1984. Schrecken übersetzen
Die folgenden Überlegungen basieren auf Erfahrungswerten; sie sollen nicht glatt, frei von Details, in einem Rückblick dargestellt werden, der sie als von vornherein geplant erscheinen lässt, ganz im Gegenteil soll ihre Unvorhersehbarkeit, ihr Werdegang, ihr Stottern und Nachjustieren nachempfunden werden.
1984, der Roman, der 1948 geschrieben wurde und den Orwell im Übrigen eigentlich 1948 nennen wollte, ist längst ein sogenannter Klassiker; es ist ein Kultroman, der mehrfach verfilmt wurde, in die Lehrpläne von Schulen und Universitäten aufgenommen wurde und Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten ist; Literatur- und Philosophieprofessoren haben sich auf Orwell spezialisiert. Seither sind mehrere der in der ersten Übersetzung getroffenen Entscheidungen - die damals kaum Anlass zu Kommentaren gegeben zu haben scheinen - Teil der französischen Sprache geworden, zwei davon auf jeden Fall: novlangue (Neusprech), police de la pensée (Gedankenpolizei). Es geht so weit, dass manche Leser diese erste Übersetzung unbewusst mit einem Original verwechseln und ihr damit absolute Legitimität verleihen, unbeachtet ihrer Vorzüge und/oder Nachteile, die hier nebenbeigesagt nicht zur Debatte stehen.
Der Hintergrund ist folgender: Eines Tages bittet Sie ein Verlag, für den Sie derzeit arbeiten, die bestehende Übersetzung zu lesen, um zu prüfen, ob es angebracht ist, eine neue vorzuschlagen. Also Gallimard für 1984, wohl wissend, dass der Roman zwei Jahre später gemeinfrei wird und dass die aktuelle Übersetzung 70 Jahre alt ist. Sie erinnern sich an den Roman, den Sie als junge Erwachsene im Original gelesen haben; es fällt Ihnen nicht schwer, sich an den Eindruck des Schreckens, diesen erdrückenden Mechanismus und das Gefühl, sich nie wieder zu erholen, sobald das Buch zugeklappt ist, zu erinnern. Sie entsinnen sich, dass es sich hier eher um politische Fiktion als um Science Fiction handelt; dieser Roman wird oft mit Huxleys Brave New World verglichen. Dystopien, alptraumhafte Zukünfte, die uns davor „warnen“, wie das Morgen aussehen könnte, „wenn wir nicht aufpassen“, wie es zumindest in den Medien oft heißt. So war insbesondere nach der Wahl von Donald Trump viel davon die Rede, dass wir in eine Orwell‘sche Welt eingetreten sind, d.h. in eine Gesellschaft der Überwachung und Manipulation von Informationen.
Ortung: Die Quellen des Schreckens
Diesmal lesen Sie den Text - im Text - noch einmal, und Ihnen fallen mehrere Aspekte auf. Der Eindruck des Schreckens, den die erneute Lektüre nicht gemindert hat, im Gegenteil; das Paradoxon der Spannung, wenn wir doch wissen, wir sicher sind, dass Winston in den unterirdischen Räumen des MiniLove gefoltert werden wird (die berühmte Pistole im ersten Akt bei Tschechow), aber auch die Komplexität einer literarischen Komposition, die sich nicht darauf beschränkt, ein zweidimensionales Bild zu zeichnen. Denn wenn man 1984 als einen Roman der politischen Fiktion betrachtet, ahnt man schnell, dass da „mehr“ ist, ein „Rest“ - etwas „anderes“. Und was für eines!
Wie konstruiert Orwell den Schrecken, was sind seine Mechanismen? Mit welchen möglichen Folgen für die Übersetzung?
