TALKS Staying alive 1984 und die Zeit
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1984 und die Zeit

Meine geschätzte Kollegin Josée Kamoun hat die neue TOLEDO TALKS-Reihe „Staying Alive“ mit einem Artikel über ihre Neuübersetzung von George Orwells „1984“1 eröffnet. In welcher Weise dieser Roman und seine Schilderung von Terror und politischer Manipulation leider zeitlos sind, beschreibt sie so treffend, dass dem nichts hinzuzufügen ist. Dass ich auf ihren Essay antworten darf, hat eine innere Berechtigung. Denn die auffälligste und wagemutigste Veränderung, die unsere beiden neuen Fassungen des Romans kennzeichnet, verdanke ich ihrer Anregung und bin der Idee auch fürs Deutsche nachgegangen – ich meine den für eine literarische Übersetzung ungewöhnlichen Schritt, einen in der Vergangenheit erzählten Text in der Übersetzung ins Präsens zu transferieren. Das will gut überlegt und gut begründet sein.

Präsens vs. Präteritum

Ihre Argumentation, die vor allem auf den grammatikalischen Angeboten des Französischen für Erzählungen in der Vergangenheit basiert, ist nicht ins Deutsche übertragbar; das deutsche Präteritum funktioniert literarisch vergleichbar mit dem englischen past tense, das zu Orwells Zeit das gängige Erzähltempus war. Im Deutschen haben wir kein hochmögend oder gestelzt oder jedenfalls distanzierend wirkendes passé simple. Doch der bei Josée Kamoun zugrundeliegende Gedanke galt auch für mich: Wie kann ich es schaffen, dass mein heutiger Text den Leser·innen ebenso unausweichlich und gnadenlos auf die Pelle rückt, wie es das Original 1948 getan hat? Orwells Roman hat, ohne dafür aus den zeittypischen Konventionen literarischen Erzählens durch Sprachkunststücke, Experimentelles oder Avantgardismen ausbrechen zu müssen, eine große Direktheit, und da es mir beim Übersetzen immer um möglichst hohe Wirkungsäquivalenz geht, will ich meinem Text diese Unmittelbarkeit mitgeben.

Das ist umso wichtiger, als das Hauptinstrument der Überwachung – der damals science-fiction-hafte „Telemonitor“2 – und einige andere Realia der Welt von „1984“ von heute aus gesehen technologisch geradezu etwas putzig-altmodisch wirken mögen. Im Roman ist die Perfidie der Manipulation des Denkens wichtiger, erschreckender, akuter. Aber die Sprachgestaltung in der Übersetzung sollte eben möglichst genauso akut Wirkung entfalten.

Abbildung aus „1984” von George Orwell, illustriert von Reinhard Kleist © 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Es gibt zwei Gründe, warum das deutsche Präteritum es tendenziell schwieriger macht, dieses Ziel der Unmittelbarkeit zu erreichen. Zum einen hat das mit dem deutschen Satzbau zu tun. Bei längeren Sätzen, hypotaktisch geprägten Satzgefügen, ja, -gebäuden kann die Erzählweise in der Vergangenheitsform zu einer kunstvollen Inszenierung der Zusammenhänge und Bezüge werden, die den Eindruck erweckt, die Erzählinstanz habe alles unter Kontrolle, berichte im wissendem Rückblick von etwas früher Erlebtem, auf „1984“ zugespitzt gesagt: etwas heil Überstandenem. Damit entsteht das Risiko, die Dramatik des ausgelieferten Individuums im Terrorregime des Großen Bruders zu entschärfen; im Original ist das nicht so. Gut, auch im Englischen sind kunstvoll-komplexe Satzarchitekturen möglich (siehe Henry James), aber das ist Orwells Sache nicht: Sein narratives Parlando, die (am Reportagejournalismus geschulte?) stilistische Flüssigkeit, die den größten Teil des Romans – die Handlungsebene – charakterisiert, liest sich zugänglich und lässt auch tiefernste, schockierende Inhalte unmittelbar wirken. Von daher muss beim Übersetzen darauf geachtet werden, dass die Wirkung des Kontrollierten, Erledigten die beim deutschen Erzählen in der Vergangenheit entstehen kann, möglichst nicht überhandnimmt.

