TALKS Berührungsängste Berührungen weitertragen

Berührungen weitertragen

Es war einmal ein Märchenbuch, das erzählte nicht nur Geschichten von den Reichen, Schönen, Hellhäutigen und Heterosexuellen, nein, es gab darin auch Held·innen, auf die all das nicht zutraf oder nicht alles davon, deren Alltag nicht rosarot und rüstungssilbern glänzte, die mit Armut, Gewalt und Krankheiten konfrontiert waren, die nicht in einer heilen Familie aufwuchsen, die, statt eine Karriere als schöne Braut oder heldenhafter Drachentöter anzustreben, ihren eigenen Weg gingen, sich über festgefügte Konventionen hinwegsetzten und herausfanden, welches Leben sich für sie selbst richtig anfühlte.

Die einen freuten sich über diese Märchen: Sie selbst hatten sich in ihrer Kindheit mit den herkömmlichen Märchengestalten nicht so recht identifizieren können, nicht mit den blondgelockten Prinzessinnen, die hübsch gekleidet auf den Ball gehen, um ihren Prinzen zu umgarnen, auch nicht mit Aschenbrödel, das zwar anders ist als die anderen, sich aber am meisten danach sehnt, ihnen gleich zu werden, den Prinzen für sich zu gewinnen und zu ebenso einer Prinzessin zu werden, wie es die anderen schon sind. Auch die Rolle des tapferen Ritters passte nicht zu ihnen, der dem schrecklichen Drachen seine Zukünftige aus den Klauen reißt, um sie zu heiraten und glücklich mit ihr zu leben, wenn sie nicht gestorben sind. Deshalb waren sie froh, dass es nun ein Märchenbuch gab, das mehr Möglichkeiten bereithielt und auch Kinder ansprach, die sich in den alten Märchen nicht wiederfanden, das diesen Kindern zeigte, dass das Leben auf seinem breiten Weg sehr viele verschiedene Möglichkeiten bereithält, einen Platz zu finden und glücklich zu werden. Dies alles tat es nicht um den Preis der Abwertung der altbekannten Identifikationsfiguren, es begegnete ihnen vielmehr mit Wertschätzung, solange sie selbst zu dieser Wertschätzung bereit waren. Intoleranz und gewaltsame Versuche, jemanden gegen seine eigene Persönlichkeit auf Mainstream zu trimmen, kamen in diesen Märchen nicht gut weg.

Andere waren weniger begeistert von diesem Buch. Sie empfanden es als beleidigend und als Angriff auf ihre Werte, dass sich die alten Geschichten in einem neuen, gar nicht schablonenhaften Gewand präsentierten. Sie wollten nicht, dass in einem Märchenbuch unsere heutige Welt aufscheint und hielten Märchen für etwas Statisches, Unveränderliches. Deshalb machten sie lauthals und mit der Macht im Rücken Stimmung gegen dieses neue Märchenbuch. So wurden viele Menschen neugierig auf die Geschichten, und das Märchenbuch ging über die Ladentische wie warme Semmeln.

Die Kunde von diesen Geschehnissen verbreitete sich weit über das Land hinaus, in dem das Buch erschienen war. So kam es, dass man es auch in anderen Sprachen lesen wollte. Und als eine Übersetzerin gefragt wurde, ob sie dieses Buch übersetzen möchte, und ablehnen musste, weil die Frist zu kurz und ein anderer Abgabetermin zu nah waren, tat ihr das sehr leid, denn das Thema liegt ihr am Herzen. Deshalb war sie sehr froh, dass sie eine zweite Chance bekam: Zusammen mit zwei Kolleginnen nämlich sah der Zeitplan machbar aus, und zudem gab der andere Auftraggeber netterweise Aufschub. So kam es zu einer sehr interessanten, abwechslungsreichen, gemeinsamen Arbeit an Märchenland für alle.