1984 kommt als „klassische“ Erzählung daher, d.h. der Roman beginnt mit einer seitenlangen Exposition; die Informationen werden durch die Darstellung des Regimes von Big Brother an die Leser vermittelt, in diesem Fall durch eine Alltagsszene: Winston, der Protagonist, geht zur Mittagszeit nach Hause, trinkt ein Glas Gin und schlägt eine Zeitung auf, alles mehr oder weniger harmlose Tätigkeiten, zumindest in der Gesellschaft, in der die Leser leben. Aber die Bedrohung ist allgegenwärtig, und nicht nur bildhaft. Sie ist draußen auf den Big-Brother-is-Watching-You-Plakaten zu sehen, mit der ganzen Zweideutigkeit des Wortes „watch“, beschützen oder bewachen; sie ist in den Hubschraubern zu erkennen, die vor den Fenstern schweben, und die doch nichts sind, worüber man sich Sorgen machen müsste, verglichen mit der thoughtpolice, dieses schaurige Kompositum. Die Bedrohung zeigt sich auch in der unverhältnismäßigen Größe der vier Ministerien, die mit ihren gigantischen Pyramiden die Sicht auf London buchstäblich erdrücken und vage an die aztekischen Tempel erinnern, in denen Menschenopfer dargebracht wurden - auch dies hat eine starke visuelle Wirkung auf die Leser. In der Beschreibung der Umgebung des Ministerium der Liebe wird dies noch deutlicher. „gorilla-faced guards in black uniforms, armed with jointed truncheons” Der Gedanke an diese Knüppel, die von brutalen Bestien gehandhabt werden, ist erschreckend: Wovor haben wir Angst? Antwort: verletzt zu werden. Es könnte gar nicht konkreter oder sogar ursprünglicher sein, instinktiv, viszeral. Die Angst wird natürlich im dritten Teil ausführlich behandelt. Die Bedrohung geht, abermals natürlich, nicht nur von außen, sondern auch von innen aus, denn die Teleschirme (engl. telescreens) überwachen jeden Schritt 24 Stunden am Tag. An diesem Punkt der Ortung kann sich der Übersetzer sagen, dass der Schrecken, der durch die Inszenierung und die Bilder ausgelöst wird, sich zwar ganz von selbst übersetzen wird, aber sie hat das vage Gefühl, dass dahinter ein Unbehagen steckt.
Eine weitere Quelle dieses Schreckens ist die Erzählhaltung. Technisch gesehen befinden wir uns in einer Erzählung in der dritten Person mit internem Fokus; es bleibt die Frage, ob eine Instanz, die höher ist als Winstons Bewusstsein, den internen Fokus überschreitet. Natürlich muss uns der Autor auf diesen ersten Seiten Winston zeigen, und er muss uns auch seine Umgebung vorstellen. Es ist also streng genommen nicht W, der sich in diesem schlaksigen, rotgesichtigen fast Vierzigjährigen sieht; er ist es nicht, der für seine Erinnerung (!) das London beschreibt, in dem er lebt. Doch weder auf diesen Seiten noch im gesamten Roman finden die Leser die geringste Information, die W nicht besitzt, noch die geringste Bemerkung, die er nicht selbst machen kann; man ist also im Bewusstsein der Figur gefangen und befindet sich in einer Art mimetischen Situation. Es ist unmöglich, Abstand zum Geschehen zu nehmen. Diese Erzählhaltung hat Auswirkungen auf die vom Übersetzer zu treffenden Entscheidungen.
