Wer spricht, spricht, spricht?
Seit Wochen versuche ich diesen Text zu schreiben. Seit Wochen sammele ich meine Gedanken und die Wortmeldungen anderer zusammen und weiß nicht, wie sie in einem Text unterkommen sollen. Ich danke insbesondere Marion Kraft, die mich in einem Gespräch ermutigte, in Fragen der Übersetzung neben der persönlichen Ebene, der Ebene des individuellen Sprachgefühls und der Erfahrung als Übersetzerin - Ich kann übersetzen, weil ich sprachlich in der Lage bin und mich einlesen und einfühlen kann - eben auch gesellschaftliche Machtverhältnisse mitzubedenken.
Vollkontakt und Berührungsängste
Wenn ich es bedenke, stieß ich von Beginn an in meiner Arbeit als Übersetzerin auf sprachliche und politische Fragen - oder anders gesagt: Es wurde deutlich, dass übersetzerische und politische Fragen immer zusammen und ineinander verwoben auftreten. Es gab ihn nie, den rein-literarischen Moment. Literarisches Übersetzen zeigte sich von Anfang an als eine Arbeit, die zwar die stille und geduldige Hinwendung zum Text erforderte, aber selbst schon auf dem Papier und im Kopf nicht nur literarisch herausfordernd war.
Meine erste literarische Übersetzung war vor einigen Jahren Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha, ein poetisches und schmerzhaftes Buch, das mir in Paris von einer Buchhändlerin empfohlen worden war. Das mich berührt hatte, als ich es auf Französisch las, weil es die Geschichte einer Dolmetscherin für Asylverfahren erzählt, die dagegen ankämpft, von den Erzählungen der Menschen, für die sie dolmetscht, ganz vereinnahmt zu werden - eben weil diese Erzählungen beim Dolmetschen zwangsläufig durch ihren Kopf, durch ihren Körper, durch sie hindurch gehen. Die auch dagegen ankämpft, in den Augen der weißen Franzosen immer wieder zur Migrantin gemacht zu werden, den Menschen ähnlich, für die sie dolmetscht. Obwohl sie doch selbst schon in Frankreich angekommen ist und die französische Sprache zu ihrer gemacht hat. Ein Roman mit einer Protagonistin, die sich in Frankreich als Frau of color und Intellektuelle mit intersektionalen Diskriminierungserfahrungen konfrontiert sieht, mit Fragen von class, gender und race, die sich im Text nicht auflösen lassen, die sich an keiner Stelle in Solidarität verwandeln, die aufreibend bleiben und Grund für die große Hitze im Text sind. Der Text, der mir beim Lesen gefallen hatte, ging mir beim Übersetzen oft unangenehm nah. In gewisser Weise stand ich im Clinch mit der Protagonistin des Romans, ich konnte mit ihr fühlen, dann wieder wollte ich sie von mir fern halten - und ich verstand ihre Sehnsucht nach einem Ort der Stille allzu gut, wo die sich überlagernden Erzählungen und Widersprüche verstummen.
Shumona Sinha hatte ihren Roman 2011 in Frankreich veröffentlicht. Als ich ihn übersetzte und er auf Deutsch erschien, war es Sommer 2015 in Deutschland. Das bedeutete: Tausende Menschen flohen vor dem Krieg in Syrien und gelangten in der Hoffnung nach Deutschland, ihr Recht auf Asyl geltend machen zu können. Die deutsche Gesellschaft schaffte es an manchen Stellen, eine Willkommenskultur zu etablieren, und verharrte an anderen in Abwehrreflexen, die sich zunehmend radikalisierten und schon im August 2015 zu den Ausschreitungen in Heidenau in Sachsen führten, als Teile der Stadtbevölkerung und extrem rechte Gewalttäter über Tage eine Unterkunft für Geflüchtete in einem ehemaligen Baumarkt angriffen.
In dieser Atmosphäre nun erschien Erschlagt die Armen! in Deutschland. Shumona Sinha und ich kannten uns bisher nicht persönlich. Wir gingen auf Lesereise. Wir fuhren gemeinsam durch kleinere und größere westdeutsche Städte, wir lasen in Dortmund, in Hamm, in Aachen, wir lasen vor einem interessierten Publikum, wir lasen vor einem fast ausschließlich weißen Publikum über fünfzig. Es war Shumona Sinhas erster Aufenthalt in Deutschland. Abends saßen wir zusammen in wechselnden Hotels und erzählten uns voneinander.
Sie erzählte von ihrer Jugend in Kolkata, Westbengalen. Ich erzählte von den Jahren, die ich in der Nähe von Paris gelebt hatte. Sie erzählte von ihrem Weg zur französischsprachigen Schriftstellerin.