Das Buch

Meseország mindenkié [Das Märchenland gehört allen] erschien 2020 im Verlag des Lesbenverbandes Labrisz.1 Dieser Verband wurde 1999 in Budapest gegründet und setzt sich für die Sichtbarkeit und Anerkennung weiblicher sexueller Minderheiten ein. Dazu organisiert er Veranstaltungen, gibt Informationsmaterial und Bücher heraus und hat Handreichungen für Lehrende und Lehrkonzepte zu Leben und Problemen von LGBTQ-Personen für die Oberstufe und Hochschulen erarbeitet. All das dient dem Ziel zu informieren, das weitreichende Schweigen über diese Themen in der Gesellschaft zu durchbrechen und für Akzeptanz der sozialen Diversität einzutreten.

Ein nächster Schritt bestand in einer Ausweitung des Konzepts in zweierlei Hinsicht: In dem Märchenbuch sollte es nicht mehr nur um LGBTQ-Personen gehen, sondern weiter gefasst um Angehörige marginalisierter Gruppen, die sich aus verschiedenen Gründen am Rand der Mehrheitsgesellschaft wiederfinden.2 Dies umfasst vielerlei Aspekte, deretwegen Kinder sich aus ihrer Gruppe ausgegrenzt fühlen können: die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit, Armut, psychisch kranke oder süchtige Eltern, familiäre Gewalt und vieles mehr. Zugleich sollten durch die Form des Märchenbuchs mehr Leser·innen erreicht werden. Begleitend wurden auch hier Handreichungen für die Vermittlung zusammengestellt, diesmal für Grundschule und Kindergarten.

Koordiniert wurde das Projekt von der Frauenrechtsaktivistin Dorottya Rédai, herausgegeben hat es der Kritiker und Übersetzer Boldizsár M. Nagy. Die Auswahl der Verfasser·innen geschah auf zwei Wegen. Zum einen wurden arrivierte Autor·innen angefragt, ob sie Märchen beisteuern wollten, was auch einige3 taten. Zum anderen gab es eine öffentliche Ausschreibung für Verfasser·innen, die nicht professionell schreiben. Aus insgesamt über 100 Einsendungen wählte die Redaktion schließlich 17 Märchen für den Band aus. So sind die Texte im Buch nicht nur durch die verschiedenen Erzählstimmen sehr heterogen, sondern auch durch die unterschiedliche literarische Erfahrung der Verfasser·innen.

Viele der Texte nehmen bekannte europäische und ungarische Märchen oder Mythen auf, denen sie ganz unterschiedlich nah sind, andere erzählen eigene Geschichten und bedienen sich dazu märchenhafter Elemente.