Der dritte grundlegende Punkt ist Orwells Naturalismus, und unter Naturalismus wird klassischerweise die Weigerung verstanden, die Realität oder die Psychologie, die Motive usw. zu idealisieren. Das Auftauchen unangenehmer Situationen oder Empfindungen und - natürlich - körperlicher Funktionen und Erscheinungen. Der Roman beginnt mit dem Geruch von gekochtem Kohl und alten Matratzen (es ist eine dysphorische Welt bis ins Detail des täglichen Lebens); W wird den Leser durch seine physischen Leiden vorgestellt: ein krampfaderartiges Geschwür und Kurzatmigkeit. Als er im Begriff ist, seinen ersten und unwiderruflichen Verstoß zu begehen, heißt es: „A tremor had gone through his bowels“. Man könnte argumentieren, dass es sich hier um eine körperliche Herangehensweise an das Thema des Schreckens handelt. Man halte einen Moment bei dem Wort „bowels“ inne, da später das Wort „belly“ auftaucht, und erinnere sich daran, dass diese Worte für ihre Zeit, in der kein Organ zwischen dem Knie und dem Solarplexus benannt wird, sehr unschicklich sind; zum Stuhlgang sagt man „to move one’s bowels“. Es gibt mehrere Hinweise auf Durchfall, der durch Angst verursacht wird; als Winston Julia trifft, die er für eine Spionin hält, bekommt er Koliken. Als der unglückliche Parsons im Ministerium der Liebe in der weißen Zelle mit der Toilette eingekerkert wird, „erleichtert“ er sich, natürlich öffentlich, denn diese Verletzung der Privatsphäre ist Teil des Prozesses der Auslöschung jeglichen Widerstands.
Die Betrachtung von Orwells Strategien zum Aufbau von Schrecken bringt eine Art Dominanz des Körperlichen zutage und der Körper erfährt hier nicht nur Schrecken, sondern auch Ekel, Unwohlsein, Lust, Erregung, Ekstase. Mit anderen Worten: Die anfängliche Ortung „im Hinblick auf die Übersetzung“ deutet darauf hin, dass die politische Widerstandsschrift die emotionalen und physischen Folgen des Totalitarismus berücksichtigt.
Diese „naturalistische“ Ausdrucksweise verträgt sich nicht mit dem nüchternen oder gar gezügelten Französisch, das zur Zeit der ersten Übersetzung möglicherweise die einzige akzeptable Sprache war, oder zumindest die einzige, die in Übersetzungen zu dieser Zeit akzeptabel war. Dies ist im Jahr 2021 nicht mehr unbedingt der Fall.
2. An die Arbeit
Das passé simple. What about You? Sprachniveaus, Wortschatz.
Wenn man sich einmal orientiert hat, zumindest vorläufig, beginnt man ahnungslos im Passé simple und scheitert; man spürt nicht mehr den Schrecken, den man im Original empfunden hat. Nach drei Wochen und 30-40 Seiten probiert man aus einer plötzlichen Eingebung heraus das Präsens aus, und der absolute Schrecken überfällt einen. Aber, fragt sich der skrupulöse Verräter, ist diese Ermächtigung „rechtmäßig“?
Wenn man seiner „Intuition“ nachgegeben hat, ist es unerlässlich, das englische Präteritum dem französischen Passé simple in Bezug auf den Gebrauch und das Sprachniveau gegenüberzustellen. Ungeachtet seiner sprachlichen Relevanz, seines Abgeschlossenheitscharakters, seiner semantischen Nähe zum Präteritum, die es zu einem verlockenden Äquivalent machen, gehört das französische Passé simple nicht zur Alltagssprache, was nicht nur die gesprochene Sprache meint, sondern auch die geschriebene in anderen als literarischen Kontexten. Ein persönlicher oder administrativer Brief, ein Bericht oder auch ein Zeitungsartikel werden im Präsens oder im Passé composé geschrieben. Dieses einfache Präteritum, von dem man also sagen könnte, dass es von einem Index der Fiktionalität beeinflusst wird, hat zwei Nachteile: Es wirkt wie ein Filter, der die literarische Sprache von der Alltagssprache in einer Weise distanziert, die es im Englischen nicht gibt, eine Distanzierung, die die Wirkung des Originaltextes verringert; und außerdem führt es zu einer Kaskade von subjonctif plus-que-parfait und subjonctif imparfait, Vergangenheitsformen, die den Leser des einundzwanzigsten Jahrhunderts zunehmend fremd sind. Diesem einfachen Präteritum der Erzählung steht schließlich ein einfaches Präteritum der Beschreibung gegenüber, das mithilfe eines französischen Imparfait wiedergegeben wird, was, wie man sehen wird, es nicht gerade besser macht:
He took down from the shelf a bottle of colourless liquid with a plain white label marked Victory Gin. It gave off a sickly oily smell as of Chinese rice-spirit. Winston poured nearly a teacupful, nerved himself against the shock and gulped it down like a dose of medicine. Instantly his face turned scarlet and the water ran out of his eyes. The stuff was like nitric acid, and moreover, in swallowing it one had the sensation of being hit on the back of the head with a rubber club.
