TALKS Berührungsängste Vorsicht, jetzt singe ich
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Vorsicht, jetzt singe ich

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, kennen Sie das, wenn man sehnlichst darauf wartet, dass das neue Buch einer bestimmten Autorin endlich fertig wird, damit man es übersetzen kann? Weil die Autorin eine der wenigen ist, die zu übersetzen für Sie nicht nur mit Phrasen wie »eine Stimme finden» oder gar »leihen« beschrieben werden kann, sondern auch eine Einladung zu einer Innenschau enthält, einer langersehnten Übungsreise durch einen selbst, bei der man sich selbst in allerlei Gestalt über den Weg läuft? So geht es mir seit nunmehr zwei Jahren mit dem noch im Entstehen begriffenen Roman von Rasha Abbas. Wäre das dann Berührungssehnsucht? Denn Übersetzen ist ja immer eine Berührung, und mit einer Berührung geht auch immer ein Kontrollverlust einher, besonders für die Autorin. Mir fällt es jedenfalls viel leichter, einen Text zu übersetzen, als selbst einen zu schreiben. Übersetzen hat eher etwas von Karaoke. Also Vorsicht. Jetzt singe ich.

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Zwillingsgeschwister, die an den Köpfen miteinander verbunden sind, nennt man Craniopagus-Zwillinge. Beispielsweise die berühmten Zwillinge K. und T., die sich einen Thalamus teilen. Das ist der Teil des Gehirns, mit dem Entscheidungen gefällt werden. Dadurch kann K. den Beinen von T. befehlen, sich zu bewegen. Aber auch das Erleben dringt von der einen Seite zur anderen. Wenn T. Garnelen isst, schmeckt auch K. Garnelen. Wenn T. die Augen schließt, während K.s Blick gedankenverloren zu einem Baum schweift, sieht T. diesen ebenfalls.

Was aber hat das mit dem Übersetzen zu tun? Das will ich Ihnen nun erzählen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Sonntagmittage Ihrer Kindheit in holzvertäfelten Wirtschaften verbracht, wo über Schweinsbraten mit Knödeln Fliegenbänder geschaukelt hätten. Die Printmedien in Ihrem Haushalt wären die Bild und die Hörzu gewesen, manchmal hätte vielleicht auch eine neue Ausgabe der Sudetendeutschen Zeitung im Briefkasten gelegen. Einen bayerischen Akzent hätten Sie aus diesem ersten Habitat dennoch nicht davongetragen – in einer Art kindlichem Arrivismus hätten Sie früh gewittert, dass die Kinder, deren Eltern Hochdeutsch sprachen, schöner wohnten, weiter reisten und gemeinhin weltläufiger wirkten, also hätten Sie es ihnen nachgetan. Aber Sie hätten auch Wörter wie Latschenkiefer und Dohle gelernt, und das Turnen am Reck. Sie hätten gelernt, dass einen laschen Händedruck nur die Arbeitslosen haben und dass Lügen das Schlimmste sei. Sie hätten auch gelernt, Spitzwegerich von Breitwegerich zu unterscheiden, und welche »Ausländer« »Ausländer« waren. Italiener waren meist Italiener, Griechen waren meist Griechen [beide erkennbar nur in entsprechenden Lokalitäten] und blonde Menschen mit Akzent waren eher auch keine. Ausländer waren vielmehr diejenigen, die auch optisch als solche identifizierbar waren, was sich damals in erster Linie auf »Türken« belief, beziehungsweise alles, was an Rom, Kurd·innen, Bosnier·innen, Albaner·innen, Araber·innen et cetera unter dieser Bezeichnung verschwamm. Dann hätten Sie auch gelernt, dass jene »Ausländer« a priori zu verdächtigen seien, dass sie, wenn nicht etwas viel Schlimmeres, dann doch zumindest, »Grattler« seien, Asoziale. Daran wäre übrigens, in dem Umfeld aus Heizungsinstallateuren, Elektrikern und Postbeamten, in dem Sie aufgewachsen wären, nichts Ungewöhnliches gewesen. Es wäre in etwa der Konsens gewesen. Ungewöhnlich wäre vielleicht nur gewesen, dass Sie gleichzeitig schon immer gewusst hätten, dass eine jener Anderen Sie waren.