Da ist zum Beispiel die braunhäutige Prinzessin Goldlaub, die sich gern praktisch kleidet und im Freien unterwegs ist, aber zur Prinzessin erzogen werden soll. Sie entkommt ihrem Vater und dessen Rasierspieglein an der Wand und flieht in den Wald zu den sieben Weberinnen, wo der böse König sie vergiftet und der Prinz sie wieder zum Leben erweckt. Alte, arme Menschen finden einen klitzekleinen Jungen und nehmen ihn trotz ihrer Armut bei sich auf. Er entpuppt sich als wunderkräftig, hilft seinen Adoptiveltern aus der Verzweiflung und verschafft ihnen Anerkennung im Dorf, in dem sie wegen ihrer Armut unter Generalverdacht stehen. Ein Mädchen zieht in die Welt, um ihr ganz eigenes Märchen zu erleben, denn die althergebrachten Märchen passen nicht zu ihr; so hat sie die Freiheit, auf völlig unkonventionelle Weise zur Heldin zu werden. Ein kleines Rehmädchen fühlt sich im falschen Fell, es wünscht sich ein Geweih und muss sich mit den sehr unterschiedlichen Reaktionen seines Umfelds auseinandersetzen. Ein Prinz, dem die Kampfkunst nicht liegt, soll eine Prinzessin vom Drachen befreien. Doch diese lebt mit dem Drachen, der alle sich nähernden Ritter programmgemäß verjagt, in Frieden und Eintracht. Auch der Prinz selbst findet bei ihnen seinen Platz und kann dort sich dort so geben, wie er ist. Ein Mädchen lebt mit dem Vater zusammen, der nach dem Tod der Mutter dem Alkohol verfallen ist. Als in ihrer Schule ein Ball stattfindet, schafft sie sich aus eigener Kraft ein Ballkleid und wird zur Ballkönigin gewählt. Ein armes und ein reiches Mädchen stellen fest, dass sie sich erstaunlich ähnlich sehen, tauschen die Rollen und können zusammen Gutes bewirken. Ein Häschen mit drei Ohren wird zuerst misstrauisch beäugt und abgelehnt, aber dann lernen die anderen Tiere es doch zu schätzen. Ein Junge, den niemand so recht zur Kenntnis nimmt, entdeckt zu Hause ein Geheimnis: die Geschichte seiner Familie. Mit ihrer Hilfe kann er seinen Großvater aus der Lethargie locken und ganz besondere Fertigkeiten lernen. Ein Roma-Junge bleibt nach dem Tod seiner Eltern bei seiner hellhäutigen Stiefmutter und ihren Söhnen. Diese werden auf einen Ball eingeladen, aber er darf nicht mit, weil er angeblich nichts anzuziehen hat. Mit Hilfe zauberkräftiger Kieselsteine gelingt es ihm doch, auf den Ball zu kommen und die Zuneigung des Gastgebers zu gewinnen.

Nicht nur die Held·innen sind ungewohnt, auch der Ausgang der Märchen entspricht nicht in jedem Fall den Vorlagen. So kann das Happy End in der Loslösung aus einer toxischen Lebenssituation bestehen: Däumelinchen hat sich diesmal in einen narzisstischen Prinzen verliebt und ihn geheiratet. Zuerst versucht sie, sich die Beziehung schönzureden, aber das geht nicht lange gut, und schließlich hilft ihr die Schwalbe auch diesmal hinaus, allerdings mit der Mahnung, Däumelinchen müsse nun endlich lernen, sich selbst zu helfen!

Nach Erscheinen des Buches kam es zu einer emotional geführten Diskussion in der ungarischen Öffentlichkeit. Kritische Stimmen richteten sich vor allem dagegen, dass einige der Held·innen homosexuell oder trans sind. Obwohl solche Figuren nur in einem kleinen Teil der Märchen vorkommen und auch andere gesellschaftliche Randgruppen in den Mittelpunkt gerückt werden, wurde das Buch nun vor allem als LGTBQ-Buch wahrgenommen.

Eine Parlamentsabgeordnete der nationalistischen Mi-Hazánk-Bewegung riss auf einer Pressekonferenz Seiten aus dem Buch und schredderte sie. Dieses Verhalten weckte natürlich die Erinnerung an Büchervernichtungen im 20. Jahrhundert und löste im In- und Ausland Proteste aus.

Ein etwas später, im Sommer 2021, verabschiedetes Gesetz verbietet Informationen über Homosexualität und Transsexualität für unter 18-Jährige. Bücher und Datenträger mit derartigen Inhalten müssen mit Warnhinweisen versehen werden.4

All diese Entwicklungen haben zur Sichtbarkeit der Thematik in der ungarischen Öffentlichkeit beigetragen. Das Märchenbuch wurde zum Bestseller, und die TIME nahm Dorottya Rédai in die Liste der 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2021 auf.

