Cluster, Sprünge, Plan
1. Cluster der Übersetzung und der Liebe. Bericht von Westopia
Ich habe vor Kurzem ein Festival zu Übersetzung, mehrsprachiger Literatur und ihren kulturellen Strategien am „Center for Literature“ der Burg Hülshoff mit kuratiert. Auf diesem Festival, das den Namen „Westopia“ trug, stellte unser Autorenkollektiv Foundintranslation Fragen, die von zentraler Bedeutung für uns als ausländische Schriftsteller·innen in Deutschland sind – die wir uns nach Anerkennung durch den Literaturbetrieb sehnen, aber nicht von seiner verbrauchten Fassade angezogen fühlen, wie sie die Betonköpfe an der Spitze der Literaturhäuser verkörpern. Wie kann eine mehrsprachige Literatur, die sich nicht auf nationale Rahmen reduzieren lässt, uns eine Zukunft schaffen? Kann das Übersetzen als eine Sprache der Verwandtschaft ein Vorbild für die Solidarität zwischen den Kulturen darstellen? Wir haben uns diesen Fragen von unserem Platz an der Basis her genähert und dafür in unseren Enttäuschungen und Verlusten – in der Übersetzung – nach Antworten gesucht. Den Eröffnungsvortrag des Festivals hielt der chilenische Philosoph und Übersetzer Andrés Claro. Hier ein Auszug daraus:
„Das ultimative Gesetz der Übersetzung – die Irreduzibilität des Vermischungsprinzips – widersetzt sich auch der Idee der Nation und allem, was damit verbunden ist – Heimat, Staatsangehörigkeit, Souveränität, Nationalstaat – als einer homogenen Identität, die innerhalb starrer Grenzen besessen und abgegrenzt werden kann. Als eine Operation, die keiner Sprache zugehörig ist, als eine Sprachhandlung, die sich ohne festgelegte Nationalität zwischen ihnen bewegt, lässt uns die Sprache der Verwandtschaft begreifen, dass jede Nation, wie jede Sprache, als das Resultat einer lebendigen Vermischung ohne einheitlichen Ursprung und ohne singuläre Identität verstanden werden muss.“
Ich stelle diesen Bericht von Westopia an den Anfang, weil ich fest davon überzeugt bin, dass eine Verbindung zwischen dem Ethos jenes Festivals im September und den Fragen besteht, die uns nun, Anfang November, zusammenführen. Eine der Leitfragen, die Aurélie Maurin mir mit ihrer freundlichen Einladung sandte, lautete (hier etwas brachialer formuliert): Haben die jüngsten identitätspolitischen Kontroversen um die Übersetzung Ihnen eine Furcht vor dem Übersetzen eingeflößt? Obwohl ich nicht als berufsmäßiger Übersetzer veröffentliche, würde ich doch sagen, dass tatsächlich das Gegenteil geschehen ist: Ich habe mich dazu ermutigt gefühlt, immer radikalere Übersetzungsmethoden zu erproben. Ich habe gegenläufig reagiert.
Jenseits aller lächerlichen Forderungen danach, eine Übersetzerin solle den gleichen kulturellen oder ethnischen Hintergrund haben wie die Autorin, die sie übersetzt, stoßen wir auf die noch tiefer verwurzelte Mär von der vollkommenen Herrschaft der Übersetzerin über ihren Text. Hat die literarische Übersetzerin den Ausgangstext, den sie übersetzt, vollständig verstanden? Nicht unbedingt. Dass eine Lyrikübersetzerin sich, um erfolgreich zu sein, beispielsweise vor allem in der Lyrik auskennen muss, ist wichtiger als ihre Kenntnis der Ausgangssprache. Wir könnten sogar die Frage in den Raum stellen, ob ein volles Verständnis eines tiefen literarischen Texts überhaupt möglich ist. Die Übersetzerin hat sich in einen Text verliebt. Verlieben wir uns, weil wir das geliebte Objekt gänzlich verstehen? Ist das so? Oder geschieht es eher, weil wir von etwas dazu angetrieben werden, das wir uns nicht zu eigen machen können, indem wir es verstehen? Nachdem sie also einen Blick auf ein Werk erhascht hat, das ihre Sinne im Hinblick auf ihre eigene Schöpfung schärfen kann, verändert die Übersetzerin ihren Blickwinkel, erweitert ihre Welt in der Hoffnung, dass dieser Öffnungsprozess wiederum den Blickwinkel derer verändern kann, die ihre Übersetzung lesen. (Der vieldiskutierte Begriff des „sensitivity translating“ scheint mir in dieser Hinsicht nachgerade ein Pleonasmus zu sein, da wir beim Übersetzen notwendigerweise einfühlsam, also „sensitive“, werden und diese Einfühlsamkeit übertragen.) Durch die Übersetzungserfahrung dehnt die Übersetzerin ihren Mikro- zu einem Makrokosmus aus – dabei forscht sie nicht nur nach, erfährt mehr über die Autorin und den soziohistorischen Hintergrund des Ausgangstextes; sie erkundet, lernt und verlernt dabei auch, was sie angeblich von Natur aus beherrscht: ihre Muttersprache.