Ich erzählte, dass ich eine Weile ehrenamtlich für Geflüchtete gedolmetscht hatte, bei Anwaltsbesuchen, Therapiesitzungen, Behördengängen. Sie erzählte, dass sie gerade vorhin, als sie alleine in einem Restaurant der mittelgroßen Stadt, in der wir uns gerade befanden, hatte essen wollen, von dem Personal ignoriert und nicht bedient worden war, bis sie schließlich gefordert hatte, die Geschäftsführung zu sprechen.
Wir saßen vor unseren Getränken aus der Minibar, lernten uns kennen, fanden Berührungspunkte und befanden uns doch in unterschiedlichen Positionen, die in unserer Begegnung und auf unserer gemeinsamen Reise eine Rolle spielten - Autorin und Übersetzerin, Ältere und Jüngere, Frau of color und weiße Frau.
Ich erzählte von der aufgeheizten Debatte, die gerade in Deutschland über die Aufnahme von Geflüchteten geführt wurde, von unterschiedlichen rechten und rechtspopulistischen Akteuren·innen auf der Straße und in den Medien. Ich erzählte von meiner Sorge, wie sich dieses politische Klima auf die Rezeption von ihrem Roman auf Deutsch auswirken würde. Shumona Sinha hörte mir interessiert zu, zog einige Parallelen zur französischen Politik.
Ein Jahr später, im Sommer 2016 wurde uns gemeinsam der Internationale Literaturpreis am Haus der Kulturen der Welt in Berlin für den Roman Erschlagt die Armen! und eine Übersetzung verliehen. In den deutschen Zeitungen wurde weiter lautstark und oft mit rassistischem Unterton über die Aufnahme von Menschen aus Syrien debattiert. So gesehen war ein Artikel in der Tageszeitung Die Welt, der anlässlich der Preisverleihung erschien, keine Überraschung. Dort schrieb die Leiterin des Debattenressorts auf der Titelseite, dass der Roman Erschlagt die Armen! die Wirklichkeit besser verarbeite als die Politik, da er nämlich zeige, dass Asylsuchende „lügen wie gedruckt“. Der literarische Text wurde vor den eigenen politischen Karren gespannt, Stimmungsmache, Vereinnahmung, die Reduzierung komplexer Fragen auf vermeintlich einfache Wahrheiten, um sie für die eigene politische Agenda nutzbar zu machen. Als ich das wenige Stunden vor der Preisverleihung las, wurde mir vor Wut abwechselnd heiß und kalt.
Nichts blieb übrig von den intersektionalen Verwobenheiten im Text. Wie sehen in solchen Fällen adäquate Reaktionen aus? Was ist meine Verantwortung für einen Text, den ich als Übersetzerin (gemeinsam mit anderen) in den deutschen Diskursraum geworfen habe? Ich versuchte, bei der Preisverleihung mich gegen diese Interpretation zu wehren, empörte mich, es fiel mir nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Mit welcher Stimme spricht die Übersetzerin in solchen Fällen? Auch ihre Lesart ist eine Interpretation. Der Roman zeigte sich als Vexierbild, das je nach Perspektive der betrachtenden Person Unterschiedliches offenbarte: Asylsuchende, die lügen; ein Asylsystem, das den Menschen keine Chance lässt; den psychischen Zusammenbruch einer Dolmetscherin.
Was aus dem Fokus geriet, war, dass Erschlagt die Armen! eben kein Beitrag zur deutschen Debatte um die Aufnahme von Geflüchteten war. Was aus dem Fokus geriet, war, dass der Roman mit literarischen Mitteln von der prekären Position der Protagonistin in den rassistischen und sexistischen Strukturen erzählt, von dem ständigen Wechsel aus Zugehörigkeit und Ausgrenzung, den sie durch die weiße Mehrheitsgesellschaft erfährt. Der Text ist durchzogen mit sprachlichen Bildern für diese Erfahrung. Eins davon: die schweren grünen Türen von Paris, die sich unter den Händen der Ich-Erzählerin nicht mehr bewegen, die sie nicht mehr aufgestoßen bekommt.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese wichtige Ebene des Textes aus dem Fokus geriet, weil die deutschsprachige Leser⋅innenschaft sehr beschäftigt mit sich selbst und ihren ewig ähnlich verlaufenden Debatten war. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Ebene des Textes aus dem Fokus geriet, weil die meisten, die da debattierten, einschließlich der Übersetzerin, der Meinungsjournalistin etc. diese Erfahrung der Andersmachung nicht teilten, ihr nicht ausgesetzt sind.
Haben sie nicht genau genug gelesen? Oder haben sie nur das behalten, was ihnen vertraut erschien, was zu ihren eigenen Wahrnehmungen passte?
Postkoloniales Schreiben und Literaturübersetzung
Immer würde ich unterstreichen, dass ich für meine Arbeit als literarische Übersetzerin neben sprachlichen und literarischen Fertigkeiten eine Menge sozialer Fähigkeiten wie Einfühlung, Empathie, Hinwendung einsetze. Woraus aber speist sich meine Einfühlung?