Das Projekt

Neu war für mich das Übersetzen zu dritt, hier zusammen mit Tünde Malomvölgyi und Timea Tankó. Wir haben übersetzt und uns gegenseitig lektoriert, ohne eine Person, die die Arbeiten koordiniert und der jede Übersetzerin einzeln zuarbeitet, wie es sonst bei Anthologien und Sammelbänden häufig der Fall ist. So ein Buch aus mehreren Einzeltexten, zudem von verschiedenen Verfasser·innen, eignet sich natürlich gut dafür, im Team übersetzt zu werden. Nach einer ersten Lektüre konnten wir die Texte leicht untereinander aufteilen, so dass ein Märchen jeweils von einer von uns übersetzt und von einer anderen lektoriert wurde. Trotzdem gab es am Anfang eine Absprache über Fragen des Sprachgebrauchs, beispielsweise über den Umgang mit Namen und über die Entscheidung für das Präteritum als Erzähltempus, auch wenn auf Ungarisch in Erzähltexten Gegenwarts- und Vergangenheitsformen nach anderen Regeln wechseln können als im Deutschen. Beim Lektorieren arbeiteten Übersetzerin und Lektorin des jeweiligen Märchens zusammen, und zum Schluss tauschten wir uns zu dritt noch einmal über schwierige Stellen aus und fanden abschließende Lösungen. Insgesamt eine sehr inspirierende Erfahrung.

Die Übersetzung

Berührungsängste oder vielleicht eher Skrupel kenne ich bei Entscheidungen, die ich als Übersetzerin zu treffen habe, von denen ich aber weiß, dass sie anfechtbar sind, dass ein·e Kolleg·in vielleicht anders entscheiden würde. Zu meiner Beruhigung bin ich damit nicht allein.5 Ich halte solche Bedenken beim Übersetzen für sehr hilfreich, weil sie hoffentlich einen Schutz gegen vorschnelle Lösungen bieten, dazu führen, dass ich mich immer wieder hinterfrage, mir selbst misstraue.

Berührungen finden beim Übersetzen in zwei Richtungen statt und können auch in beide Richtungen mit Sorgen und Hemmungen verbunden sein. Woran wage ich zu rühren, aber auch: Wie sehr möchte ich mich von einem Text berühren lassen? Wobei das nicht immer von mir abhängt, manchmal nimmt sich der Text diese Berührung von selbst, taucht plötzlich in ganz anderen Kontexten auf, präsentiert mögliche Lösungen. Der Text muss mich berühren dürfen, ich muss mich auf ihn einlassen, damit ich ihn übersetzen kann. Mit Tanja Handels’ Worten: „Hingabe an den Text“.6 Wenn ich in den Text hineingeschlüpft bin, ihn mir sprachlich übergezogen habe, steigt übrigens auch der Entscheidungsmut.

Das ist bei mehreren sehr unterschiedlichen Texten in rascher Abfolge gar nicht immer einfach. Was, wenn ein Text sich sperrt? Dann muss ich ihn umgarnen, ihn berühren, einen Anfang finden, wie es Olga Radetzkaja so schön beschreibt: „Ob ich einen Zugang finde, die richtige Stelle für Absprung und Landung, entscheidet sich an einem Rhythmus, der mir plötzlich in die Satzglieder fährt, einer Verbindung von Schwere und Leichtigkeit, Hitze und Kälte, die mir vage vertraut ist, einer aufblitzenden Freude, die ich im Hinterkopf spüre, einem Gelächter oder unterdrückten Stöhnen, das mir in der Kehle kratzt und mich – auf Ideen bringt.“7 Manchmal braucht es mehrere Anläufe, bis dieser Rhythmus sich endlich einstellen will. Gelegentlich deshalb, weil ein anderer Text noch nicht loslässt, weil sein Rhythmus immer noch da ist, sich in die Sätze schleicht.

