TALKS Staying alive Widersacher?
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Widersacher?

Zur Neuübersetzung von Emmanuel Carrères L’Adversaire

„Ich höre zu. Ich nähere mich, ich bin ergriffen, ich entferne mich oder laufe davon. Ich komme wieder, ich begreife, ich übersetze. Was von den anderen kommt, was durch meinen Körper hindurchgeht und verschwindet, ich weiß nicht wohin.“
Nastassja Martin, An das Wilde glauben1
 

Eigentlich war doch alles da: ein französisches Buch, eine deutsche Übersetzung, ein schockierender Plot. Eigentlich hätte man es doch dabei bewendenlassen können, die vergriffene Übersetzung neu herausbringen können. L‘Adversaire von Emmanuel Carrère hatte schließlich genug Kampf im Gepäck.2 Die Morde einer realexistierenden Hauptfigur als Anlass, das jahrelange verzweifelte Ringen des Autors mit dem Stoff, sollten nun noch Übersetzerinnen zu Widersachern werden? Ich weiß nicht genau, was die Beweggründe des Verlegers Andreas Rötzer waren, was für ein Ergebnis er in seiner Vorstellung sah, als er mir vorschlug, das Buch neuzuübersetzen. Okay, ich hatte den Autor in den Verlag gebracht; nachdem ein gutes Jahrzehnt nichts von ihm auf Deutsch erschienen war und er in dieser Zeit das Ich als Perspektive für sein Schreiben gefunden hatte, hatte ich fünf, sechs dieser Dokumentarromane übersetzt, aber trotzdem, Amok3 war doch seinerzeit ganz gut besprochen worden, und das war erst 16 Jahre her ... Ich war mir auch zunächst nicht sicher, ob ich mich selbst einer solchen Prüfung aussetzen wollte: dass man jeden Satz in zwei deutschen Versionen würde vergleichen können, immer mit dem Urteil im Nacken, ob dieser oder jener besser sei, ob ich mich der dunklen Welt dieses Buches überhaupt aussetzen wollte, den abgründigen Sätzen, die ich monatelang im Kopf wälzen würde ... Ich bat mir Bedenkzeit aus. Ich wollte ein paar Probeseiten machen, dann vergleichen und sehen, ob etwas entscheidend Anderes herauskäme.
      Es ist etwas Anderes herausgekommen. Und um dieses Andere geht es mir. Hier in diesem Text und vielleicht grundsätzlich. Was ist es, das jede Literaturübersetzung zu einem intimen Akt des Schreibens macht? Das überhaupt die Mühe lohnt, dasselbe Buch noch einmal neu zu verfassen? Oder handelt es sich gar nicht um dasselbe Buch?
      Der Titel dieser TOLEDO-Reihe heißt Staying alive – am Leben bleiben. Wann lebt ein Buch? Wann stirbt es? Wodurch kann es wiederbelebt werden? Wer hat ein Interesse daran? Der Verleger, der etwas lancieren will? Der Autor mit seiner Todesangst? Das Publikum, dem ein Buch zum Lebensmittel geworden ist? Ich habe L‘Adversaire nicht neuübersetzt, um dem Autor oder dem Werk zu längerem Leben zu verhelfen, und auch nicht, um mir selbst irgendeine Dauer zu verschaffen. Ich habe es nicht übersetzt, weil ich die erste Übersetzung als leblos empfand und Lesern eine Korrektur liefern zu müssen glaubte. Ich habe es neuübersetzt, weil ich meine eigene Beziehung zu diesem Buch zur Sprache bringen wollte. Weil das Buch nach meinem Empfinden einen anderen Titel brauchte. Weil diese ersten zehn Seiten für mich, und zwar mich allein, in meinem inneren Ohr, anders klangen. Das mag egoman erscheinen oder banal, vielleicht passt es schlecht ins immer wieder beschworene Bild von Übersetzenden, die brückenbauend zwischen Original und neuem Publikum vermitteln, und doch ist diese subjektive Lust der wichtigste und beste Grund für mich, meine Lebenszeit mit der Übersetzung eines Buches zu verbringen.4