Was die Zwillinge K. und T. wohl machen, wenn die Eine etwas sagen möchte, die Andere aber verhindern will, dass sie es sagt? Sind sie dann oft einfach sprachlos? Wie muss es sich anfühlen, einen Streit auszutragen mit jemandem, dessen Gehirn mit dem eigenen verwachsen ist? Ringen dann überhaupt zwei unterschiedliche Meinungen miteinander, oder werden sie im gemeinsamen Thalamus zu einer dritten eingeschmolzen?

Denn nun lade ich Sie ein, sich vorzustellen, dass Sie, zusätzlich zu Ihren Eltern, also jenen deutschen, Republikaner-wählenden Kleinbürger·innen, noch andere Eltern hätten. Eltern, von denen Sie nichts wüssten, außer, dass es sie gab und woher sie kamen. Eltern, über die Sie nie nachzudenken brauchten [denn: Sie hatten ja bereits Eltern. Alles darüber hinaus war Glatteis und unsicherstes Gelände gewesen]. Eltern, die Ihnen nichts hinterlassen hätten, als ihre Gesichtszüge und Farben und das Unbekannte ihrer Gene. Eltern, die in den Sechziger Jahren nach Deutschland gekommen wären, die eine aus Westasien, der andere aus Nordafrika. Eltern, die sich ab dem Zeitpunkt ihrer Geburt hinter einer nagelneuen Geburtsurkunde, in der sie unerwähnt blieben, übergangslos in Luft aufgelöst hätten, nahtlos undokumentiert. [Außer in einer Abstammungsurkunde. Schon mal von sowas gehört?] Eltern, die mit ihren Reinigungs- und Küchenjobs den Prunk Münchener Edelhotels aufrecht- und die Maschine am Laufen gehalten hätten. Eltern, deren Beziehung zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, was ihre Mutter, mit Ihnen im Bauch, auf all ihr Prekär-Sein zurückgeworfen hätte. Ihre Mutter, die Argonautin [mit Achtzehn alleine vom Schwarzmeer nach München], ihre Mutter, verheiratet, geschieden, verliebt, schwanger, verraten, verstoßen, bis sie Sie in einer medeaartigen Verzweiflungsgeste einfach im Krankenhaus gelassen, »freigegeben« hätte.

Wie aber stellten sich das die Erwachsenen in Ihrem Umfeld vor? Wie sollte das funktionieren? Glaubten sie, ihre Missbilligung und Abwertung jener Anderen würde genau vor Ihrer Haut haltmachen? Die Regeln würden aussetzen, ein magischer Schalter umgelegt werden? In Wirklichkeit bewahrheitete sich Adornos Satz, dass es kein richtiges im falschen Leben geben kann, denn die diffuse Idee, dass Sie keine von jenen »Grattlern« sein sollten, sondern stattdessen ein Kind mit, »mei, schee, so a braune Haut«, funktionierte natürlich nicht. Sie, noch ein Dreikäsehoch, waren zutiefst verunsichert: »Warum sollte ausgerechnet ich ausgespart sein?« Die Erklärung, Sie seien ja nun aber »Deutsche«, glich einem Glaubenssatz, der nicht aufging. [Die Erwachsenen hielten sich ja nicht für Rassisten. Ihrer Meinung nach waren es ja nur die Anderen, die eben asozial, kriminell et cetera waren. Und Sie waren ja eine von ihnen, also waren Sie nicht so.]

An manchen Stellen aber brach die Matrix unvermittelt auf und Sie fanden sich flugs in der Realität all jener Anderen wieder. Verlor Ihre hellhäutige Mutter Sie im Supermarkt kurz aus den Augen, während Sie eine Rolle Geschenkpapier trugen, die Sie um Längen überragte, schrie die Kassiererin schon Zeter und Mordio, diese Türkenkinder wären wieder nur am Klauen. So eine Adoption ist schließlich keine Tarnkappe.