Nach Erschlagt die Armen! übersetzte ich weitere Romane von Shumona Sinha, Romane, deren Protagonistinnen sich zwischen Kolkata und Paris bewegen. Während ich Paris und seine Randzonen aus dem ersten Roman gut kenne, bin ich in Kolkata nie gewesen. Das warf die naheliegende Frage auf: Was verändert das? Würde ich Shumona Sinha anders übersetzen, wenn ich in Kolkata gewesen wäre, wenn ich selbst über die College Street gelaufen wäre? Lese ich über manches im Text hinweg, weil ich es nicht verstehe, nicht kenne?
Aber erst bei längerem Nachdenken kam ich auf eine andere Frage: Würde ich Shumona Sinha anders übersetzen, wenn ich in Paris oder Dortmund selbst durch die Blicke und das Handeln anderer Ausgrenzung und Andersmachung erlebt hätte?
Was also heißt es, sich als weiße Übersetzerin einem Text von postkolonial verorteten Autor⋅innen zuzuwenden, seine Wirkung gelten zu lassen und dann nachzubilden? Was heißt es, dabei mein Weltwissen, meine Erfahrung zu mobilisieren? Wann genügen meine Erfahrungen, wann übergehe ich wichtige Nuancen im Text? Wo liegen eben in diesem Weltwissen, in meiner Einfühlung die blinden, bzw. weißen Flecken? Und: Wie ehrlich bin ich mit mir selbst? Wie ehrlich sprechen Autor⋅innen, Übersetzer⋅innen, Lektor⋅innen überhaupt miteinander über solche Unsicherheiten?
Maria Tymoczko, eine US-amerikanische Sprach- und Übersetzungswissenschaftlerin, arbeitet in ihrem 1999 erschienen Text Post-colonial writing and literary translation heraus, dass postkoloniale Autor·innen schon in ihrem Schreiben selbst an transkulturellen Übersetzungen arbeiten, dass Analogien zwischen dem Übersetzen eines literarischen Text für eine anderssprachige Leser·innenschaft und dem Schreiben aus einem postkolonialen Lebens- und Erfahrungshintergrund bestehen. Sie betont auch die Unterschiede: „Unlike translators, post-colonial writers are not transposing a text. As background to their literary works, they are transposing a culture – to be understood as a language, a cognitive system, a literature (comprised of a system of texts, genres, tale types, and so on), a material culture, a social system and legal framework, a history, and so forth.“1
Welches Bewusstsein habe ich über diese Übersetzungsprozesse, die zeitlich vor meinem Übersetzen liegen und die als Subtext im Text stecken, den ich übersetze? Mache ich mir bewusst, dass auch die Erzählungen von postkolonialen Machtverhältnissen und rassistischer Ausgrenzung zum Subtext gehören, der für die Leser⋅innen in den Text übersetzt wurde? Und merke ich es, falls ich über diesen Subtext hinweggerauscht bin?
Übersetzen in der Gesellschaft der Vielen
„Prozesse der Übersetzung sowie deren Grenzen sind zentrale Fragen einer radikal vielfältigen Gesellschaft“, schreiben die Herausgeber⋅innen Zeitschrift Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart im Vorwort zur Ausgabe Übersetzbarkeit.2
Die Gesellschaft, in der wir leben, schreiben und übersetzen, ist de facto eine vielfältige Gesellschaft. Und sie könnte eine radikal vielfältige Gesellschaft, eine offene und gleichberechtigte Gesellschaft der Vielen sein. In dem sehr lesenswerten Band Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive3 beschreibt Hannah Peaceman, Mitherausgeberin der Jalta, ihr Verständnis der Gesellschaft der Vielen folgendermaßen: „[Es geht] nicht nur um eine zu realisierende Vielfalt. Diese ist immer abhängig von gesamtgesellschaftlichen Emanzipationsprozessen und gesellschaftlichen Veränderungen. Vielfalt kann nicht nur bedeuten, Narrative und Perspektiven einfach nebeneinander zu stellen. Es muss auch um Verknüpfungen gehen, um Aushandlung von Widersprüchen und Herstellen von Bezügen aufeinander. Es muss um die gemeinsame Gestaltung von Gesellschaft gehen.“
Ich wünsche mir einen Literaturbetrieb, der ein Ort solcher Aushandlungen sein kann. Mit mehr Frauen*, Personen of color und Schwarzen Menschen als Übersetzer⋅innen und Autor⋅innen, aber gerne auch an einflussreichen Positionen in den Verlagen, Literaturhäusern und Redaktionen, auf schon vorhandenen und neu zu schaffenden Professuren in den Literatur- und Übersetzungswissenschaften, wo sie Einfluss auf die Ausbildung und die Berufswege zukünftiger Autor⋅innen, Übersetzer⋅innen, Lektor⋅innen und Journalist⋅innen haben, ihnen kritische Analysewerkzeuge und die notwendigen Ermutigungen und Fragen mit auf den Weg geben. Und die Lust an der Infragestellung, auch der eigenen.
Juni 2021