Der zweite Aspekt hat mit dem Übersetzungshandwerk zu tun. Wenn eine deutsche Übersetzung aus dem Englischen dem Original strukturell folgt, ist das nicht nur wegen der anders gelagerten Betonungs- und Bezugsstrukturen im Satzbau problematisch, es verändert oft auch die Wirkung. Übersetzungen nicht zeitgenössischer englischer Texte lesen sich manchmal gemächlicher, behäbiger, vielleicht sogar umständlicher als das Original. Wenn es um die Wiedergabe typisch britischer Ironie geht, mag das noch angehen, denn Umständlichkeit kann ja ein Stilmittel der Ironie sein; bei Orwell darf dieser Eindruck aber nicht entstehen. (Dazu parallel verlaufen Entscheidungen auf Wortebene; wer das „newspeak dictionary“ mit „Neusprechdiktionär“3 übersetzt wie Michael Walter, wählt bewusst eine ältlich klingende Vokabel, so auch Formeln wie „dem Vernehmen nach“4; hier gehen Semantik und Satzbau Hand in Hand ins Gemütliche.) Beim Blick auf andere Übersetzungen von „1984“, aber auch auf meine eigene Übersetzung, die ich zunächst korrekt im Imperfekt begann, fiel mir auf, dass sich der deutsche Text in der Vergangenheitsform langsamer und spannungsloser als das Original anfühlte. So in der Szene, nachdem Julia Winston den Zettel zugesteckt hat:

Meine erste Imperfekt-Fassung
„(…) war es ihm sehr schwer gefallen, sich seine kurze Überraschung nicht anmerken zu lassen, denn in den zwei oder drei Sekunden, während er ihr aufhalf, hatte die junge Frau etwas in seine Hand gleiten lassen. Es stand außer Frage, dass sie das mit Absicht getan hatte. Es war etwas Kleines, Flaches. Als er die Toilette betrat, steckte er es in die Tasche und befühlte es mit den Fingerspitzen. Es war ein zusammengefaltetes Stückchen Papier.“

Meine Präsensfassung
„(…) ist es ihm sehr schwer gefallen, seine kurze Überraschung zu verbergen, denn in den zwei, drei Sekunden, als er ihr aufhalf, hat die junge Frau etwas in seine Hand gleiten lassen. Absichtlich, gar keine Frage. Etwas Kleines, Flaches. Als er die Toilette betritt, steckt er es ein und befühlt es mit den Fingerspitzen: ein zusammengefaltetes Stückchen Papier.“5

Es sind nur kleine Elemente, an denen sich zeigt, dass die Erzählzeit auch Einfluss auf die restlichen Formulierungen hat. Auf den gesamten Text gerechnet entsteht ein anderer Sound, ein anderes Erzähl- bzw. Lesegefühl, das sich überzeugender zu dem Bedürfnis fügt, in meiner Übersetzung herauszuarbeiten, wie dieser Roman über die zeitliche Distanz hinweg zu uns spricht und dabei immer noch brennt; so verstehe ich „staying alive“.

Im Präsens ist die Person, von der erzählt wird, direkt am Erleben dran, ist ausgesetzter, unstrategischer, das Erlebte ist unbewältigt da, und zwar auch bei einer Erzählung in der 3. Person (Orwell hält sich an die Personalperspektive und verzichtet auf Allwissendes über Winston hinaus, da stimme ich Josée Kamoun ebenfalls zu). Noch ein Detailbeispiel, einen Moment aus Winstons Haftzeit im Liebesministerium; O’Brien hat gerade die Intensität des Foltergeräts reduziert, und Winston ist ihm dankbar:

Meine erste Imperfekt-Fassung
„Das alte Gefühl, dass es im Grunde nicht darauf ankam, ob O’Brien ein Freund oder ein Feind war, hatte sich wieder eingestellt. O’Brien war ein Mensch, mit dem man reden konnte.“

Meine Präsensfassung
„Das alte Gefühl ist wieder da: Unterm Strich kommt es nicht darauf an, ob O’Brien Freund oder Feind ist. O’Brien ist einer, mit dem man reden kann.“6