Zwischen dem Imperativ, das zu vergessen, was Sie verloren haben, und [in den progressiven, durchaus auch »diversen« Kreisen, in denen Sie später naturgemäß landen würden] dem anderen Imperativ des Ownens, des Betonens einer Sache, die Sie wahrscheinlich gar nicht sind, war Ihnen die Frage »Hast du schon mal darüber nachgedacht, deine Wurzeln zu erforschen?« kaum weniger Bedrohung, als das ruckartige Zerren am Teppich unter Ihren Füßen: »Woher kommst du eigentlich wirklich?« und die Feststellung, Ihr südländisches Aussehen sei doch eigentlich schön und exotisch, schien Ihnen nur eine abgewandelte Form der altbekannten Missbilligung zu sein.

[Spüren Sie sie auch, die Berührungsangst vor dem Reden über Rassismus? Fragen Sie sich gerade, ob Sie überhaupt eine Berechtigung dazu haben? Ist Ihr Schmerz nicht vielleicht doch nur eine Art Phantomschmerz? Ein Schmerz, der ein Organ befällt, das man sorgsam von Ihnen abgetrennt hatte? Entspringt Ihr Bedürfnis, das jetzt alles auszubreiten, nicht vielmehr Ihrem Wunsch, irgendwo dazuzugehören, besser spät als nie?]

Aber man war ja doch, was die Anderen in einem sahen. Wie ein wandelndes Spiegelbild für all ihre hässlichen Gedanken lief man durch die Welt, ohne etwas Wahres entgegnen zu können. Da konnte man noch so oft sagen, was man gelernt hatte, nämlich, dass man eine Deutsche sei. Man bekam doch das zugeteilt, was die Welt für Gesichter wie das eigene vorgesehen hatte: Raus hier, aber sofort. Wir kaufen nichts. Vor Siebzig Jahren habt ihr unseren Hunden noch das Fressen weggefressen. N*r, N*r. [Ein Chor von fünfzehn Kindern auf dem Schulhof, die einen Halbkreis um Sie bilden.] 

Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht verstören. Wirklich nicht. Ich weiß bloß nicht, wie ich das erzählen soll, mit dieser doppelten Matrix. Dabei sollte es hier doch eigentlich um Berührungsängste und ums Übersetzen gehen. Das Experiment ist hiermit beendet.

Aber vielleicht wagen wir ein Neues. Stellen Sie jetzt sich bitte vor, wie ich Sie anlächele. Wie ich versuche, mein Lächeln hinter der FFP2-Maske möglichst weit hoch in die Augenwinkel zu verlagern, damit Sie es auch ja sehen können, und wie wir uns dann ein wenig zu lang in die Augen blicken, jeder von uns verunsichert, ob der andere gerade lächelt und ob er das eigene Lächeln in den Augen sehen kann. Oder nicht.

Sehen oder nicht sehen. Das eine ist das Gegenteil des anderen. Aber dann gibt es im Deutschen noch das Jein, für dessen Entstehung sich das Ja und das Nein nicht bloß berühren, um gleich wieder [in einer Extremform von Berührungsangst] auseinanderzustreben wie zwei gleichgepolte Magneten, sondern es entsteht aus ihrer Überlagerung ein neues Wort, ein dritter Ort. Und in manchen Situationen wird es einem so eng, da steht man mit dem Rücken zur Wand, und plötzlich tut sich ein zusätzlicher Raum hinter einem im Gemäuer auf, wohin man ausweichen kann.

Sie waren noch ein halbes Kind, als Sie sich wie selbstverständlich hingezogen fühlten zu linken, progressiven Kreisen. Dort lag die Lösung. Alle Menschen sind gleich. Rassismus muss man die Stirn bieten. Aber diese Lösung war oberflächlich. Sie half Ihnen genaugenommen überhaupt nicht. Denn wann immer die Matrix wieder aufbrach und Sie sich nackt unter dem mörderisch hellen Licht der physischen Realität wiederfanden, waren Sie mit Ihrem Latein am Ende. Sie lernten über Privilegien und wussten, als Deutsche waren Sie privilegierter als die meisten Menschen, beispielsweise die im süditalienischen Neapel, wo Sie Kunst studierten. Doch wie hilflos waren Sie, als Ihre Nachbarin Ihnen dort, nachdem junge Männer Sie abends zusammengeschlagen hatten, erklärte: Das mit dem Schlagen sei wirklich nicht in Ordnung gewesen, aber man sehe Ihnen nun einmal nicht an, dass Sie Deutsche sind, und nicht, beispielsweise, Gott bewahre, Marokkanerin!