Ein Buch ruft. Gut, es ruft nicht nur, es setzt Dinge, Orte, Personen, es birgt eine Selbstaussage, es inszeniert ein Verhältnis zwischen Text und Leser, es lotet die Kraft von Sprache aus – aber es ruft auch. Es gibt eine Dimension des Appells in jedem Text, auf die ich als Übersetzerin sehr spontan reagiere. Denn eine Erzählstimme bringt eine Subjektivität und Intimität zur Sprache, die mich anspricht – oder auch nicht. Ist diese Subjektivität prekär, gefährdet, suchend, ist das Need des Erzählers deutlich spürbar – denn ich glaube, Erzählungen werden durch ein Need vom ersten zum letzten Satz getrieben, durch ein Bedürfnis, genau so und nicht anders zu sprechen, weil anders nicht dasselbe gemacht ist –, spricht es mich mehr an.5 Carrères L’Adversaire war für mich eine Erzählung, die nach einer Sprache für eine bodenlose Haltlosigkeit tastete und mich tief traf.

Luc a compris alors et ressenti un immense soulagement. Tout ce qui était arrivé depuis quatre heures du matin, le coup de l de Cottin, l’incendie, les blessures de Florence, les sacs gris, Jean-Claude dans le caisson des grands brûlés, cette histoire de crimes enn, tout cela s’était déroulé avec une vraisemblance parfaite, une impression de réalité qui ne donnait aucune prise au soupçon, mais maintenant, Dieu merci, le scénario déraillait, s’avouait pour ce qu’il était: un cauchemar. … L’idée a traversé Luc, elle devait le hanter par la suite, que dans ce rêve Jean-Claude faisait office de double et qu’il s’y faisait jour des peurs qu’il éprouvait à son propre sujet: peur de perdre les siens mais aussi de se perdre lui-même, de découvrir que derrière la façade sociale il n’était rien.
(Emmanuel Carrère, L‘Adversaire)

Vielleicht ist der Weg ja das Ziel. Vielleicht ist es als Praktikerin sinnvoll, über das eigene Tun zu sprechen statt über das Ergebnis dieses Tuns. Über das Übersetzen statt über die Übersetzung. Ich will versuchen, das für einen Moment jenseits vom dunklen Sog des Widersachers zu tun.

