TALKS Staying alive Ein Frauenporträt in der Restauratorinnenwerkstatt
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Ein Frauenporträt in der Restauratorinnenwerkstatt

Zur Neuübersetzung von Honoré de Balzacs Cousine Bette

Adolph Menzels 1846 entstandenes Gemälde Die Störung zeigt zwei musizierende Frauen, die, unsanft aus ihrer biedermeierlichen Behaglichkeit gerissen, zur Tür und der aus der Außenwelt eintretenden Unterbrechung blicken. Die Szene des bedeutenden realistischen Beobachters ist heute in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, einem der ältesten Museumsbauten Deutschlands, zu sehen: So wie Menzel sie einst gemalt hatte, um eine natürliche, hin und wieder vorsichtig gereinigte Patina und minimale Retuschen aus verschiedenen Zeitschichten reicher. Die Wirkung auf die heutigen Betrachtenden scheint in ihrer Unmittelbarkeit kaum getrübt. Auch der Rahmen, ein Element, für das meist die Galeristen oder ersten Käufer, nicht der Künstler selbst, die Verantwortung tragen, stammt in diesem Fall aus dem 19. Jahrhundert und unterstützt diskret die Bildaussage, ohne sie ausdrücklich zu aktualisieren.

Adolph Menzel: Die Störung (1846)

 

Balzacs farbenprächtiges Gesellschaftstableau Cousine Bette1, eines seiner letzten Werke, erschien im gleichen Jahr wie Menzels Gemälde: 1846 zunächst als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung Le Constitutionnel, Anfang 1847 dann auch in Buchform. Der damals durchaus übliche kapitelweise Abdruck in einem schnelllebigen Medium sorgte für eine unmittelbare, dynamische Rezeption. Im Oktober 1846 erreichte Balzac ein geharnischter Leserbrief, in dem moniert wurde, dass ein verdienter Held der napoleonischen Armee im Roman Forzheim heiße, was den erbosten Verfasser – offenbar ein mit dem Deutschen nicht ganz unvertrauter Zeitgenosse - an Furzheim denken lasse. Balzac nimmt sich die Zeit, dem Herrn mit höflicher Ironie mehrfach zu antworten und richtigzustellen, dass es ihm nicht um eine despektierliche Namensgebung, sondern vielmehr um eine toponymische Anspielung gegangen sei.

Wenn wir heute eine edel aufgemachte Klassikerausgabe in der Hand halten, wird sie von einer ungleich größeren Ehrfurcht umweht: Mit dem Leineneinband, ja allein mit dem Label als Klassiker geht eine Überhöhung einher, die zum Beispiel im Falle der Balzac’schen Cousine von der ursprünglichen Rezeptionssituation kaum noch etwas vermittelt. Doch es gibt Möglichkeiten, deren Lebendigkeit auch heute noch erfahrbar zu machen – mir zum Beispiel war es ein Anliegen, im Anhang einen Teil der damaligen Lebenswirklichkeit spürbar werden zu lassen: keine philologisch trockenen Anmerkungen zu verfassen, sondern solche, die kleine Geschichten in der großen erzählen, den üppigen Kosmos Balzacs anhand inzwischen vergessener Realien nachzeichnen, mithilfe von Gegenständen wie Tugenddolch, Blankscheit oder Möbelstücken, die Balzac persönlich sehr geschätzt und literarisch eingehend beschrieben hat; Anmerkungen, die Querverweise zum eindrucksvollen Figurenreigen der Comédie humaine herstellen.

Die spezifische Balzac‘sche Übersetzungsgeschichte sorgt dafür, dass die deutschen Betrachtenden seine Cousine Bette zwangsläufig mit einer mittlerweile hundertjährigen Sprachpatina vor Augen haben. Noch immer gelten die Insel-Ausgabe (1908-11), vor allem aber die sogenannte Hamburger Ausgabe (Rowohlt, ab 1923) als deutsche Standardfassungen. Der Schriftsteller und Philologe Arthur Schurig (1870-1929) hatte Tante Lisbeth für den Inselverlag übersetzt (Aufbau veröffentlichte 1959 eine leicht adaptierte Fassung). Paul Zech, ein expressionistischer Lyriker, der neben Erzählungen und Essays freie Nachdichtungen von Arthur Rimbaud, François Villon oder Louise Labé verfasste, lieferte Rowohlt 1923 seine, noch heute wohl meistgelesene, vom Diogenes-Verlag später „überarbeitete und vervollständigte“ Version der Tante Lisbeth. Wie Übermalungen von dritter Hand haben sich im Laufe der Jahre die beiden Übertragungen über das Original gelegt. Wie kommuniziert man als Übersetzer·in mit diesen Stimmen, die sich früher oder später in den Dialog mit dem Original einmischen? Wie trägt man die Schichten ab, um das Original wieder in der vermuteten „alten Frische“ erstrahlen zu lassen? Ja, zählt auch diese künstliche Patina, wie nach modernen Restaurierungskriterien, mit zum Original, weil sie die Objektgeschichte dokumentiert?

