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WOKE IS BROKE

Was ist „sensible Sprache“, was soll uns die und was hat die mit Übersetzen zu tun?

Vorweg ein Zitat, das wie ein billiges Bonmot anmutet und obendrein völlig unpassend: „Wer nur etwas von Kunst versteht, versteht auch von Kunst nichts!“ Warum? Weil er alles Drumrum und Drunter und Drüber unsichtbar macht, sich nur auf Eins fixiert, womit er den Keim der Indolenz gegenüber allem anderen legt.

Und was soll das mit so vielschichtigen, komplexen Themen wie sensitive writing/reading oder post-colonialism oder diversity/identity oder wokeism oder gendering zu tun haben, mit denen wir beim Übersetzen gerade vollbeschäftigt werden? Ganz schlicht: Wer nur auf, zum Beispiel, „sensible Sprache“ achtet, achtet auch die nicht, sondern verengt den Blick hinein in einen Tunnel, als dessen Licht am Ende eine Schimäre erscheint, die weder Sensibilität noch Sprache wirklich ernst nimmt.

Wieso habe ich mit lauter englischen Begriffen operiert? Auch ganz schlicht: Sie kommen alle aus den USA und mit ihnen politische, soziale, kulturelle Bedingungen und Bewegungen in den USA. Prima. Kultur-Transfer ist erstmal eine Bereicherung; man muss nicht jedes Rad selbst erfinden, wenn es anderswo längst rollt, und der eigene Tellerrand kann von außen betrachtet sehr viel klarer zu erkennen sein. Außerdem kann man sich meistens auf die Dynamik der Geschichte verlassen – historische Umbrüche gehen immer erstmal einher mit Getöse und Erregung, mit Nein-bloß-nicht!-Gezeter und Aber-und-wie!-Gebrüll, mit Übertreibungen, neuen Ungerechtigkeiten, neuen Widersprüchen, auch mit Gewalt. Im Anfang ist Tohuwabohu mit Krawall. Das ist nicht schön, aber wohl menschlich. Und – solche Spitzen werden mit der Zeit runder und sozialverträglich-friedlicher. Der erfahrene Norddeutsche weiß also: dat löpt seck allen's trechte, der dito Sizilianer sagt: s'arrang'accusí, und was Franzosen, Spanier, Norweger, Belarusen, Polen, Niederländer und Albaner an diesbezüglichen Trost-Sprichwörtern haben, das wisst ihr viel besser als ich.

In genau so einer Umbruchsphase leben wir, glaub ich, gerade. Sie ist – aber vielleicht nur in der subjektiven Wahrnehmung – wohl raumgreifender als frühere, sie betrifft nicht „nur“ soziale Ungerechtigkeit, sondern praktisch unsere ganze Kommunikation (Stichwort: Digitalisierung) und, als wenn das noch nicht reicht, gleich noch den gesamten Planeten (Stichwort Klimakrise). Von solchen Kleinigkeiten wie Viren mit Weltmachtstreben, die einem individuell-körperlich alles durcheinander schmeißen, gar nicht zu reden. Ich weiß nicht, ob wir schon die Spitze erreicht haben. Ich beobachte nur eine wachsende Verachtungs- und Hassbereitschaft, eine fatale Sehnsucht nach einem manichäischen Gut oder Böse, eine Lust am Opfersein und eine Parallellust an Mea-Culpa-Ritualen. Hinter all dem stecken Ängste, sonne und solche, je nachdem, aber eine davon ist die Angst, sich unbeliebt zu machen und dafür bestraft zu werden. Die ist ziemlich existenziell, sie trifft nicht nur, aber insbesondere unseren Beruf, und der hat nicht nur, aber sehr viel mit Sprachsensibilität zu tun.

Und ich bin immer noch der Meinung, das Beste, um in all dem Gewusel nicht unterzugurgeln, sind ein offener scharfer Blick, ein kühler Kopf, Wissen. „Woke is broke“ habe ich das Ganze hier genannt – ein Zitat des schwarzen New Yorker Linguisten John McWhorter, dem ich auch einiges hier ausgebreitetes Wissen verdanke. Wissen also. Im Anfang war bekanntlich das Wort, also fangen wir mit einem an: WOKE.