Viel später erst, so ungefähr mit fünfundzwanzig Jahren und zwei Monaten, kam Ihnen der rettende Gedanke: Was, wenn es wirklich, wirklich alles falsch sein sollte? Was, wenn jene Anderen, die Sie waren und die Sie nicht waren, die Sie auf keinen Fall sein wollten und die Sie doch immer sein sollten, von denen Sie kamen und von denen Sie nichts wussten, – Was, wenn sie wirklich viele Dinge taten, sagten, schrieben, produzierten, derer Sie sich nicht im Geringsten zu schämen brauchten? Wäre das nicht die Rettung?

Also lernen Sie Türkisch und Arabisch. Sinnloserweise erst beides gleichzeitig, dann doch nur Arabisch [weitere Reichweite, dachten Sie], autodidaktisch, ohne Ressourcen, eigentlich mitten im Kunststudium, mit manischem Ehrgeiz, schlafwandlerisch.

Und wurden Übersetzerin.

Die Zwillingsschwester hatte das Steuer übernommen.

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Lügen sind das Schlimmste, aber manchmal gibt es das ja: dass Lügen glaubwürdiger erscheinen, als die Wahrheit es je sein könnte. Ich finde es oft schwierig, Fragen so zu beantworten, dass die Antwort einerseits der Wahrheit entspricht, andererseits den Fragenden so befriedigt, dass er sie für bare Münze nimmt. Gerade bei den Fragen, deren Antworten einem eigentlich am selbstverständlichsten aus dem Mund gleiten sollten. Wie heißt du? Hast du Geschwister? Woher kommst du? Wann hast du Deutsch gelernt? Aus welchem arabischen Land kommen deine Eltern? Beispielsweise auf die Frage, ob ich Geschwister habe, müsste ich, wenn man’s genau nimmt, mit „Jein“ antworten. Aber sagen wir einmal, ich, Sandra Hetzl, habe keine Geschwister. Dennoch finde ich Zwillingsexperimente eine gelungene Metapher für vieles, das ich hier darzulegen versuche. Oft frage ich mich: Wer wäre ich, wenn mein Leben einen anderen, weniger unwahrscheinlichen Lauf genommen hätte? Diese Andere, die ich dann wäre, wäre die, die die anderen in mir sehen. Meine Zwillingsschwester. Und auf einer Ebene ist die Vermittlungsarbeit, die ich als Übersetzerin betreibe, eine Vermittlung zwischen den beiden: Ihr und mir. Verstehen Sie?

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Hallo nochmal. Ich bin Sandra Hetzl, 41 Jahre alt, Literaturübersetzerin aus dem Arabischen.

Einmal habe ich ein paar Jahre in Beirut gelebt. Dabei musste ich alle zwei Monate aus- und wieder einreisen, um mein Touristenvisum zu erneuern. Bei der Einreise in den Libanon wurde mir jedes Mal ein bisschen flau im Magen, wenn ich in das rosa Formular, das man im Flieger oder am Flughafen zum Ausfüllen in die Hand gedrückt bekam, unter »profession« »Translator« eintrug. Was, wenn mich der Typ bei der Passkontrolle am Rafic Hariri International Airport gleich fragt, aus und in welche Sprachen ich übersetze?

Einmal kam es dazu. Zum Glück hatte ich zu diesem Zeitpunkt die Szene bereits tausend Mal im Kopf durchgespielt und wusste, wie ich mich zu verhalten hatte. Min ayya lugha? Aus welcher Sprache?  Ich aber kniff verständnislos die Augen zusammen, legte meinen Kopf leicht schräg, blickte dabei freundlich und etwas verwirrt drein, kräuselte kokett die Nase und flötete Excuse me? Mit skeptischem Blick wiederholte er seine Frage auf Englisch. – Italian, habe ich dann gesagt. Italian to German.