Als Übersetzerin bin ich zunächst einmal Leserin. Leserin eines fremden Textes in einer für mich „fremden“ Sprache. Als Leserin könnte ich ihm sein Fremdsein lassen, ich könnte ihn anstarren in seiner Andersartigkeit. Doch sobald ich lese, starre ich nicht nur: Beim Lesen von Schriftzeichen mir bekannter Alphabete höre ich, was ich sehe. Phonetische Sprachen heißen deshalb so, weil ihre Schriftzeichen in einem Zusammenhang zu Lauten (Phonemen) stehen.6 Selbst wenn ich kein Französisch verstünde, selbst wenn ich nur Buchstaben läse und ihre Aussprache erfände, würden mir die Klänge, Strukturen und Satzzeichen schon eine Stimme suggerieren, die spricht und mich anspricht. Meine persönliche Beziehung zu einem Text beginnt hier.
      Einen Text als verschriftlichte Rede zu beschreiben ist durch akademische Grabenkämpfe zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik schwierig geworden (und gleichzeitig wäre doch die Kombination beider Perspektiven für das Nachdenken über das Übersetzen so sinnvoll). War für Aristoteles noch klar, dass die Schrift wiedergibt, „was in der Stimme ist“ (ta en phone), und dass die Stimme vermittelt, „was in der Seele ist“ (ta en psyche), und waren im 18. und 19. Jahrhundert für Herder, Schlegel, Wieland, Novalis Melodie, Ton und Rhythmus noch die universale Sprache der Menschheit, war die suggestive Kraft eines Textes vor allem von dessen Rhetorik geprägt, war Schrift gleich notierte Rede und wurde als solche gelesen, zeigen inzwischen eher Psychologen als Literaturwissenschaftler Interesse an diesem Thema.
      Seit 2016 führt die amerikanische Psychologin Ruvanee B. Vilhauer Studien zum Stimmenhören beim Lesen, zur „inner speech during silent reading“, durch.7 Und schließt damit an die Forschung des englischen Schriftstellers und Psychologen Charles Fernyhough an (der auch untersucht, welche Stimmen Autor·innen beim Schreiben hören).8 Das Ergebnis der beiden: 82,5% aller Teilnehmer hören beim Lesen eine Stimme. Das stille Lesen regt eine innere Sprache oder etwas Ähnliches an. (10,6% dagegen berichten, Gelesenes, ähnlich wie Taubstumme, direkt mit Bildern zu verknüpfen, und 6,9% sind sich unsicher.) Doch wer spricht, wenn wir lesen? Vilhauers und Fernyhoughs Studien bestätigen, was schon die Autoren des 18. Jahrhunderts behaupten: Die Klanggestalt des Gelesenen entspricht in vielen Fällen der unserer eigenen Denkstimme9, in anderen – etwa wenn wir die Autorin kennen – der von von uns erdachten Sprechern, die wir gewissermaßen halluzinieren.10
      Lesen heißt, wie Fernyhough vermutet – und hier muss ich aufhorchen, wenn ich an das Dazwischen des Übersetzens heranwill –, das Gehörte in eine innere Sprache zu verwandeln, die fragmentiert, kondensiert, verdichtet und anreichert: in ein inneres Bild, eine mentale Repräsentation. Daran sind nicht nur sprachliche und nicht nur Hörprozesse beteiligt. Die innere Sprache verknüpft Begriffe mit visuellen Vorstellungen, Farben, Gerüchen, sensorischen und emotionalen Elementen. Unbewusstes fließt ein, spontane Erinnerungen, Abneigungen, Vorlieben, Empfindungen.
      Mit dem Anspruch der Messbarkeit beschreibt die sogenannte Lesewissenschaft diese Vorgänge: Die Amerikanerin Maryanne Wolf etwa untersucht mit neurowissenschaftlichen Methoden, welche Hirnareale beim Lesen aktiviert werden. Lesen, so lese ich bei Maryanne Wolf11, ist ein ständiges Erinnern von bereits Gesagtem, ein Bereithalten von teilweise Verarbeitetem und ein blitzschnelles Vorwegnehmen und Abgleichen von möglichen Bedeutungen, in dessen Zusammenspiel ich dem Gelesenen Sinn und affektive Aufladung verleihe. Beim Lesenlernen entwickelt das Gehirn einen Leseschaltkreis, der speziell der Schrift der jeweiligen Sprachgemeinschaft angemessen ist und in Sekundenbruchteilen weite Areale des Gehirns verknüpft, in denen Sehen, Hören, Sprache, Kognition, Artikulation und Affekte „angerufen“ werden, aber auch solche, die für Erinnern, Zuhören, Entscheidungentreffen und für Vertrauen (!) zuständig sind. Wenn ich lese, nähere ich mich dem, was ich als „Text“ konstruiere, mit allen Sinnen, mit individueller Intuition, Emotion, Assoziation und Erfahrung genauso wie mit analytischem Sprach- und Weltwissen, mit Psyche und Ratio genauso wie mit dem Körper. Lesen ist Fremdgehen und Selbstgespräch in einem, ist Beschäftigung mit einem anderen und mit dem, was dieser im eigenen Selbst auslöst: eine Entfremdung auf Probe.