„Was es heißt, einer Sprache anzugehören. Was Muttersprache heißt, in einem anderen Land, wenn die eigene Mutter einer anderen Sprache angehört,“ danach fragt Nefeli Kavouras, meine in Bayern als Kind griechischer Eltern geborene Kollegin und Mitkuratorin von Westopia. Auf ebenjenem Festival fragte der Philosoph Andrés Claro:
„Ist diese wechselseitige Befruchtung und Vermischung nicht in allen Sprachen und Literaturen am Werk, unterhalb der vermeintlichen Homogenität jeder Subjektivität und Kultur? Und verdankt sie sich nicht einer vorgängigen und irreduziblen Präsenz des Fremden, die die Vorstellung von Identität als einer Homogenität des Eigenen unterläuft? Mir scheint, dass eine geduldige Herangehensweise an das literarische Übersetzen ihre Energien auf diesen Punkt konzentrieren sollte: auf diese utopische Sprache der Verwandtschaft als ein neues Modell von Verwandtschaft überhaupt, als Anerkennung der Tatsache, dass jede Identität durch ein irreduzibles Anderssein konstituiert wird und immer schon konstituiert war; dass aller Besitz und alle Verwandtschaft erst unterwegs entstehen, durch die Bewegungen von Wanderschaft und Exil.“1
“Lo mejor es cuando traducís poemas que te entusiasman, que te hacen sentir como si estuvieras enamorada”, sagte Monika Rinck im Interview mit einer argentinischen Zeitung: Übersetzen als Sich-verlieben. Denn beinhaltet das Übersetzen nicht im Idealfall das genaueste Lesen? Sodass der innere Aufruhr, der überzeugte Zweifel, den man am Original empfindet, als ein Bestimmungsort aus vollkommen anderen Bestandteilen neu errichtet werden kann. Auf diese Art ist der Eindruck des Vermittelt-seins nicht länger ein tragischer, die Vermittlung wird lebhaft, lebbar – genau das ist der Grund, aus dem die Lektüre einer zweisprachigen Ausgabe uns zu einer Kunst des hilfreichen Argwöhnens auffordert. Irgendwo in seinen Cahiers erklärt Paul Valéry, dass wir, indem wir uns verlieben, dem verfallen, was wir nicht verstehen können, aber unaufhörlich zu begreifen suchen – ohne dass dabei jemals das Geheimnis des Objekts unserer Liebe verloren ginge. Und dass die Liebe durch die Projektion auf dieses Unerreichbare zu einem Schöpfungsakt werde. Das Unübersetzbare (oder Geheimnisvolle oder Unerklärliche) im geliebten Original ist es, was zur Übersetzung anregt.
Wenn die Übertragung der Bedeutung eines Wortes seit Langem eine Schwierigkeit darstellt, darf es als unübersetzbar gelten. Das heißt nicht, dass es nicht übersetzt werden „kann“. Sondern dass es immer wieder neu übersetzt worden ist, sich die Bedeutungen immer weiter aufgefächert haben, ohne dass wir je über die Enttäuschung hinausgelangt wären, die mit der Wahl nur einer der endlosen Möglichkeiten, die uns die Muttersprache bietet, noch vor der Niederschrift einhergeht – ein schmerzhafter Vorgang, der selbstverständlich in der Arbeit jeder Übersetzerin vorkommt: die Vereindeutigung.
Ich möchte diesem Cluster zu Übersetzung und Liebe noch etwas hinzufügen, weil ich glaube, dass die Etymologie des Wortes „desire“ uns weiterhelfen könnte. Aus dem Wörterbuch des Unübersetzbaren (herausgegeben von Barbara Cassin, Emily Apter et al.) erfahren wir, dass „desire“ vom Lateinischen desiderare kommt, das aus dem Privativ de- und sidus, sideris (Stern) zusammengesetzt ist. Wörtlich übertragen, heißt es „den Stern nicht mehr sehen“, „die Abwesenheit von … verurteilen“, „vermissen“. Considerare (wie im Englischen „consider“) bedeutet derweil „den Stern sehen“, „sorgfältig oder achtsam untersuchen“. Wir untersuchen sorgfältig und achtsam den Ausgangstext, in den wir uns verliebt haben. Und beim Übersetzen müssen wir hinnehmen, dass wir den Stern, der uns zum Übersetzen verlockt hat, aus dem Blick verlieren werden. Wir können ihn durch ein anderes Licht am Himmel ersetzen: an die Stelle des Leitsterns tritt ein Planet – der vielleicht sogar bewohnbar ist.