Dass das Präsens direkter, mitfühlbarer wirkt, lässt sich diesen Beispielen vielleicht schon entnehmen. Der Zeitwechsel strahlt auf den ganzen Text aus, auf die Inszenierung der Gedanken und Beschreibungen, es bleibt nicht beim Auswechseln der Verbform. So eine radikale Veränderung habe ich in einer Übersetzung noch nie vorgenommen, es braucht dazu auch einen mutigen Verlag, der mitspielt (mein Dank geht an Hans-Jürgen Balmes vom S. Fischer Verlag und an den großartigen Lektor Hannes Riffel, inzwischen nicht mehr S. Fischer Verlag). Die Tatsache, dass gleichzeitig mit meiner Neuübersetzung noch sieben andere erschienen (wegen der freiwerdenden Orwell-Rechte), verschiebt meine Verantwortung; meine Übersetzung kann also nicht für die irrige Annahme sorgen, das Original wäre im Präsens geschrieben, denn alle anderen blieben beim Präteritum. Die Rezeption hat bis auf eine Ausnahme bestätigt, dass der Tempuswechsel die angestrebte Wirkung erzielt (vgl. Tobias Döring in der FAZ am 27.2.21: „riskant und eigenmächtig, aber schlicht genial“; nur Manfred Papst fuhr am 27.3.21 in der Neuen Zürcher Zeitung große Geschütze auf: „Rettung durch Vergewaltigung: Darauf muss man erst einmal kommen“).

Stilistische Vielfalt

Zu Orwells Direktheit gehört, wie Josée erwähnt, dass er viele Situationen, viele Lebenszustände Winstons über seine körperlichen Empfindungen schildert, eine Tatsache, die von der früheren französischen Übersetzung offenbar abgemildert, salonfeiner und stubenreiner gemacht wurde. Hier hatte ich wenig Handlungsbedarf; und in der letzten vor den vielen Neuübersetzungen, Michael Walters „1984“ aus dem Jahre 1984, fanden keine Eingriffe dieser Art statt.

Vorhin sagte ich, Orwells Stil sei nicht von sprachlichen Auffälligkeiten gespickt, die Arbeit an der Sprache stellt sich nicht neben oder gar vor den überwältigenden Inhalt der Geschichte und die Reflexionen über politische Macht und Manipulation. Das soll aber keineswegs heißen, sein Stil sei brav oder eindimensional. Neben die Hauptebene der Handlungserzählung, nicht karg, aber unverschnörkelt, tritt als zweites Element alles, was eine Gegenwelt zu dem gnadenlosen Terror verkörpert: Erinnerungen und Träume, die auf die Vergangenheit verweisen, sowie einige Szenen, Oasen gleich, in denen Winston und Julia die Natur genießen (sei es in Form der Vegetation, die Winston auch an einen wiederkehrenden Traum erinnert, sei es in Form ihrer eigenen, körperlichen Natur, sprich: ihrer romantischen und sexuellen Verbindung).

Josée Kamoun beschreibt diese Elemente, vor allem die Erinnerungen und Träume, die für die Nachtseite des Romans stehen, als seine fantastischen Anteile. So lässt sich das lesen, auch wenn ich gestehen muss, dass ich auf diesen Vergleich nicht gekommen wäre – aber nicht, weil er unplausibel wäre. Was bedeutet das für die Übersetzung? Die atmosphärische Aufladung dieser Passagen, deutlich anders als die Klaustrophobie der Düsterkeit oder des fiesen Kunstlichts im Alltag des Terrors, fordert von mir als Übersetzer andere Mittel; ich greife dafür, wo es passt, zu  besonders ausdrucksstarken, poetischen, assonanten, „köstlichen“ oder selteneren Wörtern und bemühe mich um einen ruhigeren rhythmischen Schwung, um diese andere Atmosphäre entstehen zu lassen. Es geht nicht nur um „Schönes“, was dem Terror entgegenstünde, es geht vorrangig um Lebendiges, auch um dessen Untergang oder das Bedauern darüber. Das Beispiel beschreibt allerdings paradiesische Natur als Gegenbild, und fast in fantastischer Manier werden sich Winston und Julia dort lieben.