Il prit sur l’étagère une bouteille d’un liquide incolore qui portait une étiquette blanche ou s’inscrivaient clairement les mots gin de la victoire. Le liquide répandait une odeur huileuse, écœurante comme celle de l’eau de vie des Chinois. Winston en versa presque une pleine tasse, s’arma de courage pour supporter le choc et avala le gin comme une médecine Instantanément son visage devint écarlate et des larmes lui sortirent des yeux. Le breuvage était comme de l’acide nitrique et on avait l’impression d’être frappé à la nuque par une trique en caoutchouc.
Er nahm aus dem Regal eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit, auf deren weißem Etikett deutlich die Aufschrift Victory Gin zu lesen war. Die Flüssigkeit hatte einen öligen, ekelerregenden Geruch wie chinesischer Branntwein. Winston schenkte sich fast eine ganze Tasse ein, nahm all seinen Mut zusammen, um den Schock zu ertragen, und schluckte den Gin wie Medizin. Sofort wurde sein Gesicht scharlachrot, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Das Getränk war wie Salpetersäure, und es fühlte sich an, als hätte man einen Gummiknüppel in den Nacken bekommen.1
Il prend sur l’étagère une bouteille de liquide incolore dont l’étiquette blanche indique simplement Gin de la Victoire et qui exhale une odeur malsaine et grasse, comme celle d’un alcool de riz chinois. Il s’en verse une pleine tasse ou presque, se blinde au choc et la descend cul sec, comme on avalerait une purge.
Aussitôt son visage s’empourpre et ses yeux larmoient. De la nitroglycérine, cette gnôle, un coup de trique sur la nuque.Er nimmt eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit aus dem Regal, auf deren weißem Etikett nur die Worte Victory Gin stehen und die einen ungesunden, öligen Geruch hat, der an chinesischen Reisgeist erinnert. Er schenkt sich eine volle Tasse ein, oder zumindest fast, wappnet sich gegen den Schock und trinkt sie wie Medizin in einem Zug aus.
Sofort wird sein Gesicht rot und seine Augen tränen. Wie Salpetersäure, dieser Schnaps, ein Gummiknüppel im Nacken.2
Die Rohheit des Originals kann so unterstrichen oder abgemildert werden, und diese Alternative wird auch durch die Wahl zwischen „vous“ oder „tu“ deutlich, vor die einen das Original offensichtlich nicht stellt. What about you? könnte man sagen, entspricht nur annähernd dem französischen unpersönlichen „on“, wohl wissend, dass das Englische das noch unpersönlichere „one“ hat, das den Sprecher/Autor selbst darstellen kann. Man sollte sich daher die Frage nach dem „Unpersönlichkeitscharakter“ dieses „you“ stellen. Natürlich ist es kollektiv, da es sich auf Lebensbedingungen und ein politisches Regime bezieht. Dies spräche also für „vous“. Aber da der Plural-Singular-Unterschied im Englischen nicht existiert, ist es genauso ein „you“, das Winston an sich selbst richtet, beides ist möglich. Daher die Übersetzung einiger „you“ durch „tu“, mit einem viel angsteinflößenderem Effekt, weil die Bedrohung, wenn man so will, eher intern ist. Und da das „tu“ den Schrecken näher bringt, drückt es auch stärker die Frustration und die Empörung aus, die die Figur charakterisieren.
