TALKS Staying alive Überlebensfragen
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Überlebensfragen

Zwischen Vergessen und Vergegenwärtigen. Zur Neuübersetzung von Viktor Schklowskis Zoo.

Das Bild von den Übersetzern als Brückenbauern ist in letzter Zeit ein wenig in Misskredit geraten, nicht ganz zu Unrecht. Aber natürlich stimmt es in einer Hinsicht trotzdem: Jede Übersetzung verbindet Räume – im konkreten Sinn oft die Lebensräume von Autorin und Übersetzerin, im etwas abstrakteren die Kulturräume oder „Semiosphären“,1 in denen beide Texte, Original und Übersetzung, mit ihren Lesern interagieren. Nicht ganz so offensichtlich, aber ebenso wahr ist: Die Übersetzung verbindet auch Zeiten, sie spielt auf zwei temporalen Ebenen: der ihrer eigenen Entstehungszeit und der Entstehungszeit des Originals. Beide Zeiten sprechen aus der Übersetzung. Je größer der Abstand, je spannungsreicher das Intervall, desto klarer ist, dass sich die Übersetzung zur Originalzeit irgendwie verhalten muss, zwangsläufig verhält. Denn egal, wie „modern“ oder „barock“, wie „frisch“ oder wie „gediegen“ die Übersetzung eines nicht-zeitgenössischen Buchs angelegt ist: Indem sie den Text jetzt neu schreibt, setzt sie ihn unweigerlich in Beziehung zu ihrer eigenen Gegenwart. Man könnte auch sagen, in ihr tritt die Gegenwart in Beziehung zu jener anderen Zeit. Neuübersetzungen haben insofern auch eine anamnestische Funktion, sie sind Erinnerungstexte.

Als der Verleger Sebastian Guggolz mich zum ersten Mal fragte, ob ich mir vorstellen könnte, Viktor Schklowskis Zoo2 für ihn neu zu übersetzen, war die Erinnerung sofort im Spiel. Ich erinnerte mich an meine erste Lektüre des Textes: Ich studierte im dritten Semester Slawistik in Berlin, es war November 1985, kalt und grau, ich fuhr im 19er Nachtbus unter den Yorckbrücken durch und las zugleich von ihnen, den „zwölf eisernen Brücken“, unter denen der Verfasser dieser „Briefe nicht über Liebe“ dahinwandert in seinem Exil, immer die Balance haltend zwischen Ironie und Verzweiflung, Spiel und Ernst. Dieses Buch eines unglücklich verliebten Exilanten – der sich seine Liebe vielleicht auch nur ausgedacht hat, um sich von seinem Heimweh abzulenken – weckte in mir paradoxerweise eine heftige Sehnsucht nach genau dem Ort, aus dem sein briefeschreibender Ich-Erzähler sich so sehr wegsehnt: nach jenem Berlin der frühen 1920er Jahre, in dem Boris Pasternak und Andrej Bely durch die Straßen spazierten und der futuristische Maler Iwan Puni nachts um zwei in seinem Schöneberger Atelier Kartoffeln aus der Glut holte für seine Freunde, und demgegenüber mir das Berlin der 1980er Jahre reichlich blass schien.

Zoo führte vor, wie Kunst und Theorie (und des weiteren Liebe und Freundschaft) miteinander ins Tanzen kommen können. Das musste im Kopf und das Buch am besten dauerhaft in der Tasche zu behalten werden, hatte ich damals entschieden. Trotzdem hatte ich es über die Jahre dann großteils vergessen – nicht die Faszination, die es auslöste, aber den Text selbst, bis auf ein paar Schlaglichter wie die eisernen Brücken.

Vergessen – oder im jugendlich-identifikatorischen Überschwang gar nicht erst zur Kenntnis genommen – hatte ich auch, dass dieses Buch, an das ich mich nun wieder erinnerte, seinerseits schon ein Erinnerungstext war: Ich hatte es auf Deutsch gelesen, in der 1965 erschienenen Übersetzung von Alexander Kaempfe, die auf der dritten, 1964 in Moskau veröffentlichten russischen Fassung basiert.3 Sie beginnt mit einer Rückschau: Der Text setzt ein mit der Urszene von Viktor Schklowskis Flucht aus Russland ( „ein Mann geht übers Eis“ ...) – und baut sogleich einen historischen Rahmen darum: „All das war 1922“, schreibt der Autor weiter, im Ausland war ich nicht glücklich, später bin ich zurückgekehrt, und jetzt lege ich dieses Buch, das damals in Berlin entstand, „bei uns“ neu auf: „Moskau 1963“.