Abbildung aus „1984” von George Orwell, illustriert von Reinhard Kleist © 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Suddenly he was standing on short springy turf, on a summer evening when the slanting rays of the sun gilded the ground. (…) the Golden Country. It was an old, rabbit-bitten pasture, with a foot-track wandering across it and a molehill here and there. In the ragged hedge on the opposite side of the field the boughs of the elm trees were swaying very faintly in the breeze, their leaves just stirring in dense masses like women’s hair. Somewhere near at hand, though out of sight, there was a clear, slow-moving stream where dace were swimming in the pools under the willow trees.7

Mit einem Mal steht er auf federndem Boden, in kurzem Gras, das die schrägen Sonnenstrahlen eines Sommerabends vergolden. (…) das Goldene Land: eine alte Weide voller Kaninchenlöcher, mit einem Wanderpfad quer hindurch und hie und da einem Maulwurfshügel. Am anderen Ende wiegt sich das Ulmengeäst eines zerzausten Hags ganz leicht in der Brise, das Laub eine dichte Masse, wie Frauenhaare. Irgendwo in der Nähe, aber nicht mehr sichtbar, plätschert ein langsam dahinfließender, klarer Bach, in dessen Becken unter Trauerweiden Zinnfische schwimmen.8

Gedichte in der Tag- und in der Nachtwelt

Interessant ist bei der Betrachtung dieser beiden gegensätzlichen stilistischen Kräfte, dass Orwell jeweils ein „Gedicht“ einbaut, das übersetzerisch natürlich nach Reim und Rhythmus verlangt, aber darüber hinaus auch nach den typischen Eigenschaften der beiden Textsorten. Aus der Vergangenheit sickert Winston ein Kinderabzählreim ins Gedächtnis, der sich in mehreren Erinnerungsschüben zusammensetzt; die öfter vorkommende Auslöserzeile lautet:

Oranges and lemons, say the bells of St. Clement’s …

Und so geht es mit den Glocken einiger Londoner Kirchen weiter, die es im Heute des Terrorregimes nicht mehr gibt und die dieses und jenes „sagen“, oft kindlich-nonsensisch, damit es sich auf den jeweiligen Heiligen der Kirche reimt. Dieser naive Witz und Charme winkt Winston aus der Vergangenheit zu, ein wichtiges Element also. Josée Kamoun bildet es im Französischen nach; die anderen deutschen Übersetzungen bleiben hier semantisch genau, machen aber poetisch wie rhythmisch Kompromisse. Walter etwa schreibt:

Orangen und Limonen, läutet’s von St. Clement.

Meine Version lautet:

Südfrüchte, wir nehmen’s! – sagt die Glocke von St. Clement’s

Julia und Winston zitieren sie, als sie über Orangen und Zitronen reden, an die sie sich nur nebulös erinnern; da passt das ältere deutsche „Südfrüchte“ gut.

Das andere „Gedicht“ ist eine kuriose und geniale Mischung aus beiden Welten. Orwell lässt ja seine Proletarier, die in vielen Einzelheiten noch Bestandteile der alten Welt behalten durften, weil sie dem Regime nicht wichtig genug sind, um auch sie durchweg zu kontrollieren, Londoner Cockney-Dialekt sprechen, von ihnen wird kein Neusprech erwartet. Sie werden lediglich mit maschinenproduzierter Unterhaltungskultur bei Laune gehalten, so auch mit dem Schlager der Saison, den eine leitmotivische Nebenfigur im Hof neben Julias und Winstons Liebesnest ständig beim ständigen Wäscheaufhängen singt. Orwell schreibt den Text eines klischeehaft kitschigen Schlagers, Rhythmus, Reim, sogar Binnenreim stimmen, ein Bild ist abgegriffener als das andere, und dann lässt er die Frau im Dialekt singen. Hier sind die Formvorgaben streng (eine Textmaschine ist präzise), und der Witz, das Anheimelnde aus einer untergegangenen Zeit beruhen auf diesen besagten Elementen. Auch hier lohnte sich die Neuübersetzung, denn sowohl in punkto Schlager als auch in punkto Dialekt ist die Vorgehensweise der Kolleg·innen nicht konsequent.