He took a twenty-five piece out of his pocket. There too, in tiny clear lettering, the same slogans were inscribed, and on the other face of the coin, the head of Big Brother. Even from the coin, his eyes pursued you. On coins, on stamps, on the cover of books, on banners, on posters, and on the wrappings of a cigarette packet. Everywhere. Always the eyes watching you and the voice enveloping you. Asleep or awake working or eating, indoors or out of doors, in bath or in bed – no escape. Nothing was your own, except the few cubic centimeters inside your skull.
Il prit dans sa poche une pièce de 25 cents. Là aussi, en lettres minuscules et distinctes, les mêmes slogans étaient gravés. Big Brother dont les yeux, même là, vous poursuivaient. Sur les pièces de monnaie, sur les timbres, sur les livres, sur les bannières, sur les affiches, sur les paquets de cigarette, partout . Toujours ces yeux qui vous observaient, cette voix qui vous enveloppait. Dans le sommeil ou dans la veille, au travail ou à table, au dedans ou au dehors, au bain ou au lit, pas d’évasion. Vous ne possédiez rien, en dehors des quelques centimètres cubes de votre cerveau.
Er nahm einen Vierteldollar aus seiner Tasche. Auch dort waren in kleinen, deutlichen Buchstaben die gleichen Slogans eingraviert. Großer Bruder, dessen Augen sogar dort auf einen gerichtet waren. Auf Münzen, auf Briefmarken, auf Büchern, auf Transparenten, auf Plakaten, auf Zigarettenschachteln, überall. Immer diese Augen, die einen beobachten, diese Stimme, die einen einhüllt. Ob im Schlaf oder im Wachzustand, bei der Arbeit oder am Tisch, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett, es gab kein Entkommen. Man hatte nichts, außer den wenigen Kubikzentimetern seines Gehirns.3
Il sort de sa poche une pièce de 25 cents. Les slogans s’y inscrivent aussi, en minuscules bien nettes, tandis que le côté face est frappé à l’effigie de Big Brother. Et même sur la pièce, il te suit des yeux. Sur les pièces, les timbres, la jaquette des livres, sur les banderoles, les affiches, les paquets de cigarettes – partout. Partout ses yeux te suivent, partout sa voix t’enveloppe. Dans la veille comme dans le sommeil, au travail comme à table, dedans comme dehors, au bain comme au lit – tu ne lui échapperas pas. Tu n’as rien à toi sinon quelques centimètres cubes au fond du crâne.
Er nimmt einen Vierteldollar aus seiner Tasche. Die Slogans sind ebenfalls in kleiner, klarer Schrift darauf geschrieben, während auf die Vorderseite das Bild von Big Brother geprägt ist. Selbst von der Münze aus verfolgen dich seine Augen. Auf Münzen, Briefmarken, Buchumschlägen, Bannern, Plakaten, Zigarettenschachteln - überall. Überall hin folgen dir seine Augen, überall umhüllt dich seine Stimme. Ob du wach bist oder schläfst, bei der Arbeit oder am Tisch, drinnen oder draußen, im Bad oder im Bett – du kannst ihm nicht entkommen. Du hast nichts Eigenes, bis auf die paar Kubikzentimeter ganz hinten im Schädel.4
Das Präsens hat etwas von einem Gefängnis, was durch das Duzen noch verstärkt wird.