Nun fragen Sie sich bestimmt, wieso in Gottes Namen jemand, nachdem er mühevoll im Selbststudium eine so schwere Sprache erlernt und diese Kenntnis zu seinem Beruf gemacht hat, all das Erworbene dann verleugnet, noch dazu in einem der Länder, wo sie gesprochen wird?

Warum? Eintütungsängste, würde ich sagen. Einsackungsängste.

But what if a stranger speaks exactly, and expresses himself as clearly, as we do? Everything changes in that case. Gentleness and kindness end, and suspicion begins.“
Abdelfattah Kilito »Thou Shalt Not Speak My Language«, (2008), Syracuse University Press, S. 91.

 

Nach unzähligen, mehr als beunruhigenden Szenen an Flughäfen [Abgeführt werden in gruselige Nebenkammern; Drohungen, den Pass zu konfiszieren; Flüge verpassen], in arabischen Botschaften »auf deutschem Boden« und Behörden [Herr H., der Geheimdienstbeauftragte: »Sagen Sie mir jetzt, und zwar ohne Wenn und Aber: Wer sind Sie wirklich?«], habe ich mir geschworen, nie wieder vor einem arabischen Menschen in Uniform zu offenbaren, dass ich Arabisch kann. Denn tue ich das, ist das Bild der Hochstaplerin komplett: Sieht so aus, redet so, aber behauptet, sie sei Sandra Hetzl und eine Deutsche?

Aber auch in Deutschland, wenn ich Deutsch spreche [einmal abgesehen von den vielen Situationen,  in denen ich von Personen, die sich für »echte« Deutsche halten, erstaunte Komplimente zu meinem hervorragendem Deutsch bekomme]: Wie oft schon wurde ich von »meinen türkisch- oder arabischstämmigen Landsleuten« für eine Hochstaplerin gehalten. Wie oft schon stapfte ich wütend aus Berliner Bäckereien oder knallte Taxitüren hinter mir zu, weil meine random Gesprächspartner mir zu verstehen gaben, ich verrate meine Wurzeln und würde auf ihre Frage hin, woher ich komme, dreisterweise behaupten, ich, ja im Grunde eine von Ihresgleichen, wäre »etwas Besseres«, eine »Deutsche«. Dabei ist mir einfach nur nicht immer danach, irgendwelchen Wildfremden die wahre, traurige Geschichte zu erzählen, die in ihren Augen eh darauf hinausläuft, dass ich eine bemitleidenswerte Bastardin bin und meine argonautische Mutter eine böse Hexe.

Ich hatte immer gedacht, »Hochstaplerin« käme wirklich von »Stapeln», und dass das Entscheidende nur ist, ob man von oben herunter oder von unten herauf stapelt. 1 Ob man Strohhalm auf Strohhalm in die Krippe legt, damit der kleine Heiland irgendwann in ferner Zukunft weich schläft, oder ob man die Sache abkürzt. Letztens habe ich ein Interview mit einem jungen Mann aus ärmlichen Verhältnissen gesehen, der in seiner Jugend mit seinen Freunden zwei Zentner Gold gestohlen hat. Im Interview erzählt er: »Wir haben uns das ganze Equipment besorgt. Polizeiuniform, Blaulicht, einfach alles, was ein Polizist bei einer allgemeinen Kontrolle braucht.«

Mit einer vergleichsweise kleinen Investition wird eine Attrappe aufgebaut, die einen als Repräsentanten der Macht erscheinen lässt, was einem unverzüglich Zugriff auf alles Ersehnte verschafft.