Die erste publizierte Fassung von Zoo, die ich jetzt, 2017, auf Russisch las, war dagegen durch und durch ein Gegenwartsbuch: erschienen im Juli 1923 in Berlin, entstanden kurz zuvor, im Winter und Frühjahr 1923.4 Statt der Memoiren-Einleitung von 1964 wird es eröffnet von einer Lesegebrauchsanweisung, die die folgenden „Briefe nicht über Liebe“ exakt auf dem Grat zwischen Fiktion und Realität platziert. Sie ist mit „Vorwort des Autors“ überschrieben und datiert auf den 5. März 1923.

Die Umdeutung zum Memoirentext ist nur eine von vielen Änderungen, die dieses Buch im Lauf seiner Editionsgeschichte erlebt hat – Adressen, deutsche Eigennamen, Datierungen wurden gestrichen und teils wieder hergestellt, bestimmte Briefe wurden aussortiert, neue hinzugefügt, aus anderen sind einzelne Wörter, halbe Sätze und ganze Passagen gestrichen  –, aber für mich gab gerade diese Änderung den unmittelbaren Ausschlag: Dieser Text, der ursprüngliche Zoo von 1923, war dem deutschen Lesepublikum unbekannt, und das sollte nicht so bleiben. 

Die Übersetzung, die ich folglich in Angriff nahm, geht also weiter in der Zeit zurück, um näher an die Gegenwart zu kommen. Denn Zoo 1923 ist präsentisch in einem emphatischen Sinn: Die Ereignisse und die Briefe, die sie kommentieren, greifen ineinander, überholen einander in atemlosem Tempo, und dieses Beinahe-Ineinanderfallen des Geschilderten und der Schilderung ist für das Buch konstitutiv. Besonders plastisch zeigt sich das in seinem Ende.

Zoo 1964 schließt mit der Kapitulation des emigrierten Briefschreibers, seinem Abschied von Berlin und einer komischen Inventur seines bescheidenen Gepäcks, mit dem er Wiederaufnahme in Russland begehrt:

Lasst mich nach Russland, mich und mein schlichtes Gepäck: sechs Hemden (drei im Schrank, drei in der Wäscherei), ein Paar gelbe Stiefel, versehentlich mit schwarzer Schuhcreme geputzt, eine alte blaue Hose, der ich vergeblich eine Falte einzubügeln versucht habe.

Zoo 1923 dagegen fährt an dieser Stelle noch etwa eine halbe Seite lang fort. Statt mit dem Abschluss eines biographischen Kapitels endet es mit einer Beschwörung der Zukunft, einem Appell, man möge den Verfasser im Moment seiner Kapitulation nicht umbringen:

Macht es nicht wie damals in Erzurum: Während der Einnahme der dortigen Festung ritt mein Freund Sdanewitsch einmal eine Straße entlang.
Links und rechts des Wegs lagen niedergesäbelte türkische Soldaten. Ihre Wunden waren alle am rechten Arm und am Kopf.
Mein Freund fragte:
„Warum hat es sie alle am Arm und am Kopf erwischt?“
„Ganz einfach“, kam die Antwort, „wenn die Türken sich ergeben, heben sie den rechten Arm.“

Ob der Autor zur Streichung dieses Endes genötigt wurde oder sie selbst vorschlug, ist letztlich unerheblich; Gründe gab es wohl für beides. Funktional betrachtet war die Zukunftsbeschwörung vierzig Jahre nach dem ersten Erscheinen von Zoo in jedem Fall überflüssig geworden: Viktor Schklowski war nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion tatsächlich nicht umgebracht worden, er hatte wider alle Wahrscheinlichkeit selbst die Jahre des Stalinschen Terrors überlebt.5

Zoo 1964 aber war in großen Teilen zwar dasselbe Buch wie Zoo 1923 geblieben – und doch ein ganz anderes geworden. Es ist das Buch eines Davongekommenen. Der gekappte Schluss nimmt ihm die Radikalität, aus dem Mut der Verzweiflung wird gedämpfte Zuversicht – und dieses milde, trübe Licht strahlt ab auf das Ganze,6 auch dort, wo der Text unverändert ist.

Meine Neuübersetzung ist ein Versuch, die Radikalität, das härtere, schärfere Licht der Fassung von 1923 im ganzen Buch spürbar zu machen: die Gegenwartsscheinwerfer einzuschalten, gewissermaßen.

Geht es also um Modernität? Ich drehe noch eine Schleife.