Orwell hat ein feines Gehör. Er lässt nicht alle seine Figuren auf dieselbe Weise sprechen. Die Proletarier werden mit den Eigenheiten ihrer Sprache gehört (einschließlich der Phonetik). In der ersten Übersetzung siezen sich die Kameraden, was nirgendwo üblich ist, und Orwell selbst (der durch seine Mutter französisch spricht) bemerkte den Wechsel von der üblichen Anrede „tu“ in den Armeen Kataloniens zum „vous“ oder einer gleichwertigen Anrede als bedeutende Rückkehr zu einer bestimmten Form der Ordnung. Die Eheleute, Winston und seine Frau, siezen sich in der ersten Übersetzung, obwohl sie, zumindest rechtlich gesehen, „Kameraden“ sind und es nirgends andere Anhaltspunkte gibt, die diese Anrede zwischen ihnen rechtfertigen würde. Der Dialog zwischen Winston und O‘Brien ist von Anfang bis Ende derselben Anredeform unterworfen. Doch gerade die erdrückende Natur ihrer zutiefst ungleichen Beziehung, sowohl wegen W‘s bewundernder Faszination für OB als auch wegen OB‘s Macht über ihn in intellektueller, politischer und physischer Hinsicht, diese erdrückende Beziehung, übersetzt durch eine offene „Pädagogik“, die bis zur Folter geht, wird in all ihrer perversen Ironie und Maskerade des Egalitarismus nicht so gut durch die „vous“ wie durch die „tu“-Form vermittelt.
Wenn man die erste Übersetzung betrachtet und dabei die Verwendung des Passé simple (und des Imparfait subjonctif), des Siezens und der Idealisierung des Vokabulars beziehungsweise die ständige Abschwächung des Naturalismus („éructer“ (deutsch: aufstoßen) für „belch“, „entrailles“ (deutsch: Eingeweide) für „bowels“), die Abmilderung der Arbeitersprache berücksichtigt, könnte man meinen, sie habe das Ziel eine Distanz zum Text zu schaffen oder ihn sogar auf ein akademisches Podest zu stellen, ihn vielleicht sogar in der Kunst zu „verstecken“. (In einem schönen Kunstwerk „spricht man angemessen“. Neben seinen eigenen Zielen ist es eine Hommage an die „schöne Sprache“).
Zwischenakt
Es ist natürlich nicht unsere Absicht, hier einen Katalog aller gegensätzlichen Lobpreisungen und Verurteilungen zu erstellen, die diese Übersetzung hervorgerufen hat, aber es ist interessant, eine Typologie zu skizzieren. Einige Kritiker haben die „Entstaubung“, die Wiederherstellung eines nervösen Schreibstils, die Entdeckung eines „echten Romans“ oder sogar einer „Liebesgeschichte“ gelobt; andere haben den Wechsel zum Präsens gutgeheißen, in der Überzeugung, dass die heutigen Schüler das Passé simple nicht mehr lesen können: Dieser vermeintliche Trick mache den Text für sie zugänglich. Diese Reaktionen kennzeichnen eine Art „modernes“ Lager, während andere den eindeutig „konservativen“ Gegenpol bilden und der Übersetzerin Dilettantismus (!), Nachlässigkeit und politische Hetze vorwerfen, wobei einige Kolumnisten so weit gehen zu behaupten, dass die Übersetzerin die Sätze des Romans vereinfacht und verkürzt habe.
Ebenso überraschend, aber viel anregender ist die Kritik an der lexikalischen Auswahl. Unabhängig davon, ob es sich dabei um zufriedenstellende Übersetzungen handelt oder nicht, wird niemand bestreiten, dass das Wort „novlangue“ (deutsch: Neusprech) und der Ausdruck „police de la pensée“ (deutsch: Gedankenpolizei) in die Alltagssprache eingegangen sind. Dies ist der eigentliche Grund für einen anderen Vorschlag. Aber eins nach dem anderen. Im Anhang, und nicht im Hauptteil der Geschichte - wie die Ausführung zu Goldsteins verbotenem „Buch“- (warum?), werden die Prinzipien des Newspeak methodisch dargelegt; „man“ legt hier auch sein Endziel fest, nämlich nicht nur jeden