Stay woke ist ein Slogan aus der schwarzen Umgangssprache, dem vermeintlich nicht-korrekten Englisch, der vor ein paar Jahren ins mainstream white American English eingewandert ist, nein: wurde. Wer ihn heute benutzt, will signalisieren: Ich bin progressiv, also bei den Guten; und woke klingt im Gegensatz zu progressive oder politically correct nicht so akademisch-lateinisch, sondern schön knackig und bodenständig amerikanisch. Ein Bourdieuscher Distinktionsgewinn vom Feinsten, der dummerweise dasselbe Schicksal erlitten hat wie seine Vorläufer in den 1980er, 1990er Jahren und noch davor die politische Standortbestimmung liberal (was auf Deutsch eher „links“ ist). Es ist leider eine Unart von selbsternannten „Guten“, Blasen zu schlagen und alle/s außerhalb ihrer Blase verächtlich zu machen. „Woke (Präteritum) sein, heißt awake sein (Präsens) – [auf Deutsch etwa: wach, helle] in Bezug auf gesellschaftliche Zustände. Aber von einer neuen Sicht auf die Dinge zu der Annahme, das sei die einzig vernünftige und moralische Sicht, ist es nur ein kleiner Schritt“, schreibt McWhorter in einem seiner Newsletter in der New York Times. „Und das war noch stets die Steilvorlage für Reaktionäre, die mit dem Spottkürzel p.c. für political correctness die ganze politische Haltung diskreditierten.“

Diesen Mechanismus kann man auch hierzulande studieren, und man kennt ihn auch hier vom Hohn über polictical correctness – bis hin zum aggressiven rechtsradikalen Kampfportal P.I. (für „politically incorrect“) – natürlich über gendering. „Aus woke, einst beliebt unter linksgerichteten Social-Media-Experten als Aufruf, gegenüber systemischem Rassismus wach zu bleiben, wurde erst ein Markierungskürzel heutiger linker Orthodoxie und dann eine Floskel zur Betonung des anmaßenden, obsessiven Wesens eben jener Orthodoxie.“ Spätestens seit den Scharmützeln zwischen linken und konservativen Demokraten, ob die Wahl in Virginia vom November 2021 wegen zu viel oder zu wenig wokeness verloren ging, so konstatiert McWhorter, haben die Anti-Reaktionäre auch ihre jüngste terminologische Schlacht verloren: Woke is broke. Oder, auf Trappatonesisch: Woke hat fertig.

Und wir hier halten wokeness gerade für den end-gültigen letzten Schrei? Wir übernehmen artig Regelwerke, die von einigen aus der Guten-Blase quasi dogmatisch zum Standard erklärt werden? Warum? Ich vermute, einfach weil wir hierzulande kaum wissen, dass und wie darüber im Ursprungsland gestritten wird, und den historischen Unterboden entweder gar nicht kennen oder nicht zur Kenntnis nehmen. Sprachregelungen, in unserem Fall. Was wir hier als wokeism oder wokeness begreifen und für fortschrittlich, menschenfreundlich, sensibel halten, ist eigentlich schon auf den ersten Blick erkennbar als keineswegs „näher am Menschen und seinen realen Problemen“ – es ist, seit es eingewandert wurde, ein „elaborierter Jargon, der als beinah heilig aufoktroyiert wird“ (McWhorter) geworden.

Und zwar erst recht unter Deutschsprachlern, die nicht mal wagen, die englischen Begriffe in brauchbares Deutsch zu übersetzen. Wir reden von diversity, manchmal auch von Diversität, ohne zu ahnen: Wer in den USA diversity einfordert oder damit Reklame macht (Firmen bezüglich ihrer Personalpolitik, zum Beispiel), meint damit meistens schlichtweg „nicht nur Weiße, sondern auch genügend Schwarze und Latinos.“ (McWhorter) Von tatsächlicher Vielfalt, Unterschiedlichkeit, einer Mischung aus lauter verschiedenen „Anderen“ – etwa Menschen mit anderen Religionen, anderer Physis, anderen Geschlechtern, anderer Sexpraxis – keine Spur.