Wenn wir manche Bücher zweimal, andere immer wieder übersetzen, dann nicht aus Not, sondern aus Lust. Wir reagieren nicht auf eine vermeintliche geringere Haltbarkeit von übersetzten Texten,  sondern auf die Verführungskraft dieser Möglichkeit: zu einem Buch, das sein Geheimnis, seinen Glanz, seine Dringlichkeit über die Jahre bewahrt hat, noch einmal eine neue Tür aufzumachen. Ihm neue Fragen zu stellen, neue Antworten zu hören.

Um das Türöffnen zu rechtfertigen, muss ich keine Überlegenheit der 2020er über beispielsweise die 1960er Jahre postulieren. Es ist keine Besserwisserei, die diesem Impuls und dieser Praxis zugrundeliegt, sondern eher das Gegenteil – Neugier, Wissbegier. Und die Aussicht, die sich aus dieser neugeöffneten Tür bietet, wird immer eine andere sein als aus der Tür davor – im selben Maß, in dem auch der Raum, aus dem man herausblickt, anders geworden ist.

Was habe ich gesehen aus meiner neuen Tür?

Zum einen ein Buch aus und über Berlin, die mir so wohlbekannte Hauptstadt der Unverbundenheit.  Der Erzähler und Briefschreiber in Zoo läuft durch die Straßen, er schaut und schreibt, aber er bleibt außen, uninvolviert: „Von der deutschen Kultur sehen wir nichts. Wir sind in Berlin wie Öl auf dem Wasser.“7 Zugleich sind seine wenigen Sätze über das nicht russisch-künstlerisch-literarische, über das deutsche Berlin, äußerst prägnant. Sie zeichnen ein Bild von Depression und Apathie, von Rost, Feuchtigkeit und einer Architektur wie langweilige „Konfektion“ – der Verfasser fürchtet, sich mit dieser Leblosigkeit anzustecken, ein „Schatten unter Schatten“ zu werden. 

Mehr noch als ein Buch über einen Ort ist Zoo aber ein Buch über eine Zeit, einen historischen Moment. Einen Kipppunkt zwischen zwei Epochen – auch, aber nicht nur in der Biographie des Autors. „Mit Europa geht es zu Ende“, schreibt der reale Schklowski einige Wochen vor seiner Rückkehr in die Sowjetunion in einem Brief an seine reale Frau. „Mit Europa geht es zu Ende, Ljussik, aus politischer Verantwortungslosigkeit und Nationalismus. Es wird Nacht in Europa.“  Über die Alternative zu diesem Europa, das keine Rettung bietet, macht er sich keine Illusionen; das Land, aus dem er geflohen ist und in das er zurückkehrt, ist in der Zwischenzeit nicht menschenfreundlicher geworden, gleichwohl: „Bei uns ist die Luft schlecht, hier gibt es gar keine Luft.“8

Ein teilnehmender Blick auf eine teilnahmslose Welt, und der prekäre Moment vor der Wahl zwischen zwei Übeln – für mich sind es vor allen anderen diese zwei Punkte, in denen ich etwas wiedererkenne, und an denen meine Gegenwart mit der Zoo-Gegenwart ein Gespräch beginnt, mit offenem Ausgang. Diese Art von Gespräch schält sich für mich mehr und mehr als eigentlicher Sinn von Neuübersetzungen nicht-zeitgenössischer Texte heraus, oder vielleicht noch genauer: als deren energetischer Kern. Im Zentrum steht dabei weder Modernisierung noch Patinierung, sondern eine Aktualisierung, die in beide Richtungen wirkt. Aus ihr ergibt sich die konkrete sprachliche Form. In der neuen Übersetzung wird nicht nur die Vergangenheit lebendig(er), sondern – indem sie an diese Vergangenheit neu anknüpft – auch die Gegenwart. In diesem Sinn sind Neuübersetzungen historisch oder sollten es sein. Sie knüpfen die Verbindung der Zeiten, arbeiten gegen den Bruch, die Unverbundenheit, die Wüsten des Vergessens. Staying alive: Das Gespräch zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist die Voraussetzung des Überlebens.

Yorckbrücken, 1977 ©Jürgen Henschel

14.03.2022
Fußnoten
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©Ebba D. Drolshagen

Olga Radetzkaja lebt in Berlin, übersetzt Literatur aus dem Russischen (und Französischen) und arbeitet als Redakteurin bei der Zeitschrift OSTEUROPA. Zu ihren Autor·innen gehören u.a. Julius Margolin, Viktor Schklowski, Boris Poplawski, Maria Stepanova und Polina Barskova. Sie ist Co-Autorin des Dokumentarfilms Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen (2003). 2019 wurde sie mit dem Straelener Übersetzerpreis ausgezeichnet, 2020 zusammen mit ihrer Autorin Maria Stepanova mit dem Brücke Berlin Preis.

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