspekt von Übersetzungen angeht, am ausgeprägtesten. Nicht nur, weil eine gewisse Menschenscheu mir eigen ist, sondern noch aus mindestens zwei weiteren Gründen. Es kostet mich einige Überwindung, den Autoren der Gedichte zwecks Klärung von Fragen, die das Gedicht im Übersetzungsprozess in Form von Maulwurfshügeln oder Bergen aufwirft, zu schreiben – oder gar mit ihnen zu sprechen, weil ich immer fürchte, dass sie mich einer nicht ausreichenden Beherrschung ihrer Sprache verdächtigen, so dass sich also der ohnehin fast unvermeidliche Übertragungsverlust durch mein womöglich mangelndes Vermögen noch potenziert. In der Tat dilettiere ich ja (im Sinne von delectare), verglichen mit hauptberuflichen Übersetzern, und finde mich Nichtübersetzern gegenüber immer wieder in der unangenehmen Situation, sie von der mit Bewunderung verbundenen Illusion befreien zu müssen, ich beherrschte das Englische – als Übersetzerin! – ja wohl quasi muttersprachlich. Die Erklärung, die ich dann zu meiner Verteidigung abgebe, nämlich dass es, vor allem beim Gedichtübersetzen, mehr auf die Beherrschung der eigenen als der fremden Sprache, mehr auf ein Gefühl für diese Sprache und poetische Denkfähigkeit als einen riesigen Wortschatz ankäme, klingt in meinen eigenen Ohren wie eine etwas faule Ausrede, obwohl ich überzeugt bin, dass es stimmt.
Daneben bringt der direkte Kontakt gar nicht selten aber auch noch eine andere Schwierigkeit mit sich, es ist die der Unwissenheit des Dichters über sein eigenes Tun, und auch der Dichterin. Als solche weiß ich auch, dass dies eine wesentliche Komponente beim Dichten darstellt, ein halbes Vorbeigucken am Schreiben und das Vertrauen auf die Autonomie des poetisch durchtrainierten Hirns bringt meist bessere Gedichte hervor als die beste, durchdachteste Absicht. Was man getan hat, sieht man oft erst hinterher. Nicht alle aber legen sich darüber im Nachhinein noch Rechenschaft ab, es genügt ihnen zu spüren, dass das Gedicht funktioniert. Und so erhält man bei Nachfragen – neben gänzlicher Uneinsichtigkeit, was überhaupt die Existenz eines Textproblems angeht – more often than not die Antwort: weiß ich auch nicht. So erweist sich der eigentlich naheliegende Weg des direkten Nachhakens auch immer mal wieder als einer des umständlichen Festhängens, der die Sache ohne Erkenntnis-, nur mit Frustrationszuwachs unnötig in die Länge zieht und gleichzeitig die Skrupel vor eigenmächtigen Entscheidungen verstärkt. Die gleichwohl nicht in ihr Gegenteil umschlagen dürfen, auch der Versuchung zur „Verbesserung“ muss widerstanden werden, ein Dilemma ganz eigener Art, da Unstimmigkeiten im übersetzten Text häufig als Mängel der Übersetzung angesehen werden, wodurch, wie der Bote und die schlechte Nachricht, die Übersetzerin in ein ganz unfreiwilliges Näheverhältnis zu Autorin und Text gerät, mitgefangen, mitgehangen.
Am schlimmsten jedoch ist der Nähe-Spezialfall, wenn der oder die Übersetzte die Zielsprache ebenfalls einigermaßen gut beherrscht. In ihrem eigenen Interesse sollten sie die Übersetzungen ihrer Gedichte dann oft gar nicht erst zu Gesicht bekommen. Ich spreche aus eigener umgekehrter Erfahrung. Der Schock des Nichtwiedererkennens dieser Wechselbälger, illegitimen Kinder ist unter Umständen einfach zu groß. Und als ich die deutsche Sprache vernahm,/ da ward mir seltsam zumute, gelinde gesagt. Es hilft vielleicht nur, sich vor Augen zu führen, dass das, was da geschehen ist, dennoch als gute Tat gelten kann, vollbracht für den Rest der Welt.