Wir plappern ebenso gedankenlos von post-colonialism und übergehen nonchalant: US-Akademiker verstehen und benutzen den vor allem als innenpolitischen Kampfbegriff. Bei dem Kampf allerdings geht es nicht zuletzt – und damit wir uns richtig missverstehen: zurecht! – um Reparationen für Jahrhunderte von Verschleppung, Sklaverei, Ausbeutung, Gewalt, begangen von weißen an schwarzen Amerikanern. Für Spanier, Portugiesen, Engländer, Niederländer, Franzosen hat Kolonialismus eine viel breitere Bedeutung, für Deutsche auch und nochmal vertrackt-komplexer.

Sprachregelungen von oben führen unweigerlich zu semantischer Verengung, Verbiegung, Vernachlässigung – der eigenen Sprache nämlich. Und damit der eigenen Geschichte. Ein Beispiel für letztere: gendering. Es leitet sich ab aus der Aufspaltung von sex und gender zunächst im Wortschatz US-amerikanischer Universitäten, die sich erstaunlich rasant in den mainstream übertragen hat – ich werde ja den Verdacht nicht los, dass das an der extrem sexängstlichen Kultur in den USA liegt (wo selbst blutigstes Gemetzel in Filmen toleriert wird, aber wehe, irgendwo blitzt ein nipple, eine Vulva, ein Schwanz auf!) … Unsereins hier lebt dagegen seit Äonen mit einem schönen Gemeinschaftswort: Geschlecht. Wir haben Geschlechterkämpfe, Geschlechterrollen, Geschlechtsteile, Geschlechtskrankheiten und drücken damit auch aus, dass das biologisch und das sozial, kulturell, politisch und sogar grammatikalisch Bezeichnete zusammenhängen. Man könnte allenfalls räsonieren, dass die Welt eventuell friedlicher wäre, wenn sie statt von Geschlechtern von Gebessern bewohnt würde. Aber das ist Kalau für Küchenpsycholinguisten.

Semantische Verbiegungen also. Eine zum Beispiel passiert dem Wort race. Warum eigentlich propagiert im englischen Sprachraum niemand dafür eine Aufspaltung oder Abschaffung? Lassen wir beiseite, dass race noch eine andere Bedeutung hat: Wettrennen sind hier nicht gemeint. Hier geht es um einen der drei Zentralbegriffe, mit denen seit Jahrhunderten die realen Machtverhältnisse kritisch auseinandergenommen werden. Sex und class sind die beiden anderen.

Race ist derzeit das Thema, sozusagen das Lackmuspapier, auf dem der Säuregehalt der Gesellschaft sichtbar wird. Race, definiert die schwarze New Yorker Soziologin Crystal M. Fleming, „ist ein Konzept, mit dem sich eine politisch und kulturell bedeutsame Identität bezeichnen lässt.“ Sie lehrt Critical Race Sociology und Africana Studies. So steht es auf ihrer Homepage. Undenkbar, dass sich jemand im deutschen Sprachraum als „kritische Rassensoziologin“ titulieren würde; mal abgesehen davon, dass das deutsche Wort Rasse einen Hallraum hat, in dem für deutsch sozialisierte Ohren sofort das Dröhnen von industrialisiertem Massenmord losgeht – darf akademisches Denken schlicht ignorieren, dass der Begriff Rasse auf Menschen bezogen schlicht falsch ist? „Es gibt hierfür keine biologische Begründung, und tatsächlich hat es diese auch nie gegeben. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“

Vielleicht, wenn es etwas mehr Kultur-Transfer in die andere Richtung gäbe, könnte die Jenaer Erklärung von 2019, aus der diese Feststellung stammt, ein paar Breschen zumindest in den akademischen Antirassismus in der USA schlagen? Womöglich sogar die emotionale, psychische Widerstandskraft gegen das Beleidigungspotenzial der verschiedenen „bösen Wörter“ stärken?