In meiner Neuübersetzung bin ich ein weiteres Risiko eingegangen und habe, was eher unüblich ist, einen Dialekt durch einen anderen ersetzt, Cockney in diesem Falle durch Ruhrpottslang. Diese Ersetzung (statt durch Sächsisch, Ostfriesisch, Wienerisch …) hat damit zu tun, dass ich die emotionalen Qualitäten, wie man sie ja den Dialekten oft recht spezifisch zuschreibt, bei beiden vergleichbar finde, eine ruppige Herzlichkeit, die ich aber bei Cockney und im Ruhrpott nicht so rotzig finde wie etwa im Berlinerischen. Üblicherweise wird so nicht übersetzt, weil Dialekte eine starke Realverankerung in einer Region darstellen; wenn in einem in London spielenden Buch plötzlich ein deutscher Dialekt gesprochen würde, käme es zu einem Plausibilitätsbruch. Dass ich mich bei „1984“ darüber hinwegsetze, begründe ich damit, dass der Roman als Dystopie ohnehin keine realistische Wirklichkeit erschafft; das lässt mir Raum für die mitschwingenden emotionalen Wertigkeiten von Dialekt. Die mehr oder weniger umgangssprachlichen, soziolektal geprägten Lösungen der anderen deutschen Übersetzungen entsprechen dem gängigen Ansatz, wie Dialekt meist übertragen wird, sie wirken aber auch eher blasser.

Der Schlagertext verknüpft also die Leblosigkeit des Maschinentextes mit der Lebendigkeit des Dialekts. Im folgenden die ersten beiden der drei Strophen im Vergleich:

It was only an ‘opeless fancy,
It passed like an Ipril dye,

But a look an‘ a word an‘ the dreams they stirred
They ‘ave stolen my ‘eart awye!

They sye that time ‘eals all things,
They sye you can always forget;
But the smiles an‘ the tears across the years
They twist my ‘eart-strings yet!9

Es war nur eine dumme Romanze
Und verging wie die Träne im Meer,

doch ein Blick und ein Wort weckten Träume sofort
und machen das Herz mir jetzt schwer.

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden,
man sagt, daß man immer vergißt,
doch liegen auch weit Freude und Leid,
sie stimmen im Herzen mich trist.

(Michael Walter)10

Et war bloßn Flört ohne Zukunf
Vorbei wie n Tach im April

Ein Blick und ein Wort und ich träumte mich fort
Mein Herz macht nich mehr wat ich will

Die Zeit, heißt et, heilt alle Wundn,
Vergiss et, so schwer is dat nich.
Du kannz lächeln und wein‘ wie du willz, aber nein -
Dat Herz spürt noch immer den Stich.

(Frank Heibert)11

Neben der ‚menschlichen Aufladung‘ durch den Dialekt versuche ich hier möglichst, Textzeilen zu produzieren, die, genau wie im Original, glaubwürdig nach Schlager klingen, unheimlicherweise gar nicht so maschinentot. Jeder herbeigekrampfte Reim riskiert diese Plausibilität. Unter den zeitgleich erschienenen Neuübersetzungen fällt diejenige von Lutz W. Wolff (bei dtv) heraus, denn er lässt den Schlager einfach auf Cockney stehen. Wirkungsäquivalent würde ich das allerdings nicht nennen.

Die dritte Ebene der ‚Non-Fiktion‘

Stilistisch kommt zu den beiden genannten Ebenen noch eine dritte im Buch hinzu: die pseudo-nonfiktionale Metaebene, auf der das politische System und, als Teil dessen, die Sprachveränderung zum Neusprech erörtert, ja erklärt wird. Zwei längere Textteile sind in diesem Stil geschrieben, das namenlose „Buch“ des Emmanuel Goldstein (das als verbotenes Protest-Manifest gilt, tatsächlich aber auf extrem perfide Weise die Weltanschauung der Partei auffächert, eine rhetorische Manipulation, die im Buch explizit nie kommentiert oder aufgeklärt wird) und der „Anhang“, der Absichten und Regeln des „Neusprech“ umreißt und ähnlich changierend ist wie „das Buch“; zunächst klingt es fast wie ein affirmatives, präskriptives Regelwerk, dann entpuppt es sich als historisch viel später liegendes PS zum Roman, in dem fast versteckt die Auf-, die Erlösung untergebracht ist, dass sich Neusprech und damit das Regime letzten Endes nicht durchgesetzt haben. Der nonfiktional daherkommende Ton ist alles andere als neutral, hier wird nach allen Regeln der Kunst politisch manipuliert. Das Goldstein-Buch erläutert beispielsweise, wie Doppeldenk funktioniert, und ist selbst ein Beispiel dafür, da es als Dokument des Widerstands geframed ist, aber systemkonform argumentiert.