heterodoxen, d.h. ketzerischen Gedanken, sondern jeden Gedanken zu verhindern. Der Newspeak (Orwell wählte nicht newlang) ist, um es mit einem aktuellen Bild zu sagen, ein Virus, das sich in die Software der Sprache einschleust und sie zerstört. Dies geht weit über den Neusprech als Mittel zur Manipulation hinaus. Man kann sich zu Recht fragen, ob es sich hier sogar um einen grundlegenden Unterschied als nur eine Variation handelt und ob man nicht durch den Wirklichkeitseffekt zu einem paradoxal surrealen Effekt gelangt (Orwells Sorge um sprachliche Folgerichtigkeit führt zu systematischer Neukreation). Es lohnt sich ebenso, auf die verbale Form der Wortneuschöpfungen Doublethink und Newspeak näher einzugehen: Hier handelt es sich um unpersönliche Infinitive, immer außerhalb der Zeit - und wir können wagen zu behaupten - des „Subjekts“ stehend, was dem Projekt der Auslöschung des Gedächtnisses und letztlich der Auslöschung des Bewusstseins des Subjekts als solchem in bewundernswerter Weise dient. Gedankenpolizei „police de la pensée“, eine Übersetzung, die aufgrund der als wesentlich dargestellten Kompaktheit angefochten wird, ist mehr oder weniger zu einem Synonym für politische Korrektheit geworden, und zwar in den Augen einer Minderheit, die sich auf „unkomplizierte“ Weise ausdrücken und nicht durch „Gutmenschentum“ zensiert werden möchte. Die Bedrohung durch diese Gedankenpolizei, die wir auf der ersten Seite entdecken, ist umso erschreckender, als es, wie sich später zeigt, klug ist, jede Andeutung von Irrlehre vor sich selbst zu verbergen, um ihr zu entgehen. Mit anderen Worten: Es ist klug, zum Polizisten des eigenen Denkens zu werden. Die Übersetzung „mentopolice“ dient somit der Kompaktheit und lässt gleichzeitig an die „Mentalisten“ denken, die sich in die Haut, d. h. das Gewissen des Verbrechers, hineinversetzen. Die ultimative Bedrohung ist diejenige, die in den Geist eindringt, und nicht nur diejenige, die von außen die Äußerungen der Gedanken (mündliche und schriftliche Äußerungen, aber auch Gesten und Mimik) überwacht.
3. Wenn die Frage nach dem Genre ein Comeback feiert
Wir wissen, dass Milan Kundera 1984 nicht mochte, weil er der Meinung war, dass das Genre des Romans nichts zur politischen Argumentation beitrug und diese sogar erheblich schwächte.
Hat Orwell seinen Widerstand etwa in den Charme der Fiktion gehüllt wie eine bittere Pille, die sich im Zuckermantel leichter schluckt?
Kehren wir zum eingangs erwähnten Aspekt zurück, dass dieser Roman „mehr“ ist als eine politische Fiktion. Die Bedeutung, die dem Körper beigemessen wird, entblößt und inszeniert diese Orwellsche Idee, dass der Körper unübertrefflich ist, dass der Mensch körperlich ist, dass sein Körper die Romantik seiner Gefühle, sein Heldentum entkräftet und verrät. Der postviktorianische Autor hasst den Puritanismus seiner Zeit und prangert die Lüge eines Pseudo-Idealismus an, eine weitere Propaganda. Seine Herangehensweise an die Beziehung zwischen Winston und Julia hat etwas vom Naturalismus von D. H. Lawrence: Liebende, Freunde, Kameraden im wahrsten Sinne des Wortes, im Einklang mit der Natur, in unschuldiger Nacktheit.
Ein weiterer Punkt ist auch der explizite und implizite Diskurs über Verführung und Macht zwischen Männern innerhalb eines ideologischen Systems; während Julia den Sex verkörpert, ist für Winston O‘Brien das Objekt der Begierde (letzterer wird seltsamerweise zwei- oder dreimal durch die Gegensätzlichkeit seines Boxer-Körperbaus und seines raffinierten Intellekts beschrieben), ein Begehren, über dessen Natur man spekulieren kann.