Wen höre ich also, wenn ich das Buch eines anderen lese? Wieviel Ich konstruiert sich aus dem Du und wieviel Du aus dem Ich? Mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho habe ich einige Gespräche darüber geführt. Thomas Macho hat umfassende Erfahrungen mit der Psychoanalyse gemacht und interessiert sich seit vielen Forscherjahren selbst für Stimmen, Doppelgänger und alle Arten von Selbsttechniken.12Eine Stimme wirkt wie ein Übergangsobjekt“, meint Macho und das heißt: Die gehörte Stimme ist, was für Kinder der Teddybär ist. Eine Stimme stellt eine Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt her und wird mit subjektiven Emotionen gefüllt. Insofern ist Hören eine Übertragung im Sinne der Psychoanalyse: Man füllt die Stimme des anderen – in unserem Kontext die gelesene – mit eigenen Inhalten.

Wenn das stimmt, dann beginnt diese Übertragung beim Übersetzen mit dem Lesen des fremdsprachigen Textes. Dann arbeite ich mit einer mentalen Repräsentation der darin aktivierten Stimmen, d.h. der Spur auch dessen, was ich selbst in ihn eingespeist habe. Dann ist hier der Moment zu verorten, an dem ich morgens aufwache und nach einem Ausdruck im Deutschen für etwas suche, das mir in seiner Dringlichkeit, zur Sprache zu kommen, völlig klar ist, ihn aber nicht finde – und dann plötzlich aufspringe, weil ich ihn doch gefunden habe und gewiss bin, dieser ist der richtige. Dann ist die mentale Repräsentation des originalsprachlichen Texts, sein Durchgang durch eine Körper-Geist-Psyche-Einheit maßgeblich für die neue sprachliche Form. Und damit für die Produktion eines neuen Übergangsobjekts, das ich wiederum Leser·innen der Übersetzung zur Verfügung stelle und für das ich eigene poetische, ethische und politische Entscheidungen treffe. Denn die Erzählstimme in der Übersetzung kann den Hörer wiegen oder informieren, sie kann betören oder befehlen. Die säuselnde, hämmernde oder dahinplätschernde Stimme entfaltet eine subkutane Wirkung. Sie wirkt direkt auf das emotionale Gedächtnis und an das will ich als Literaturübersetzerin auch heran. Was man die Prosodie der Sprache nennt, gehört dabei zu meinem Baumaterial, zu dem, womit ein literarischer Text Wirkung entfaltet: Wort- und Satzakzente durch eigens gewählte Kombinationen von Silben, aber auch vertraute Muster in Klang- und Rhythmusfolgen triggern Stimmen – die der fremdsprachige Text in ihrer Klanggestalt nicht vorgibt, da er mit einem anderen Lautmaterial arbeitet, aber mit dessen Gestus und Charakteristik mein deutscher Text in Ab-Stimmung sein muss – einer Abstimmung, die mit dem Lautmaterial natürlich ein Bedeuten (nicht Bedeutung) einschließt – und ebenso Verantwortung für den Übersetzenden. Denn eine literarische Stimme ist auch eine unverwechselbare Art zu sprechen, ein Duktus, ein Idiolekt, der ganz bestimmte sprachliche Mittel verwendet, ein persönlicher sprachlicher Fingerabdruck. Die parole (Rede, Sprechakt) in der langue (Einzelsprache), um mit de Saussure zu sprechen.13