Übersetzerisch geht es, neben den ‚normalen‘ Anforderungen an gute Sachbuch-Übersetzung (nämlich nüchterner Stil, nachvollziehbare Argumentationen, saubere Begrifflichkeiten), vor allem darum, diesen manipulativen Balanceakt nicht zu gefährden, das rhetorische Pokerface beizubehalten und damit den Leser·innen den Aha-Moment zu ermöglichen, in dem sie merken, welches Spiel hier gespielt wird. Auch hier ein Beispiel:

Abbildung aus „1984” von George Orwell, illustriert von Reinhard Kleist © 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

„It need hardly be said that the subtlest practitioners of doublethink are those who invented doublethink and know that it is a vast system of mental cheating.“12

Das ist klar, strukturiert, nüchtern und erschreckend. Das Deutsche erlaubt eine weitgehend strukturimitierende Übersetzung, die in Rohfassung etwa so aussehen könnte:

„Man braucht kaum dazuzusagen, dass die subtilsten Anwender des Doppeldenk diejenigen sind, die Doppeldenk erfunden haben und wissen, dass es ein umfassendes System des mentalen Betrugs ist.“

Neben einigen semantischen Entscheidungen sind es vor allem syntaktische Elemente, über die noch nachzudenken wäre. Zunächst wirkt die Nebensatzreihung im Unterschied zum Englischen unbeholfen, das zwei Mal vorkommende »dass« stört ebenso wie die nach einer Krücke klingende Konstruktion mit »diejenigen ( … ), die«. Außerdem ist der Anfangsteil des Satzes, eigentlich ein beiläufiger, für das Englische recht typischer Meta-Kommentar, vom deutschen Satzbau her unnötig und beschwert den Gedankenfluss. Typischer deutsch wäre es, gleich mit dem eigentlichen Gedanken zu beginnen, mit den Anwendern. Hier Michael Walters Satz:

„Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß die subtilsten Benutzer von Doppeldenk diejenigen sind, die es erfunden haben und wissen, daß es ein gigantisches geistiges Betrugsmanöver ist.“13

Auf den ersten Blick ist dieser Übersetzung nichts vorzuwerfen. Für mein Ohr schafft aber der Satzbau, vor allem der Rampen-Satz am Anfang, eine größere Distanz in der Wirkung, als ich sie im Original sehe. Meine Version lautet:

„Am raffiniertesten wird Doppeldenk von seinen Erfindern angewandt; kein Wunder, denn sie wissen am besten, es ist ein umfassendes System des mentalen Betrugs.“14

Die Aussage des Rampen-Satzes habe ich in dem Einschub „kein Wunder“ untergebracht. Neben den syntaktischen Unterschieden zu Walters Fassung, die zu anderen Schwerpunkten im Satz führen, ließe sich auch über Semantisches diskutieren (subtil vs. raffiniert, gigantisches geistiges Betrugsmanöver vs. umfassendes System des mentalen Betrugs).

Aus den beiden propagandistisch durchgestalteten Texten, „Buch“ und „Anhang“, kann ich als Übersetzer auch Indizien dafür beziehen, wie ich zwei Elemente aus dem Alltag von Winstons Welt übersetze.

What about „you“?

Erstens. Josée Kamoun äußert sich zur französischen Übersetzung des englischen „you“, das sowohl Anredeform ist als auch für unpersönliche Formulierungen („man“) benutzt wird. Im Deutschen gibt es, wie im Französischen, mehrere Möglichkeiten unpersönlicher Formulierungen, und auch im Deutschen gibt es das Siezen und das Duzen als Anredeformen.