Meiner Meinung nach tut sie das in einem Fall wie dem der Cousine Bette tatsächlich. Jede Neuübersetzung hat ein anderes Verhältnis zu den eingangs erwähnten Retuschen aus unterschiedlichen Zeitschichten, zu ihren Vorgängerfassungen, denn natürlich kommt es darauf an, wie maßgeblich diese Zwischenstimmen sind, wie dominant auf dem deutschen Buchmarkt. Füge ich mich mit meiner neuen Version in eine Polyphonie ein oder singe ich gegen eine Monopolstellung an? Wenn eine Übersetzung so langlebig ist wie die nach wie vor bei Diogenes lieferbare Tante Lisbeth, legt sie sich fast wie eine vom Originalfirnis kaum noch zu unterscheidende zweite Haut über das Ursprungswerk.

Werfen wir einen kurzen Blick in die Restaurator·innenwerkstatt. Hat man es dort mit Übermalungen zu tun, sind es entweder vom Künstler oder der Künstlerin intendierte, die zum Schaffensprozess gehören und wörtlich Reuestriche (Pentimenti) heißen, oder aber großflächige Übermalungen früherer, wenig reumütiger Restaurator·innen, die einem anderen Zeitgeschmack entsprechen. Dabei stimmen oft die Zusammensetzung des Malmittels und die Farbwahl nicht überein, das Kunstwerk verliert an Intensität, oft wird sogar der Alterungsprozess beschleunigt. Um die Übermalungen abzutragen, muss die oberste Farbschicht mit einem Skalpell entfernt werden, damit der darunter liegende Firnis, die originale, transparente Schutzschicht, erhalten bleibt: Sie konserviert das Gemälde und lässt die ursprünglichen Farben leuchten.

Als dritte Restauratorin im Übersetzer·innenbunde war es mir ein Anliegen, die Linienführungen des Originals zunächst mit einem frischen, zeitgemäßen Pinselstrich nachzuzeichnen und Balzacs Bildgedanken nach meinem Verständnis herauszuarbeiten. Dann aber musste und wollte ich sehen, wo meine Vorgänger Paul Zech und Arthur Schurig besonders einfallsreiche Glanzpunkte gesetzt, möglicherweise Leerstellen gelassen oder allzu pastose Farbaufträge vorgenommen hatten. Vor allem Paul Zech hat alles für eine gute Lesbarkeit getan, Sätze gekürzt und zusammengefasst, Un- oder Missverständliches weggelassen und nahezu alle Anspielungen auf historische Ereignisse und Persönlichkeiten getilgt. Fast jedes Mal, wenn ich an einer besonders hermetischen Passage des Originals hilfesuchend zu Zechs oder Schurigs Tante Lisbeth griff, fehlte dort die entsprechende Stelle. Dennoch oder gerade deshalb hatte ich den Eindruck einer unmittelbar ansprechenden Oberflächengestaltung: glatt und schmeichelnd, farbenfroh, ohne Risse und Dellen, alles in allem sehr gut konsumierbar. Sobald ich sachte mit dem Skalpell zu kratzen begänne, würde sich eine ganz andere Farbigkeit ergeben, die auf den ersten Blick differenzierter und verhaltener wirken würde, so wie Vermeers berühmte Briefleserin erst nach ihrer Restaurierung wieder die für den Maler charakteristischen Blau- und Grüntöne zurückgewann. Der Versuch größtmöglicher Genauigkeit, das hoffen Restaurierende wie Übersetzende, bietet vielleicht den besten Schutz gegen eine vorzeitige Alterung. Ich wollte Balzacs hochpräzise Beschreibungen in extenso sichtbar machen, unverständlich scheinende Anspielungen auflösen, Realien abstauben und aufpolieren, das fulminante Vorhaben kosmischen Ausmaßes auch in seiner Widerständigkeit nicht beschneiden. Bei Balzac ist es Programm, dass sich das Allgemeine im Besonderen, das Große im Kleinen spiegelt, die Naturgesetze in denen der Gesellschaft und die Physiognomien der Besitzer in ihrer Einrichtung. Dieses Vorhaben entrollt sich konsequent aus seiner verschachtelten Syntax, die nicht nur bloße Satzgliederung ist, sondern eine ganze Weltsicht widerspiegelt. Ich wollte diese strukturellen Vorzeichnungen freilegen, wollte kitten und retuschieren, wo Fehlstellen von Zech und Schurig mit eigenen Zusätzen großflächig übermalt worden waren. Die neu entstandene Tonalität ist – natürlich - eine andere.