Erzähler- und Figurenstimmen sind geprägt von ihrem Tonfall, von ihrer Weltsicht, ihrer Nähe oder Distanz zum Gesagten, ihrem Verhältnis zum eigenen Sprechen, ihrem Vertrauen oder Misstrauen in die Sprache, ihrer Ironie oder Dringlichkeit, von Register, Rhetorik, Rhythmus und Schweigen, aber auch von Alter, Biografie, Charakter und Körperlichkeit des Sprechers, seinem Soziolekt, Dialekt, Bewusstseinszustand, Geschlecht und seiner sozialen Stellung, vom historischen Wann des Sprechakts, von dessen Milieu, Ort und Situation, von Sprechanlass und -absicht, vom Subtext des Gesagten und der Eigentlich- oder Uneigentlichkeit der Rede. Entscheidungen, die Übersetzer·innen dazu treffen, bestimmen die Textur des Textes und seine Diktion, Dinge wie Satzbau, Textfluss, Silben-, Wörterzahl und Klangmaterial, aber auch grundsätzlich die Knappheit oder Redseligkeit von Erzähler und Figuren – ihr „Ton“ macht die Musik und letztlich den „Inhalt“.14 Eine Stimme hält nicht sämtliche mögliche Weisen des Sagens und Meinens offen. Die Stimme kämpft mit der Schwierigkeit, beim anderen Gehör zu finden, und findet eine bestimmte Antwort darauf. Sie ist Selbstkundgabe und Positionierung, sie ist persönlich wie die Stimme, die bei einer Wahl oder Ab-Stimmung abgegeben wird. Sie ist dann „stimmig“, wenn sie den eigenen, im Text aufgestellten Regeln folgt.15 Sie hallt in verschiedenen Lesern verschieden wider16 und führt zu unterschiedlichen Entscheidungen beim Schreiben.

Da wurde Luc alles klar und er fühlte sich ungeheuer erleichtert. Alles, was seit vier Uhr morgens passiert war, der Anruf von Cottin, das Feuer, Florences Verletzungen, die grauen Säcke, Jean-Claude in der Kammer für Brandopfer, die ganze Geschichte mit den Morden, all das hatte sich mit der größten Wahrscheinlichkeit abgespielt und so real gewirkt, dass es nicht den geringsten Anlass gegeben hatte, daran zu zweifeln, doch jetzt, Gott sei Dank, wurde das Szenarium so absurd, dass es sich als das zu erkennen gab, was es war: ein Albtraum. … Die Vorstellung schoss ihm in den Kopf – sie sollte ihn auch weiter umtreiben –, Jean-Claude sei in diesem Traum nur sein Double und es offenbarten sich darin die Ängste, die er eigentlich selbst hegte: seine Familie zu verlieren, aber auch sich selbst, und festzustellen, dass er hinter seiner sozialen Fassade niemand war.
(Der Widersacher, Deutsch von Claudia Hamm)

Da endlich begriff Luc, dass er träumte, und er empfand eine tiefe Erleichterung. Was sich seit dem frühen Morgen abgespielt hatte – Cottins Anruf, das brennende Haus, Florences Kopfwunde, die grauen Säcke, Jean-Claudes schwere Verbrennungen, und obendrein noch die Geschichte mit den Morden –, all das war ihm dermaßen realistisch erschienen, dass er keinerlei Verdacht geschöpft hatte, aber jetzt lösten die Bilder sich Gott sei Dank auf, erwiesen sich als Bestandteile eines schrecklichen Albtraums. … Plötzlich kam Luc ein Gedanke, der ihn nicht mehr losließ: In diesem Traum fungierte Jean-Claude als sein Stellvertreter, spiegelten sich seine eigenen Ängste, die Seinen oder sich selbst zu verlieren, plötzlich entdecken zu müssen, dass hinter der bürgerlichen Fassade nur Leere war.
(Amok, Deutsch von Irmengard Gabler)