2. Sprünge. Eine Handvoll Undurchsichtigkeit auf die durchsichtige Brücke
Zum Ende des Steven-Spielberg-Films Indiana Jones und der letzte Kreuzzug hin gibt es eine Szene, die über reichlich metaphorisches Potential verfügt und an die ich hier erinnern möchte. Indiana Jones hat zwei der drei „Prüfungen des Glaubens“ überstanden, die jeden Eindringling von der Kammer trennen, wo der Heilige Gral liegen soll. Unser Protagonist gelangt nun an eine scheinbar unüberwindbare Schlucht. Im Notizbuch seines Vaters wird diese dritte Prüfung als „leap of faith“ bezeichnet: der Gralssuchende muss selbstbewusst ins Leere treten und dadurch seinen wahren Glauben beweisen. Getrieben von dem Wissen, dass seine eigene Quelle / sein Vater am Austrocknen / am Sterben ist und nur der Gral sie / ihn retten kann, unternimmt Indiana Jones tapfer diesen „Sprung“, indem er auf die Luft zu seinen Füßen „tritt“ und das Geräusch eines Schrittes auf festem Boden hört. Nachdem er begriffen hat, dass eine Brücke die beiden Seiten der Schlucht verbindet, aber durch ein aufwändiges trompe-l’œil, das wie Fels aussieht, durchsichtig bzw. unsichtbar gemacht worden ist, geht er weiter zur anderen Seite. Ein geringfügiger Wechsel der Kameraperspektive, durch den die Brücke nun aus einem schrägen Winkel gezeigt wird, erlaubt uns, Indiana Jones’ Einsicht zu teilen: Die Brücke ist nun sichtbar, unterscheidbar von der gegenüberliegenden Felswand, und wir erkennen, dass ein Kunstgriff (das trompe-l’œil) der Kern dieser Prüfung war. Damit das, was er gesehen hat, auch andere sehen, damit sie ihm folgen können, wirft Jones eine Handvoll Sand auf die durchsichtige Brücke und macht sie dadurch undurchsichtig.
Um einen Sprung vom populären Kinofilm zu einer Legende der modernen Malerei zu machen, zitiere ich Paul Cézanne, der in einem Brief an seinen Sohn schrieb: „Ich müsste nur meinen Blickwinkel ein wenig verändern, meine Perspektive unmerklich verschieben, und schon würden dieser Ort und dieses Motiv grenzenlos. Ich könnte den Rest meines Lebens damit verbringen, hier zu malen.“
Walt Whitman schrieb sein Gedicht Crossing Brooklyn Ferry, bevor die Brooklyn Bridge gebaut wurde – sein Gedicht nimmt die Überquerung vorweg. Es findet dabei eine Art Fergendienst statt (so hat Paul Celan die Arbeit des Übersetzens genannt). Im Überqueren, im Vermitteln gelingt Whitman etwas Unmittelbares. Die im Gedicht beschriebene Überquerung wird vom Text selbst verkörpert: “What is it then between us? What is the count of the scores or hundreds of years between us?” – der Autor als Pendler spricht zu den anderen Pendlern auf der Fähre, die alle später zu Menschen werden, die nicht länger an Entfernungen, an Ort und Zeit gebunden sind – die alle eine Fähre zur Überquerung nutzen. Sie werden außerdem zu seinen künftigen Lesern, die Ansprache wendet sich vom Sichtbaren zum Unsichtbaren.