Kommen wir also zurück auf das Wort, beziehungsweise Wörter, den „bösen“ oder zumindest „heiklen“. Sie sind natürlich genau so wenig in Marmor gemeißelt wie Sprache überhaupt, sondern dynamisch. Bleiben wir beim Englischen: gay (was zunächst fröhlich, heiter, bunt bedeutete) wurde zum Schimpfwort für homosexuelle Männer, bis sich nach einer homophoben brutalen Polizeirazzia 1969 im New Yorker Stonewall Inn eine Bewegung bildete, die das Wort sozusagen instandbesetzte und schließlich den alljährlichen ­Gay Pride Day etablierte. Die Diskriminierung Homosexueller durch nicht-homosexuelle Macht-Mehrheiten ist international so ähnlich, dass sich der Vorgang auch in anderen Sprachen nachvollziehen ließ – bei uns hier durch die stolze Aneignung des Worts schwul. Das Gleiche passierte danach mit queer, einschließlich der Querelen innerhalb der communities: Wer signalisiert was mit welchem Begriff, wer will als wie „abweichend von der Heteronormativität“ gesehen werden und grenzt sich gegen wen ab. So musste LGBT (lesbian, gay, bisexual, transgender) bald erweitert werden um Q (für queer) und I (für intersexual) und A (für wahlweise ally, agender, asexual) sowie um ein Plus-Zeichen für alle noch zu bezeichnenden Geschlechtsidentitäten: LGBTQIA+. Man muss das nicht für den Gipfel der Weisheit halten, aber die Instandbesetzung eines Schimpfworts durch die Beschimpften kann so ein Wort tatsächlich untauglich für die reine Verachtung machen. Und das kann sich auf Denken, Fühlen und Verhalten auswirken. Im Idealfall.

Ähnliches scheint mit der Einführung von Ms. für Frauen gelungen zu sein: Die diskriminierende Kennzeichnung als verheiratet (Mrs. – obendrein gefolgt vom Nachnamen des Herren Gatten!) oder unverheiratet (Miss) ist damit jedenfalls vom Tisch. Hierzulande wurde vor einiger Zeit das Fräulein abgeschafft, zumindest aus dem amtlichen Lexikon – nur mal nebenbei zum Thema Sprachdynamik: Genau auf der Anrede hatten nach dem 1. Weltkrieg etliche Frauen in Deutschland vehement bestanden, und nicht nur lesbische.

Bei den Wörtern, mit denen im amerikanischen Englisch schwarze Menschen bezeichnet und vor allem beleidigt wurden, ist die Sache komplizierter: Es gibt nicht nur eins, sondern verschiedene, nicht nur mit unterschiedlichen historischen Kontexten, sondern auch mit unterschiedlichen Bosheitsgraden, also Verletzungspotenzialen, die aber wiederum ihrerseits individuell unterschiedlich wahrgenommen werden. Und über alle wird bis heute und seit ewig gestritten.

Die schwarze Sozialreformerin und Frauenrechtsaktivistin Fannie Barrier Williams stellte schon 1904 in einem Zeitungsartikel die Frage: Do We Need Another Name? Die wurde damals in schwarzen Kreisen lebhaft diskutiert. Soll man sich weiter Negro nennen oder lieber colored oder Afro-American? In Negro war die Sklaverei eingeschrieben, beim Sklavenhandel, der lange Zeit lukrativsten „Industrie“ der Südstaaten, wurden Negroes ge- und verkauft, gern auch spezifiziert durch explizit beleidigende Zusätze (Hengste oder Bullen für die Männer, Bruthuren oder hübsche Mädel für die Frauen) – sollte man also 40 Jahre nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei (1865, Emancipation Act) die neuen „freien“ Generationen nicht von diesem Erbe entlasten? Ms. Barrier Williams plädierte dafür, Negro durch colored zu ersetzen, weil der Begriff gewisse Fortschritte auf dem Weg zur respektvollen Anerkennung reflektiere. W.E.B. Dubois dagegen, Soziologe und Bürgerrechtler, wollte Negro lieber beibehalten, aber positiv wenden, weil sich in dem Wort Freiheit und Überlebenskraft, eben wider die Sklaverei, reflektieren.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb Negro die allgemeine Bezeichnung für Menschen afrikanischer Herkunft, auch von ihnen selbst benutzt und während der ersten Blüte schwarzer Kultur in den USA, der Harlem Renaissance nach dem 1. Weltkrieg, tatsächlich positiv besetzt in Gestalt des New Negro, den es sozial, politisch, kulturell zu schaffen galt. Das große N allerdings musste in jahrelangen Kampagnen erst durchgesetzt werden. Das Wort black – zuvor als beleidigend empfunden (und gemeint) – kam erst Mitte der 1960er mit der Black Power-Bewegung zu stolzen Ehren, gefeiert in Slogans wie: I'm Black And I'm Proud und Black Is Beautiful, selbstbewusst popularisiert durch eine neue Musikindustrie, zum Beispiel Motown Records in Detroit.