Schauen wir kurz, wie sich die unterschiedliche Gestaltung der Syntax an einem, hier dem allerersten Satz auswirkt:

Vers le milieu du mois de juillet de l’année 1838, une de ces voitures nouvellement mises en
circulation sur les places de Paris et nommées des milords, cheminait, rue de l’Université, portant un gros homme de taille moyenne, en uniforme de capitaine de la garde nationale.

Bei Paul Zech wurde daraus:

Man schrieb das Jahr 1838, als die Milords, jene entzückenden leichten Wagen, zuerst auf den Straßen von Paris gesehen wurden. Mitte Juli dieses Jahres fuhr ein beleibter Herr von mittlerem Wuchs, eingezwängt in die Uniform eines Hauptmanns von der Nationalgarde, mit einem dieser Milords durch die Rue de l’Université.

In der Neuübersetzung heißt es nun:

Um die Mitte des Monats Juli 1838 fuhr eine jener unlängst auf den Pariser Straßen in Betrieb genommenen, Mylords genannten Kutschen durch die Rue de l’Université und beförderte einen dicken Mann mittlerer Größe in der Uniform eines Hauptmanns der Nationalgarde.

Zech erleichtert seinen Leser·innen den Einstieg, nötigt sie dabei aber sofort in die Kutsche, die zwar im Original grammatisches Satzsubjekt, nicht aber Romansujet ist. Die Zeitangabe wird auseinandergerissen, das Jahr im ersten, der Monat im zweiten Satz untergebracht, und die stilistische Wirkung ist die einer präzisen, aber spröden Reiseführerprosa. Möchte Balzac uns mit seinem Satz wirklich nur in die Rue de l’Université mitnehmen? Oder will er uns einen Blick auf ein neuartiges Gefährt werfen lassen, das mit seinem Namen ironisch den lordartig-huldvoll in die Menge lächelnden, ebenso neuartigen und zeittypischen Insassen spiegelt? Das uns von außen (Ort, Datum, Stadt, Straße) immer weiter nach innen (Person, Körperbau, Kleidung, gesellschaftliche Stellung) transportiert?

Arthur Schurig war Paul Zech um drei Jahre voraus, seine Übersetzung stammt von 1909. Er verfährt im Allgemeinen treuer als Zech, streicht weniger großzügig und liefert seinem Nachfolger Passagen, die dieser hin und wieder wortwörtlich übernimmt. Gelegentlich prägt er ein Wort, das auch ich in meine Palette aufnehme, wie zum Beispiel den bildhaften „Mondscheinblassen“ – kleine Tupfer aus dem Zwiegespräch mit den Vorgängern, die den originalgetreuen Charakter ihrer Übersetzungen versteckt anklingen lassen. In einem Punkt allerdings tragen beide so dick auf, dass ich mit dem Skalpell ganze Verkrustungen abtragen möchte: Ihnen entgleist regelmäßig der Pinsel bei der Gestaltung des Frauenbildes.