Bei den unpersönlichen Formen entscheidet sich Josée für die „Du“-Lösung, weil sie beim Lesen ähnlich ungemütlich nah rückt wie auch das Präsens. Dem stimme ich nur teilweise zu; gerade weil das Regime alle Parteigenossen duzt und sich untereinander duzen lässt – also verlogen die bestehenden hierarchischen Unterschiede einebnet –, finde ich es wichtig, dass Winston, wenn er den Auswirkungen des Terrors auf die eigenen Empfindungen nachspürt, nicht „du“ denkt, sondern „man“, denn er weiß, es betrifft nicht nur ihn, sondern alle.

Abbildung aus „1984” von George Orwell, illustriert von Reinhard Kleist © 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Wenn es für „Big Brother is watching you“ heißt „Der Große Bruder sieht dich“, dann muss meines Erachtens die Reaktion – „Always the eyes watching you, the voice enveloping you. Asleep or awake (…)“15 – lauten „Die Augen beobachten einen immer, die Stimme hüllt einen ein. Ob man schläft oder wacht (…)“.16 Das „Du“, wie es Josée hier einsetzt, rückt das Ganze zwar näher an Winston heran, engt es aber auch ein.

Bei den Anredeformen kam in früheren Übersetzungen ins Französische wie ins Deutsche das „Sie“ vor; hier bin ich, wie Josée, für ein allgemeines „du“, schon aus Gründen der politischen Abgefeimtheit (s. voriger Absatz): Die Parteigenossen duzen sich. Die Proleten duzen sich auch, weil sie das immer so gemacht haben. Nur da, wo es zu seltenen Kontakten zwischen Proleten und Parteigenossen kommt – Winston sucht sie ja, auf seinem Weg durch die ‚alten‘ Viertel Londons, auch der ‚nette‘ Mr. Charrington gehört dazu –, lasse ich, wie Josée, zum äußeren Ausdruck der Fremdheit zwischen den beiden Teilen der Bevölkerung, beide Seiten zum alten „Sie“ greifen.

Das Newspeak-Vokabular

Zum zweiten Punkt: Im „Anhang“ ist ausführlich erläutert, dass die Wörter kurz und hässlich sein sollen, durchaus schnell entschlüsselbar, aber vor allem verknappt, hart, schlicht. Orwell greift durchweg zu Komposita aus Ein- oder Zweisilbern, die auch mal ihrer Endungen beraubt sind, Minitrue, thinkpol, facecrime. Meine Aufgabe besteht also darin, Neusprech-Wörter zu erfinden, die auch Komposita mit wenig Silben sind. „Neusprech“ gehört zu den Beispielen, die sich im Deutschen durchgesetzt haben, und da von „-sprech“, nicht von „-sprach[e]“ die Rede ist, habe ich auch nicht das französische Problem zwischen „langue“ und „parler“. Doch das Deutsche ist bekanntlich eine Sprache mit silbenreichen Wörtern. „Denkpol“ – bzw. „Denkpolizei“ im Erzählertext, wo „thought police“ steht, nicht „thinkpol“ – ist möglich und passt zu den Neusprech-Regeln. Orwell wird bei Neusprech-Vokabeln wie den Namen der Ministerien den unbeabsichtigten Witz gemerkt und genutzt haben, der in der Vorsilbe „mini-“ steckt, daher halte ich auch nach solchen Möglichkeiten Ausschau (etwa bei „Abtporn“, wenn es um die Abteilung für Pornografie geht, „Pornosec“ im Englischen). Doch was mache ich mit „thoughtcrime“ und „facecrime“, zwei englischen Komposita, die ich mit „Gedankenverbrechen“ und „Mienenverbrechen“ nur inhaltlich umschreiben, aber nicht stilistisch äquivalent nachbilden kann? Für „Verbrechen“ kann ich im Deutschen die schnell verständliche Wurzel des Wortes „Kriminalität“ verwenden, „-krim“. Analog zu „Denkpol“ also „Denkkrim“. Michael Walter geht ähnlich vor und bildet „Deldenk“; mir persönlich ist „del“ allerdings zu offen, um schnell erschließbar zu sein (Delikatessen? Delegation? Delirium? Nein, Delikt …) Und „face“? Walter prägt „Blickdel“. Abgesehen von „del“: Was den ‚Täter‘ verrät, ist ja seine unwillkürliche Mimik, nicht ein bewusster Blick. Ich erfinde „Mimkrim“; hässlich genug ist das Doppelwort. Anders als Josée bin ich also nicht aus inhaltlichen Gründen von bereits in die Sprache eingeführten Orwell-Vokabeln abgewichen, sondern aus stilistischen – gemäß dem „Anhang“.