Noch ein Mehrwert des Romans ist das Blättern durch Gedanken. Selbstverständlich ist das Thema der Beschlagnahmung des kollektiven Gedächtnisses in einem totalitären Regime ausführlich und zu Recht kommentiert worden. Aber Tatsache ist, dass Winstons Erinnerung zu ihm zurückkommt, zumindest zum Teil. Und seine melancholischen, lückenhaften Erinnerungen sind von einem diffusen und wachsenden Schuldgefühl durchdrungen; tatsächlich gibt er sich selbst die Schuld daran, dass er - metaphorisch gesprochen - seine Mutter und seine kleine Schwester „getötet“ hat (ein ständig hungriger heranwachsender Junge, der das wenige Essen, das es gab, an sich reißt). Auch wenn sich die Grausamkeit dieser Situation auf das politische Problem des Bewältigens von Versorgungslücken zurückführen lässt, auch wenn das Thema der Erinnerung auf diese Weise mit dem des Körpers artikuliert wird, hinterlässt die Art ihrer Thematisierung ein ungutes Gefühl. Die Erinnerung kehrt im Wesentlichen durch Träume zurück, ebenfalls eine wichtige Entscheidung des Autors.
Der letzte Aspekt ist schließlich eine Tür, die wir öffnen und offenlassen, nämlich die Beschaffenheit des Fatalismus, der in der Erzählung wirkt. Weil man nun, in die Enge getrieben, den Text noch einmal liest und diesmal, auf ganz methodische und unerwartete Weise, auch für einen selbst, eklatante Ähnlichkeiten zum Phantastischen zu Tage treten.
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1984 führt die Leser durch eine Palimpsest-Stadt, die für ihre eigenen Bewohner unlesbar geworden ist, bis hin in die Arbeitervororte, die einen kuriosen Kramladen bergen, einen Zeugen anderer Zeiten und Bräuche, dekoriert mit nostalgischem Charme - die Poesie gehört zur Reihe der „Extras“, die das Buch bietet. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass ihr Antrieb und ihre Wendungen über das rein Rationale hinausgehen. Aber das Thema des Buches ist so stark, die Spannung so unerträglich, dass das „Merkwürdige“ übersehen oder der zeitlichen Fremde zugeschrieben wird. Es bleibt die Tatsache, dass die Tagerzählung mit einem nächtlichen Pendant gekoppelt ist, das sich durch häufige Beschwörungen von Träumen auszeichnet, von denen einige vorahnungsvoll sind, durch beunruhigende Verkettungen von Umständen, durch doppeldeutige Ausdrücke, die von Seite zu Seite mitschwingen und nie Gegenstand rationaler Erklärungen sind - alles romanhafte Strategien, die in dem als „phantastisch“ bezeichneten Genre oft vorkommen und die Zufall in Schicksal verwandeln. Was tragen das Seltsame und das Magische zu dem politischen Widerstand bei, den der Roman auf meisterhafte Weise leistet? Lenken sie ab, oder haben sie im Gegenteil eine steigernde Wirkung, wie eine mit Alkohol absorbierte psychotrope Droge? Damit hängt weiterhin die Frage zusammen: Verstärkt die Dystopie, die hier eine Art der tragischen Satire ist, die Züge der historischen Realität und ist somit in gewisser Weise mit ihr verwandt, oder handelt es sich um eine grundlegende Andersartigkeit? Ist der Zweck des politischen Manifests mit einem anderen, latenten Zweck gekoppelt, der im Subjekt eines totalitären Regimes eine verborgene, allem vorangehende Schuld voraussetzt und Winston in diesem Fall zur Duldung eines unentzifferbaren und unerbittlichen Gesetzes verleitet, das sich später als die Partei entpuppt? Sollte man dann Vergleiche mit Kafkas Der Prozess, Vor dem Gesetz oder aber Die Gefangenenkolonie ziehen können?
Bei Tage ein, in einem totalitären Regime im wahrsten Sinne des Wortes nur zu rationaler Schrecken, bei Nacht ein Schrecken, der der Unterwelt entspringt: George Orwells doppelte Schrift…
Eine Antwort auf diesen Essay liefert Frank Heibert in »1984 und die Zeit«.