Worin unterscheiden sich die beiden deutschen Versionen? Der größte, vielleicht alles andere bestimmende Unterschied: Irmengard Gabler hat im französischen passé composé die Erzählzeit gelesen und eher die Perspektive des Erzählers in einer gewissen Distanz zur Figur kreiert, während ich stärker die der Figur Luc einnehme. So läuft die Satzkonstruktion des zweiten Satzes bei mir auf den Albtraum zu und schafft (hoffentlich) eine Spannung, die dann hinter dem Doppelpunkt Auflösung, d.h. Erleichterung, erfährt (in der Absicht, dass die Sprache dadurch macht, wovon sie spricht, indem sie Information, Rhythmus und Klang einem inneren Erleben entsprechend anordnet) – während Irmengard Gabler von diesem Albtraum eher berichten lässt. Im Französischen ist die Perspektive, die Unterscheidung zwischen innerer Rede und äußerer Beschreibung nicht klar durch das Tempus markiert, beide Lesarten sind grammatisch möglich – gleichzeitig folgt das Original einer Dramaturgie der erlebten Rede. Weiter wären da Unterschiede in Rhythmus (Interpunktion, Silbenzahl, Betonungen usw.) und Register (z.B. „obendrein“ bei I. G.), in der Haltung des Erzählers zum Gesagten (das hinzugefügte Adjektiv „schrecklich“ bei I. G.), in der Lexik („fungiert“ bei I. G. „Stellvertreter“ statt der Filmvokabel „Double“) – prägenden Elementen von Stil, aber auch einer ganz bestimmten Auffassung von erzählender Sprache. Denn all das markiert noch nicht den Sog des Textes durch Prosodie oder das je individuell erspürte und entsprechend generierte Need ... Der vielleicht auffälligste Unterschied jedoch ist die Wahl des Titels.17 „L‘Adversaire“ ist einer der Namen, die die Bibel neben Bezeichnungen wie „Leibhaftiger“, „Verführer“ oder „Herr der Fliegen“ für den Teufel (als Urheber von Lügen) bereithält. Hier gibt es eine ziemlich klare Entsprechung, „der Widersacher“, die ich persönlich für passend hielt: In einem Gespräch hatte Carrère mir vom unheimlichen Widerhall dieser wahren Geschichte um den mythomanen Jean-Claude Romand in ihm erzählt.18 Zudem bot mir, als ich das Buch zu übersetzen begann, folgende Bemerkung Carrères (zu seiner eigenen Übersetzung des Markus-Evangeliums) eine Orientierung, die Irmengard Gabler nicht kennen konnte, denn man findet sie erst im 14 Jahre später erschienenen Roman Das Reich Gottes:

... letztlich entschied ich mich für ein korrektes, aber glanzloses und schlecht verfugtes Französisch mit Sätzen, die weder einen Bezug zueinander noch Übergänge hatten. Das Gegenteil des »flüssigen Stils, der dem Bourgeois so teuer ist«, wie Baudelaire ätzt und zu dem ich spontan neige, bei dem alles schön verbunden ist und der Sätze gut verkettet, sodass man ohne zu holpern von einem zum anderen gleitet. Diese Übersetzung hat mir geholfen, den Ton für Der Widersacher zu finden.19