Als Steuerfahnder und Polizisten verkleidet, hielten sie in der Nähe von Stuttgart einen Goldtransporter an und sagten einen einzigen, magischen Satz: »Das Gold ist beschlagnahmt.«

Meine Investition aber war keine kleine und was ich habe, ist keine Attrappe. Dass ich anders heiße, als mein Gesicht suggeriert, ist das Ergebnis eines Verlusts. Und dass ich nach einem Twist nun doch wieder so spreche, dass es mein Aussehen zu rechtfertigen scheint: das ist das Ergebnis meiner Investition. Nur wirkt das alles völlig unplausibel, nicht zusammenpassend, und dort, wo es doch so aussieht, als gehöre etwas zusammen, trügt der Schein. Ich bin wirklich die Steuerfahnderin, oder auch nicht, aber ich muss das Gold beschlagnahmen und habe mein Auto verloren, deshalb fahre ich jetzt einen bunten Käfer, durch eine Welt, die bunte Käfer hasst, und statt eines einzigen, magischen Satzes spreche ich in Fußnoten.

Vielleicht ist es ja so: je mehr Brüche ein Mensch in der Identität hat, also je mehr biografische Erzählstränge plötzlich abbrechen, je mehr Fußnoten man bräuchte, um sich zu erzählen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass man sich von den größeren Erzählungen mitgemeint fühlt.

Ein solcher Bruch kann beispielsweise eine Auswanderungsgeschichte sein; bei anschließender Adoption vertausendfacht er sich. Es entsteht ein Kaleidoskop der Fußnoten. Vielleicht hält man dann eher Ausschau nach universalistischen Erzählungen. Weil sie die einzigen sind, außer halt der eigenen, völlig unwahrscheinlichen und, wie Sie sehen, kaum erzählbaren Geschichte, die einen zusammen mit anderen meinen könnten. Weil sie die einzigen sind, bei der man nicht als Kollateralschaden irgendwo am Rand kleben bleibt. Bin ich eine Übersetzerin of Colour? Vermutlich, denn PoC ist wohl der einzige Aggregatszustand, in den ich nicht als Quereinsteigerin gekommen bin, das bin ich schließlich seit meiner Geburt, egal ob Bounty [von außen braun, von innen weiß] oder Speckdattel [von außen Schweinswurstesserin, von innen halal], den Hass kenn' ich, seit ich denken kann. Aber konfrontiert mit Gruppenidentitäten fühle ich mich mit meiner insektenkleinen Identität immer gleich so zermalmt.

Kurz vorm Aufprall, Berührungsängste mit der Wand,
gegen die man den Karren zu fahren droht,
wenn man gerade dabei ist, die Deadline für einen Text zu verpassen.

Bin ich nun besonders geeignet, oder besonders ungeeignet, um die Frage zu bearbeiten, wer wen übersetzen darf? Ich denke, beim Erzählen [und wahrscheinlich auch beim Übersetzen?] macht es schon einen Unterschied, ob man sich selbst als Hausherrin fühlt, und dann vielleicht mit einer Einfühlsamkeit der großen Gesten, beispielsweise, die „Fremden“ im eigenen Haus willkommen heißt, oder ob man das Gefühl, in jenem Haus selbst nur ein Schatten zu sein, der die Wände entlang huscht, von Innen kennt. Nur lassen sich diese Perspektiven nicht unbedingt am Namen oder Teint einer Übersetzerin ablesen. 

Für mich selbst kann ich sagen: Das Übersetzen ist die perfekte Beschäftigung, die es mir ermöglicht, mich in meinem Dazwischensein gut einzurichten. Und mein Dazwischensein erscheint mir als der ideale Ort fürs Übersetzen.

 

15.06.2021
Fußnoten
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© privat

Sandra Hetzl, geboren 1980 in München, übersetzt literarische Texte aus dem Arabischen, u.a. von Rasha Abbas, Haytham El Wardany, Kadhem Khanjar, Mohammad Al Attar, Bushra al-Maktari, Aref Hamza, Raif Badawi, Aboud Saeed und Assaf Alassaf, und manchmal schreibt sie auch. Sie hat einen Master in Visual Culture Studies von der Universität der Künste in Berlin, ist Gründerin des Literaturkollektivs 10/11 für zeitgenössische arabische Literatur und des Mini-Literaturfestivals Downtown Spandau Medina.

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