Balzacs gewiss ambivalentes, dennoch aber reflektiertes Frauenbild, in dem sich Glanz und Elend spiegeln, gerät Arthur Schurig und Paul Zech zu einer Karikatur, für die sie mit spürbarer Lust einen einzigen Farbtopf bemühen. Sobald es pejorative Synonyme für ein schlichtes „femme“ zu finden gilt, scheint der Fantasie der beiden Schwarzmaler von „Weib“, über „Dirne“ bis hin zu „Intrigantin“ und „Satan“ keine Grenzen gesetzt zu sein, und „eine Frau aus dem niederen Stand“ wird unversehens schon mal zum „Flittchen“. Beim folgenden Satz will sich einem aus heutiger Perspektive nicht erschließen, weshalb Paul Zech zusätzlich noch Teufel und Netz bemüht, dafür aber die Balzac’sche Ironie übertüncht, einzig der Baron sei davon überzeugt, allein auf weiter, amouröser Flur zu sein, während wir als Leser·innen doch längst um seine zahlreichen Rivalen wissen:

Le baron remonta chez madame Marneffe le visage rayonnant, et convaincu d’être le seul homme aimé de cette affreuse courtisane, aussi décevante, mais aussi belle, aussi gracieuse qu’une sirène.

Strahlenden Gesichtes stieg der Baron wieder zu Madame Marneffe hinauf und frohlockte, der einzige Geliebte dieser abscheulichen Kurtisane zu sein, die ebenso betrügerisch war wie schön und anmutig und gleich einer Sirene noch den Teufel in ihr Netz lockte.2

In der Neuübersetzung lautet diese Stelle schlicht:

Der Baron strahlte über das ganze Gesicht und ging wieder zu Madame Marneffe hinauf, überzeugt, als einziger Mann von jener abscheulichen Kurtisane geliebt zu werden, die so trügerisch, aber auch so schön und anmutig war wie eine Sirene.

Immer wieder schlagen sich die beiden Übersetzer merklich auf die Seite des seine Privilegien hütenden, bürgerlichen Ehemannes: Aus der einfachen „fonction“ des Teeservierens macht Zech eine biedere „Hausfrauenpflicht“3, wo der treulose Ehemann im Original von seiner Gattin „mit Liebe verwöhnt“ wird, rechtfertigt Schurig seinen Fehltritt, da er „vor Liebe halb erstickt“4 werde. Die ergebene Frau mit dem Teetablett, die es indes mit ihrer erstickenden Zuneigung zu weit und den armen Gatten aus dem langweiligen Ehebett treibt? Es ließen sich noch unzählige weiterer solcher Stellen anführen, doch ich will nicht meinerseits zu weit aus dem Bild ausbrechen.   Nur vorsichtig restaurieren, nach Möglichkeit den ursprünglichen Firnis freilegen, aber auch die künstliche Patina, die sich im Laufe der Übersetzungsgeschichte gebildet hat, mitdenken und zu bedenken geben. Wer vor Menzels Genreszene steht, hat ein natürlich gealtertes Bild vor Augen. Auch die Leser·innen von Balzacs Cousine Bette dürfen dieses Sittengemälde ohne vorzeitige Alterung aus der Restaurator·innenwerkstatt zurückerwarten.

Am 22.09.22 sprach Nicola Denis im Rahmen der Nacht der Übersetzung in der Berliner Maison de France mit Olga Radetzkaja über ihre Neuübersetzung.

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19.09.2022
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©Annette Hauschild

Nicola Denis, 1972 im niedersächsischen Celle geboren. Nach einem Sprachaufenthalt in Paris 1991/1992 Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik in Köln. Auf die Magisterarbeit zu verschiedenen Übersetzungen von Molières Misanthrope 1997 folgte 2001 die Promotion mit einer komparatistischen Arbeit zur Übersetzungsgeschichte: Tartuffe in Deutschland (LIT Verlag 2002). Seit 1995 lebt Nicola Denis zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Westfrankreich. Seit 2002 ist sie hauptberuflich als Literaturübersetzerin aus dem Französischen mit den Schwerpunkten Belletristik, Essay und Kunstgeschichte tätig. Sie ist Mitglied der BücherFrauen, des Freundeskreises Literaturübersetzer·innen e.V. und des VdÜ. Vom Deutschen Übersetzerfonds wurde sie mit zahlreichen Arbeitsstipendien und zwei Exzellenzstipendien ausgezeichnet. 2021 erhielt sie für ihr übersetzerisches Gesamtwerk den Prix lémanique de la traduction. Im August 2022 erscheint bei Klett-Cotta ihr literarisches Debüt Die Tanten.

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