Jetzt galt Negro als rückständig bis rassistisch, für manche sozusagen als „politisch unkorrekt“, nachdem der erste schwarze Präsidentschaftskandidat Jesse Jackson 1988 den Begriff African-American propagiert hatte: Black reduziere die Komplexität einer race auf die Hautfarbe, und das sei zu eng. Der Vorteil der neuen Bezeichnung war, dass sie automatisch mit großen Initialen geschrieben wird – im Gegensatz zu black. Der Nachteil: Auch in African hallte das Trauma der Verschleppung und Versklavung nach, die Betonung des Afrikanischen verführte manche zu einem romantischen Afrikabild und schloss Menschen aus, die nicht direkt aus Afrika in die USA verschleppt wurden, sondern über den (generationalen) „Umweg“ aus Mittel- und Südamerika.

In den aktuellen Gefechten um das kleine oder das große B – inzwischen bekennen sich auch meinungsmachende „weiße“ Medien wie die New York Times zur Großschreibung, McWhorter aber zum Beispiel nicht – lebt ein bisschen von der Debatte um Afro- oder African-American wieder auf: Die Anrede mit einem groß geschriebenen Wort bedeutet eine gefühlte Aufwertung, Black wird als respektvoller wahrgenommen als black. Das ist logisch in einer Sprache, die prinzipiell alles klein schreibt, auch Nomina, und nur geographische Begriffe, Institutionen, Eigennamen oder besonders betonte Dinge durch große Initiale markiert. Müsste man hierzulande – zum Beispiel beim Übersetzen englischer Texte – nicht erstmal wissen, wie wann warum welche Wörter als „gut“ und welche als „böse“ angesehen wurden? Zum Beispiel, um nicht auf falsche Freunde reinzufallen und den englischen, speziell US-amerikanischen Negro mit einem Wort einzudeutschen, das sich auf Schornsteinfeger reimt1? Um nicht tone-deaf dafür zu sein, dass dieses Wort im Deutschen nie neutral, sondern immer rassistisch getönt war und ist? Und wäre es dann nicht auch wichtig zu bedenken, dass Nomina in der deutschen Sprache prinzipiell groß geschrieben werden, Adjektive dagegen klein? Welcher Respektgewinn wäre eigentlich zu machen, wenn wir, sagen wir, von Schwarzer und nicht von schwarzer Musik schreiben und gleich daneben von den Schwarzen, die sie machen? Gäbe es überhaupt einen Gewinn, und wäre der wirkmächtig genug, um ein ganzes eingespieltes Grammatiksystem aus den Angeln zu heben? Also auch Schreib-, Lese-, Verständnisgewohnheiten zu sprengen?

Das große S beim Adjektiv schwarz wird auch hierzulande derzeit als entscheidendes Kriterium für „sensible Sprache“ gesetzt, quasi wie ein Lackmuspapier für den Säuregrad des Sprachbewusstseins. Als hätten wir beim Übersetzen nicht andauernd mit Fragen der Art Sensibilität zu tun, bei der es darum geht, wie man mit Sprache Politik machen kann. Nur ein scheinbar banales Beispiel, ein schlichter Satz wie: „Migranten bekommen kaum je Bankkredite.“ Man kann ihn auch anders formulieren: „Banken geben kaum je Kredite an Migranten.“ In der ersten Version sind unbemerkt/unbewusst oder womöglich absichtlich die Migranten das Problem – womöglich ist denen ja generell nicht zu trauen … Ein Türöffner für all die Klischees und Vorurteile, die dann im Kopf losgehen können – oder tun. Im zweiten Fall sind die Banken das Problem – und das macht einen ganz anderen Raum auf.