Whitmans Gedicht enthält auch eine vielschichtige Betrachtung von Identität, die vermutlich mit der schwierigen Identität des Autors als homosexueller Mann zusammenhängt: “I too had been struck from the float forever held in solution…” – das chemische Bild des Festen, das aus einer Flüssigkeit ausfällt. “I too had receiv’d identity by my body”. Noch vor der Verbundenheit, die durch einen ähnlichen kulturellen oder ethnischen Hintergrund geschaffen werden könnte, ermächtigt die Übersetzerin ihre Arbeit durch Empathie, durch eine Liebe jenseits der Körper.2
Weshalb ist die Arbeit einer Übersetzerin solchen Zumutungen ausgesetzt? Lori Chamberlain meint: „Das Übersetzen ist so überkodiert, so überreguliert, weil es den Unterschied zwischen Produktion und Reproduktion auszulöschen droht, der für die Errichtung von Macht unabdingbar ist.“ Die jüngsten Kontroversen aus der Identitätspolitik, die sich in totalitärem Ton aufdrängen, sind eine Besonderheit unserer Zeit. In den sozialen Medien verbreitet, sind sie zum Gesicht des Establishments geworden. Doch „Übersetzung ist anachronistisch; sie findet in Echtzeit und über Zeiten hinweg statt; sie findet rückwirkend statt; sie verändert den, der nimmt und den, der gibt […] jenseits des Märchens vom abgrenzbaren, immergleichen Selbst, vom Körper als einer festen und dauerhaften Behausung,“ so schreibt Joyelle McSweeney.
Die erstrebenswerte Begegnung mit unsicherem Wissen war plötzlich angeblich nicht erlaubt. Ich würde sagen, das ist ein „canceln“, das wir selbst „canceln“ sollten. Wenn wir in unserer Herangehensweise an das Übersetzen als schöpferischen Akt ehrgeizig sind (denn wir sollten uns von alten Irrtümern trennen: alle Übersetzerinnen sind Schöpferinnen), dann sollten wir erkennen, dass diese Kontroversen tatsächlich einen konservativen Charakter tragen – nicht, damit wir Meinungsverschiedenheiten ausblenden können, sondern um sie zu enthüllen, ihr in Ort und Zeit Verhaftet-sein im Stile Whitmans zu überwinden, um die Quelle zu erneuern, die uns braucht, um frisch zu bleiben, trinkbar nur, wenn aus ihr getrunken wird: so wie die Geige leidet, wenn nicht auf ihr gespielt wird.
3. Ein Plan
Ich möchte Andrés Claros Einladung zum Übersetzen als Sprache der Verwandtschaft oder als aktive und irreduzible Vermischung, die einfache Identitäts- und Souveränitätsentwürfe neu definiert, annehmen. In ihrem Aufsatz The Diva Mode of Translation lädt uns auch Fiona Bell dazu ein, „Übersetzerinnen als unersetzliche Vermittlerinnen zu betrachten […], so wie das Publikum im neunzehnten Jahrhundert [vor der Erfindung der Tonaufzeichnung] auf Bühnengesang angewiesen war, um Opern hören zu können.“ Sie erklärt weiterhin: „Aus irgendeinem Grund haben wir unser Verlangen danach vernachlässigt, uns im Austausch mit jenen wichtigen Deuterinnen unserer Gegenwart, den literarischen Übersetzerinnen, hinzugeben und davon begeistert zu sein. […] Indem wir ihnen das Recht, uns zu begeistern, verwehren, verwehren wir auch uns selbst eine fröhlichere, vollständigere Beziehung zur Literatur.“
Wir müssen auf eine Zukunft hinarbeiten, in der die Übersetzung als Blutkreislauf des kulturellen Austauschs anerkannt ist und die dabei Handelnden, die Übersetzerinnen, in unserer Gesellschaft immer sichtbarer und wichtiger werden. In Veröffentlichungen sollten sie den gleichen Rang wie die Autorinnen, welche sie übersetzen, einnehmen, aber darüber hinaus schließlich auch als Koryphäen des kulturellen Transfers anerkannt werden, weil die Übersetzung als liebende und kritische Praxis sowohl Kommunikation als auch Identität als offene Fragen behandelt und dadurch ihre Vielschichtigkeit bewahrt, anstatt sie in starre, konservative Kategorien einzuordnen.
Meine erste eindrückliche Übersetzungserfahrung hatte die Lyrik von John Ashbery zum Gegenstand. Ich hatte das Glück, mit ihm korrespondieren und ihn treffen zu dürfen. Ich glaube, es war bei unserem Gespräch in seiner New Yorker Wohnung, dass er mir erzählte, wie er zu Beginn seiner Schreibwerkstätten Kopien ägyptischer Hieroglyphentafeln an seine Studierenden verteilte und diese später aufforderte, ein Gedicht daraus zu übersetzen. Als Übung zwischen bekannten und unbekannten Sprachen, verbal und nonverbal, könnte das Übersetzen auch in weiterführenden Schulen, sogar in Grundschulen einen Platz finden. Denn die Übersetzung ist gleichzeitig eine Notwendigkeit und eine Unmöglichkeit, sie findet zu jeder Zeit statt, nicht nur in der Literatur, sondern auch zwischen jedem Gedanken und jedem Wort in unserem Kopf, zwischen dem Traum am Morgen und der Erzählung des Traums am Nachmittag.