Für die beiden Übersetzungen von L’Adversaire heißt das: Wir haben auch den Namen des Autors unterschiedlich übersetzt, denn wir haben dieser Signatur verschiedene Texte mit einer anderen Poetik zugeschrieben20 – und damit auch unterschiedliche Weisen, zu sich selbst und zu Lesenden in Beziehung zu treten. Beide deutsche Fassungen sind dennoch grammatisch mögliche Übersetzungen. Differenzen zwischen Übersetzungen sind persönlichen Vorkenntnissen, Lesarten, Literatur- und Sprachauffassungen geschuldet, aber auch unterschiedlichen „Bildern“ vom Original. Irmengard Gabler und ich haben beide etwas anderes gehört. Vielleicht auch anders hingehorcht. Sind wir deshalb Widersacherinnen? Ist es überhaupt sinnvoll, Übersetzungen gegen- statt nebeneinander zu halten? Wen oder was verteidigt man damit? Leuchten wir nicht beide auf unterschiedliche Weise das aus, was das Original offenhält – und zwar für noch viel mehr Übersetzungen als unsere? (Weil wir alle mitschreiben an einer großen Erzählung?)
      Zugegeben: Ich versuche, mich aus der Schlinge zu ziehen. Natürlich ist nicht jede Übersetzung eine, die behaupten kann, einem Autor gerecht zu werden. In Abstimmung mit dem Original zu sein. Natürlich gibt es echte Fehler (aber das wohl auch in Übersetzungen, die Verbesserungen zu liefern glauben, jede Sprachauffassung birgt ihre eigenen blinden Flecken), natürlich gibt es unterkomplexes, sprich: unsinnliches Lesen, das dann in unterkomplexes, sprich: unsinnliches literarisches Schreiben mündet, und natürlich kann es mehr oder weniger gelungen sein, in der neuen Sprache Glanz oder Glanzlosigkeit, Kraftlosigkeit oder Kraft zu erzeugen, denn das, was man nicht hört, kann man auch nicht übersetzen, dennoch wehre ich mich intuitiv gegen Bewertungen, die Daseinsberechtigungen verteilen. Und speziell von Bewertungen, die von einem einzigen Ideal von Übersetzung ausgehen.
      Erwartungen an Übersetzungen entsprechen oft der Bildwelt des Wortes „Übersetzen“. Diese folgt der Sprachgeschichte und Metaphorik des lateinischen trans, wie es in translatare oder transdurre vorkommt: Transfer, Transport, Transit triggert das Wort, das Übersetzen über einen Fluss, ein Grenzübertritt, Rübertragen, Übertragen, vielleicht auch Überreden. (Die Idee der Grenze fördert die Unterstellung von möglicher Schlepperei, Grenzkriminalität und illegaler Einreise.) Doch das Wort transdurre ist möglicherweise selbst eine zu kurz gegriffene Übersetzungsentscheidung. Denn eines der ältesten schriftlichen Zeugnisse für das Übersetzen ist das sumerische Keilschriftzeichen eme-bal (eme – Sprache, Sprechweise, Zunge; bal – überschreiten, verwandeln ).21


Eme-bal kann übersetzt werden als „Sprachüberschreiter“ (was auch immer „über“ der Sprache sein mag, vielleicht ja der Gedanke der verdichtenden inneren (somatischen) Sprache?), man kann es aber ebensogut als „Sprachwandler“ verstehen. Und dann wäre eine andere Geschichte zu erzählen: die des „meta“ und der Metamorphosen. Eine Verwandlung ist etwas anderes als der möglichst unbeschadete Transport einer Fracht über ein Hindernis. Sie ist eine Anverwandlung. Die Übersetzung wird damit ein Wieder- und Weiterschreiben zugleich – réécriture oder rewriting bezeichnen das ganz gut. Als Verwandelter ist der übersetzte Text zurück und nach vorn gewandt, im Dialog mit dem, der ihn angerufen hat und dem er zuhört, und mit denen, die er anspricht. Und zwar so individuell wie seine Urheber·innen.

Titelbild: Coverentwurf für „Der Widersacher“, ©Dirk Lebahn

September 2021

16.09.2021
Fußnoten
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PDF

©Michael Donath

Claudia Hamm fand ihren Weg zum Literaturübersetzen über die Theaterregie, die Performance, das Schreiben von Bühnentexten und Essays und jahrelange Aufenthalte in Mexiko, Chile, Frankreich und Italien. Sie arbeitete am Burgtheater Wien und an verschiedensten Theatern und Festivals in Frankreich, Italien und im deutschsprachigen Raum. Für ihre Übersetzungen – z.B. der Werke von Emmanuel Carrère, Édouard Levé, Joseph Andras und Nathalie Quintane – erhielt sie zahlreiche Stipendien, wurde 2016 für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Hier und da leitet sie Seminare und Werkstätten zum Literaturübersetzen (etwa am Literaturinstitut Hildesheim oder im Rahmen des George-Arthur-Goldschmidt-Programms) und ist Mitgründerin des Festivals translationale berlin.

 

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