Es gibt viele solcher Beispiele – sagt man Einwanderung oder Zuwanderung? Wessen Aussage gibt man konjunktivisch oder als Indikativzitat wieder? Ist es wirklich sinnvoll, Menschen, die angefahren, angegriffen, beleidigt wurden, immer „Opfer“ zu nennen? Würde man die Festschreibung eines momentanen, situativen Opfer-Status vermeiden, indem man „Betroffene“ schreibt? Oder – wie sich die Berliner Polizei angewöhnt hat – „Geschädigte“? Sollte man in Deutschland lebende Menschen, deren Vorfahren vor ewigen Zeiten mal aus der Türkei kamen, nicht statt Deutschtürken besser Türkdeutsche nennen? Welche Formulierung lenkt den Blick auf was, und was schwimmt dabei im Kielwasser mit?

Lenkt nicht das seltsam laute Geschrei um das „N-Wort“, darum, welche Wunden das Wort, das sich im Englischen auf trigger2 reimt, wem schlägt und ob man es nicht total entfernen muss – aus allen Texten, auch den literarischen, historischen, in denen gerade sein rassistisches Potenzial gezeigt werden soll –, ab vom realen Handeln gegen Rassismus aller Art? Ich persönlich werde immer misstrauisch, wenn etwas besonders laut beschrieben wird – ich vermute immer, dass dabei etwas übertönt oder beschwiegen werden soll, das viel wichtiger wäre. Call me paranoid. Aber der gute alte amerikanisch-jüdische Volksmund weiß ja auch: Just that you're paranoid doesn't mean they're not out to get you!

Also, um welche Sensibilität geht es eigentlich bei der „sensiblen Sprache“, die derzeit zum Beispiel beim Übersetzen verlangt wird? Auch das übrigens drolligerweise mit englischen Begriffen: sensitive writing respektive sensitive reading – Verlage haben anscheinend eher Geld für vorgeschaltete sensitive readers als für anständige Übersetzungshonorare. Was für eine semantische Verengung und Verbiegung, wenn Sprachsensibilität auf artiges Hantieren mit vorgeschriebenen Begriffen hinausliefe! Der nächste Schritt wäre die alljährliche Medaille für „Sprachsensibelstes Übersetzen“, das aber bloß noch Dienst nach Vorschrift ist. Klar, warum nicht – bei den Honoraren? Macht immerhin weniger Arbeit …

Nur, genau um die Arbeit geht es. Übersetzen heißt, immer wieder Entscheidungen zu treffen, begründete nämlich – wie wir eben an dem Textbeispiel gesehen haben. Die Mühe müssen wir uns schon machen, und die macht ja auch Spaß, erweitert den Horizont, schärft den Blick und kühlt den Kopf. Das gilt für alle Sprachen, aus denen und in die wir übersetzen. Aber um die Sache mit dem Übersetzen von „schwarzen Sprachen“ noch richtig schön zu verkomplizieren, hier mein Tipp für alle, die an Streaming-Filme kommen: Schaut euch unbedingt Ahmir „Questlove“ Thompsons Summer of Soul (...Or, When the Revolution Could Not Be Televised) an. Im „schwarzen Schreiben“ steckt viel mehr als „gute“ oder „böse“ Wörter – nämlich auch Elemente wie Musik, Mode, Bewegung, Körpersprache …


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Übersetzen mit Pieke Biermann. Ein Film von Geistesblüten. 2021

Das Titelbild dieses Beitrags ist ein Filmstill aus obigem Video. ©Christian Dunker/Geistesblüten

12.03.2022
Fußnoten
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©Susanne Schleyer/autorenarchiv.de, 2021

Pieke Biermann, geb. 1950, Schriftstellerin (u.a. Berliner Kriminalromane, als „Berlin Quartett“ wiederaufgeflegt bei Aridane) und Übersetzerin (italienisch und englisch, u.a. Stefano Benni, Dorothy Parker, Ben Fountain, Ann Petry, Fran Ross – Preis der Leipziger Buchmesse 2020 für deren Roman „Oreo“). Lebt und arbeitet in Berlin.
Linksammlung „Recherchequellen und Eigenes zum Black American English, zu afroamerikanischer Literatur und zum Übersetzen überhaupt“ von Pieke Biermann bei Babelkat

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