Zu den rein sprachlichen Entscheidungen kam hier noch hinzu, dass über dieses Buch schon so vieles gesagt und geschrieben worden war, es schon so viel in Bewegung gesetzt hatte. Diese Gedanken kamen natürlich gleich bei der ersten Anfrage. Mir war sofort klar, dass ich unbedingt dazu beitragen möchte, es „über die Sprachgrenze zu führen“.8 Weil es mir wichtig ist, dass nicht nur über das Buch berichtet, sondern dass es auch gelesen wird. Wichtig für die deutschen Leser·innen, denn zwar gibt es im deutschen Sprachgebiet – anders als in Ungarn, wo dieses Buch auch deshalb so viel Staub aufgewirbelt hat, weil es eben das erste seiner Art war – schon länger Kinderbücher mit ungewöhnlichen Charakteren, aber auch unsere Gesellschaft ist ja von allgemeiner Akzeptanz noch weit entfernt. Wichtig ist die Übersetzung aber auch für die ungarische Öffentlichkeit als Zeichen des Interesses und der Unterstützung.

Nicht zuletzt ist mir die Sichtbarkeit und Akzeptanz marginalisierter Gruppen ein persönliches Anliegen. Wenn ich dazu beitragen kann, dass Kindern mehr und andere Möglichkeiten geboten werden, sich mit literarischen Figuren auf positive Weise zu identifizieren, tue ich das sehr gern, denn das gibt ihnen Kraft und Sicherheit, und die wünsche ich jedem Kind.

Trotzdem standen diese Überlegungen und auch die mit ihnen verbundenen Erwartungen wie eine Mauer vor den Texten. Würde ich all das ablegen und mich unvoreingenommen in die Märchen vertiefen können? Ist das überhaupt nötig?

Beim Übersetzen erwies sich, dass die Texte selbst bei der Antwort auf diese Fragen ein Wörtchen mitredeten. Einige kamen mit einer sehr starken Stimme und Präsenz daher, schufen eine eigene Welt und ließen äußere Erwägungen in den Hintergrund treten. Andere sprachen in weniger markantem Ton und mit mehr politischem Sendungsbewusstsein. So vielfältig wie die Verfasser·innen sind natürlich auch die Erzählweisen in den Märchen: Im Märchen von der Hexe von István Lakatos trägt eine sehr nüchterne Stimme in aller Schlichtheit Gruseliges vor, die Erzählweise von Andrea Tompa in Eisenlaci ist an Siebenbürger Volksmärchen angelehnt und kam schließlich in einem etwas archaisierenden, ziemlich floskel- und formelreichen Ton im Deutschen an, wobei sie unterwegs leider ihren dialektalen Einschlag ablegen musste, und Zoltán Csehy erzählt in Wie der Prinz die Ehe schloss ein in Prosa geschriebenes Kinderbuch in Versform nach.

Jede dieser Stimmen verlangte volle Aufmerksamkeit. Das zeigte sich bei dem Versuch, das Übersetzen und Lektorieren zu verschränken (die Frist war knapp): Die Texte fingen an, durcheinanderzureden und sich ins Wort zu fallen, bis ich den einen nicht mehr ohne den anderen hören konnte, sodass ich mich entschied, sie mir nacheinander vorzunehmen.

Die Märchen verweisen auf allgemein bekannte Erzählungen, und zwar auf Deutsch und auf Ungarisch auf ziemlich ähnliche Weise, wobei meiner Wahrnehmung nach Märchen heute in Ungarn präsenter sind als im deutschen Sprachraum, was bedeutet, dass Anspielungen auf den europäischen Märchenschatz wie auf international bekannte Erzählungen weniger eindeutig sein müssen, um verstanden zu werden. Auch kommen andere formelhafte Wendungen zum Einsatz. Wenn ein ungarisches Märchen mit „hol volt, hol nem volt“ beginnt, dann entspricht das situativ unserem „es war einmal“, enthält aber auch noch die Opposition „war <> war nicht“. „Es war einmal“ bedeutet, den Text zu den Leser·innen zu tragen; die etwas eigenwillige Lösung „es war einmal, es war keinmal“ signalisiert den vertrauten Märchenanfang, lässt aber zugleich ein wenig Fremdheit darin, eine sehr leichte Stupsberührung sozusagen.