Psychologie des Terrors

Terror ist eine politische, vor allem aber eine psychologische Kategorie. Wie das Regime des „Großen Bruders“ die Parteimitglieder psychologisch manipuliert, ist schaurig effizient und trägt zur zeitlosen Gültigkeit des Romans bei, denn die Parallelen zur historischen und zeitgenössischen Realität lassen sich schnell finden. Überwachung, Doppeldenk und Sprachverstümmelung sind, neben der ‚guten alten‘ Folter, die Instrumente dieses Regimes. Josée Kamoun weist in ihrem Essay auf Winstons Schuldkomplex hin und zieht von dort aus eine Verbindungslinie zu der „Nachtseite“ des Romans, zu den Träumen, Visionen und fragmentierten Erinnerungen (die sie als Elemente des Fantastischen versteht). Die Gegenüberstellung von „Tag- und Nachtseite“ in 1984 finde ich hochinteressant für das Verständnis des Romans, Josée pointiert sie so weit, dass sie von Orwells „Doppelschreib“ spricht. Ob allerdings der aus Winstons individuellem Erleben, seinem traumatischen Verlust der Familie erwachsene Schuldkomplex wirklich auf seine Mitbürger·innen übertragbar und dem Regime als Hebel der Unterdrückung nützlich ist, möchte ich bezweifeln.

Das sind Feinheiten der Interpretation. Ohne Interpretation keine Übersetzung, das ist ebenso klar wie die Tatsache, dass in der Interpretation der erste Faktor liegt, in dem sich auch (und gerade) gute Literaturübersetzungen unterscheiden und nebeneinander bestehen können. Der zweite liegt in den gefundenen Formulierungen, den sprachlichen Einfällen beim Neu-Schreiben des übersetzten Texts. Doch nicht aus jedem interpretatorischen Detail erwachsen sogleich übersetzerische Konsequenzen, zusätzliche Teil“pflichten“ als Übersetzungsaufgabe. Mit anderen Worten: Wie umfassend das Regime seine Bevölkerung mit dem Druckmittel der Schuldgefühle terrorisiert, lässt sich diskutieren, ich glaube aber eher nicht, dass daraus substanziell andere Übersetzungslösungen entstehen.

Für eine Neuübersetzung, die das Werk lebendig erhält, braucht es ein klares Bewusstsein von den verschiedenen Welten des Romans. Die stilistischen Unterschiede zwischen der Tag- und Nachtseite des Romans zu erkennen ist, ebenso wie bei der dritten Stilebene der Non-Fiktion, für die Übersetzung weichenstellend. Das Leben unter diesem Regime hängt lähmend im aktuellen Moment fest, da alles Vergangene verfälscht, verbogen und damit entbehrlich gemacht wird; erst die „Nachtseite“ gibt dem Roman ihr zeitliches Relief, ihren unwirklichen Hallraum in die unterminierte Historie hinein, erst sie macht 1984 für heutige Leser·innen über das Entsetzen vor dem Terror hinaus emotional anschlussfähig.

 

16.09.2021
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PDF

©Edwin Gut

Frank Heibert, Berlin, geb. 1960, Literatur- und Theaterübersetzer aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen sowie Dozent, Autor, Kritiker, Jazzsänger. Übersetzungen: ca. 100 Romane und Erzählbände, 10 Sachbücher und 110 Theaterstücke, u. a. Werke von Don DeLillo, Richard Ford, George Saunders, Lorrie Moore, William Faulkner, Raymond Chandler, George F. Walker, Boris Vian, Raymond Queneau, Marie Darrieussecq, Yasmina Reza, Michel Marc Bouchard, Karoline Georges u.v.a. Zahlreiche Ehrungen, zuletzt Straelener Übersetzerpreis 2017 (zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel).

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