Gedichte bilden natürlich eine ganz eigene Herausforderung für das Übersetzen. Im letzten Märchen des Bandes erzählt Zoltán Csehy das niederländische Kinderbuch Koning & Koning9 in Versform nach. Eine alte Königin möchte sich zur Ruhe setzen, doch damit der Prinz regieren kann, muss er heiraten. Zahllose Prinzessinnen stellen sich vor, aber keine sagt ihm so richtig zu. Bis die allerletzte, blonde, hübsche Prinzessin hereinkommt. Der Prinz entbrennt in Liebe – zu ihrem sie begleitenden Bruder. Verserzählungen haben in Ungarn eine lange und lebendige Tradition10, ebenso die Nachdichtung von Prosavorlagen in Versform; ein Märchen in Gedichtform ist also weniger ungewöhnlich als bei uns. Csehy hat ein leichtes, lockeres Gedicht nach Art des Bänkelsangs geschrieben. Es besteht aus gereimten Strophen mit einem festen trochäischen Rhythmus.

Beim Übersetzen von Gedichten, scheint mir, hat man sich regelmäßig zwischen der Treue zum Rhythmus, zum Reim und zum Inhalt zu entscheiden, und welchem von ihnen ich den Vorrang lasse, gewichte ich bei jedem zu übersetzenden Gedicht neu, sehr häufig aber in der hier genannten Reihenfolge. Die Metrik ist für mich ein integraler und wichtiger Bestandteil eines Gedichts: Auch mit dem Metrum sagt ja ein Text etwas aus. Deshalb vermeide ich es nach Möglichkeit, ein rhythmisches Gedicht in eine ungebundene Form zu übersetzen.

Überhaupt der Rhythmus. Ungarische Wörter sind auf der ersten Silbe betont, was dazu führt, dass sehr häufig trochäische Metren vorkommen.11 Deshalb entfuhr mir beim ersten Blick auf den Text auch ein stummer Seufzer über erstsilbenbetonende Sprachen, aber den Trochäus wollte ich auf keinen Fall kampflos aufgeben, wenn mir auch die Möglichkeit, in jambische Verse zu wechseln, als Notlösung im Hinterkopf herumspukte. Meine Sorge war jedoch unbegründet, denn nachdem ich das Gedicht laut gelesen und mich auf seinen Rhythmus eingelassen hatte, sind mir gleich ein paar Zeilen eingefallen. Erst ein paar Tage und Strophen später haben mir die eigenartigen Reimwörter, die sich mir aufdrängten, in Erinnerung gebracht, dass ich diesen Rhythmus aus einem Kinderbuch kenne12, das ebenfalls in leichtem Ton eine witzige Geschichte erzählt. Das Schema war also erstaunlich vertraut, das hat das Nachbilden mit Sicherheit leichter und entspannter gemacht. Romanzenvers, habe ich dann nachgeschlagen. Der Rhythmus ist wichtig, er trägt die Erzählung (und hält, wenn er stark genug aufgebaut wird, sogar manche kleine Ungenauigkeit aus).

Auch Reimstrukturen behalte ich nach Möglichkeit bei. Ungarisch stellt an Reime nicht so hohe Anforderungen wie Deutsch, Csehy handhabt sie ebenfalls etwas locker, und so stehen einige Reime in der deutschen Übersetzung auf der Skala zwischen Reim und Assonanz eher der letzteren nahe, bringen aber hoffentlich trotzdem noch ausreichend Struktur in den Text.

Bei der Worttreue des Inhalts habe ich mir etwas mehr Freiheiten genommen, habe nicht nur be-, sondern ab und an auch etwas verrührt. Die dramatische Struktur musste bestehen bleiben, was zusammen mit der Rücksicht auf Rhythmus und Reim teilweise dazu geführt hat, dass sich die Ausfütterung dieser Struktur etwas verschob, ungefähr so, wie es Judith Zander beschreibt: „[M]an verlegt sich, falls überhaupt möglich, auf eine Nachbildung, bei der das Originalgedicht dann nur noch Pate steht. Und im Zweifelsfall bin ich immer für die Nachdichtung anstelle wortgetreuer Übersetzung, was aber heißt, dass die Übersetzerin keine Bedenken haben darf, sich die Finger schmutzig zu machen, denn es muss dabei mit den bloßen Händen in der Erde gewühlt werden, um bei dieser Entwurzelung und Verpflanzung trotzdem das nötige Fingerspitzengefühl zu behalten, die feinen Würzelchen nicht rabiat abzubrechen. Vereinfachung und Verluste sind ohnehin fast unvermeidbar, schon allein, weil bei der Übersetzung oft, aus grammatischen und semantischen Gründen, etwas entschieden werden muss, das im Original unentschieden bleiben kann.“13

Damit eine solche grammatisch erforderliche Entscheidung nicht die Pointe zerstört, ist es an einer Stelle zu einer sogar ziemlich freien Nachempfindung gekommen. Als der Prinz schon fast das Handtuch werfen will, was er nur wegen des strengen Blicks der Mutter unterlässt, betritt die letzte Kandidatin, eine junge, bildhübsche, blondgelockte Prinzessin in Begleitung ihres Bruders den Saal, und es heißt:

„Szívem lángja, mint a mályva,
ő lesz az én kedvesem,
azt se tudtam, mi fán terem
a legforróbb szerelem!”

Flamme meines Herzens, wie die Malve, er/sie wird mein/meine Liebster/Liebste sein, ich wusste gar nicht, was so eine überaus heiße Liebe ist!

Die Zeilen heißen jetzt:

„Ach, mir steht das Herz in Flammen,
ich bin völlig aus dem Lot!
Nie empfand ich solche Liebe!“,
rief der Prinz und wurde rot.

Auf Ungarisch gibt es kein grammatisches Geschlecht, wenn jemand jemanden als „kedvesem“ bezeichnet, kann das die oder der Liebste sein. Die ungarischen Leser·innen werden also auf den Holzweg gelockt, dass der Prinz von der als „blondgelockt und lieblich“ eingeführten Prinzessin so hingerissen ist. Die Begeisterungsbekundungen werden immer dramatischer, bis sich zehn Zeilen später die beiden Prinzen verliebt in die Arme sinken.

Csehys Gedicht zeichnet sich außer Rhythmus und Reim noch durch die Leichtigkeit der Redeweise und ein gewisses Augenzwinkern aus, die ich natürlich gern weitergeben wollte. Gerade wegen dieses „dramaturgischen“ Übersetzens haben sich einige Strophen erst nach zahlreichen, sehr unterschiedlichen Anläufen ergeben. Wenn ich sie jetzt lese, klingen immer die vielen Ansätze mit, Rhythmus und Reim mit passenden Wörtern zu füllen, alle Versuche, alle verworfenen Ideen. Ob sich beim Lesen ein Gefühl der Leichtigkeit einstellt, ob die Erzählung die Leser·innen der Übersetzung auf diese Weise berührt, müssen andere beurteilen.

Übersetzen ist auch, sich vom Original berühren zu lassen und diese Berührung zu den Leser·innen zu tragen.

16.03.2022
Fußnoten
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PDF

Christina Kunze ©Clara Manfrin

Christina Kunze, geboren 1971 in Berlin, studierte in Berlin und Budapest Hungarologie und Klassische Philologie. Seit 1998 übersetzt sie Literatur und Sachtexte aus dem Ungarischen. Zu ihren Autor·innen gehören Sándor Márai, Melchior Palágyi, Kriszta Bódis, László Végel und Edina Szvoren.

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