Juchhei Kulturgeierei – ein Bekenntnis oder besser zwei
Allerdings hatte sie diese unbekümmerte Art,
sich diverse Sitten und Gebräuche fremder Kulturen
anzueignen, als hätte sie die gesamte Erdkugel kolonialisiert.
Verena Rossbacher, „Mon Chéri und unsere demolierten Seelen“
Wie umgehen mit einer Berührungsangst, die ich erst seit Kurzem verspüre? Seit der Begriff „Kulturelle Aneignung“ derart wahllos für alle möglichen Formen der Annäherung und Inspiration verwendet wird, dass er zum Kampfwort und Totschlag(nicht)argument verkommt? So gerät auch die literarische Übersetzung schnell in Verruf – als hegemoniale Anmaßung, als Akt purer Gewalt, der vermeintlich kolonialen Terror reproduziert. Forsche Thesen, wie sie die französische Literaturwissenschaftlerin Thiphaine Samoyault in ihrem Buch Traduction et violence vertritt. Und weil forsche Thesen gern aus dem Zusammenhang gerissen und durch die Mühle sozialer und anderer Medien gejagt werden, zwitschern sie sich schnell herum und verbinsen in Blitzgeschwindigkeit. Werden zu hochfrequentierten Gemeinplätzen fern jeder historisch fundierten und künstlerisch bewussten Betrachtungsweise. So rasch lassen sie sich weder rekontextualisieren noch argumentativ widerlegen.
Und dennoch: Muss ich mich jetzt als quasi professionelle „Culture Vulture“ eines Verbrechens schuldig bekennen, das ich seit Jahrzehnten begehe? Obwohl ich sicher eine unverbesserliche Wiederholungstäterin bleiben werde (Wiederholungstäterin in jeder Hinsicht, denken wir nur an den unsterblichen Pierre Menard1)? Trotzdem sehe ich mich in diesem Sommer 2022, in dem gefühlt jede Woche weiße Musiker·innen wegen ihrer schamlos übernommenen Haartracht Bühnenverbot erhalten2, wenn nicht gerade Winnetou als koloniales Zerrbild schlechthin aus deutschen Kinderköpfen verbannt werden soll, gezwungen, meinen persönlich-beruflichen Wiederholungszwang wenigstens zu reflektieren. Und das kann ja nicht schaden, weder mir noch anderen (hoffe ich).
Zu Beginn dieser Überlegungen stand ein Rundgang im frühsommerlichen Rosarium der Darmstädter Mathildenhöhe, wo Novalis, Fontane und Frédéric Mistral gemeinsam erblühen, Elbflorenz auf Monaco trifft, Nostalgie auf Charisma, und Saloon an Pink Paradise grenzt, während zur Corrida die Wedding Bells erklingen, begleitet von La Traviata und Broceliande, alldieweil Admiral und Schöne Maid sich die Hände oder genauer die Zweige reichen. Wie die Rosen zu solchen Namen kommen, bleibt das Geheimnis ihrer Züchter·innen, aber mir erschien dieser Garten wie ein Sinnbild kultureller Überlieferung, die zeitliche, räumliche, gattungseigene, ja auch geschmackliche Grenzen aufhebt und uns allen ein kollektives Erbe bietet, aus dem wir jeweils ganz individuell schöpfen können, um es fruchtbar zu machen – und lebendig zu halten.
Ein allzu (buchstäblich) rosafärberisches Bild, angesichts aktueller Debatten, die gelegentlich über bloßes Frisurendissen3 oder die Dämonisierung von Karl May hinausgehen? Schon gerät meine farbenprächtige, üppig wuchernde, wohltönende, betörend duftende und bei aller Vielfalt, aller Disparatheit doch so harmonische Welt ins Wanken. Halt, zugleich auch Ehrenrettung für dreadverlockte Weiße, finde ich zunächst beim britisch-nigerianischen Autor Ralph Leonard, der uns bereits vor zwei Jahren zurief: „Stop apologising for cultural appropriation“4, diese Form der Aneignung sei nicht nur fortschrittlich, sie sei auch: antirassistisch. Musik in meinen Ohren, so sehe ich das doch auch, und das schon seit ich denken kann. Leonard erinnert daran, dass der Vorwurf der Kulturgeierei jederzeit jeden treffen kann, selbst Beyoncé wurde der Ausbeutung einer fremden Kultur bezichtigt, als sie sich einmal in einen glitzernden Sari hüllte. Und er führt aus, wie das Konzept der „kulturellen Aneignung“ aus dem akademischen Elfenbeinturm postkolonialer Studien in die Popkultur drang und zum Mainstream-Politikum wurde, eine Entwicklung, die Leonard selbst sehr kritisch sieht. Er warnt vor „identitarian gatekeeping“ und beklagt die Ironie, die darin liegt, dass die meisten Gegner·innen kultureller Aneignung sich selbst als radikale Befürworter von Diversität, Zuwanderung und einer multikulturellen Gesellschaft sehen – nur dass sie die praktischen Folgen einer solchen Symbiose ablehnten: Meinungsvielfalt, künstlerische Innovation, Erweiterung des eigenen Horizonts und Entfesselung der Vorstellungskraft. Folgerichtig zitiert er Edward Said (der mit seiner Kritik zerstörerischer europäischer Überheblichkeit bekanntlich den Weg für die postkolonialen Studien bereitete): „The history of all cultures is a history of cultural borrowing.“
Die Geschichte kultureller Anleihen (oder eben: Aneignung) hat vielleicht niemand so klangvoll eklektisch auf den Punkt gebracht wie die Schweizer Musikerin Sophie Hunger, die in mindestens drei Sprachen singt und überall heimisch scheint:
„Und so entsteht in meinen Ohren und Augen auch Kultur – indem man Dinge von anderen übernimmt, die eigentlich nicht zu einem gehören … sei es Max Bruch, der das berühmteste Kol Nidrei schreibt, gespielt von einer [zum Judentum] konvertierten britischen Cellistin, sei es Jacques Brel, der von Franz Liszt gestohlen hat, dessen ´Ne me quitte pas` seine Vollendung aber bei Nina Simone gefunden hat, auf Französisch mit amerikanischem Akzent ...“5
In Haruki Murakamis Erzählung „Drive My Car“ wird Onkel Wanja auf einer Tokyoter Bühne in die Meiji-Zeit versetzt, und zwar durch einen Regisseur und Schauspieler, dessen Name an Kafka erinnert (Kafuku). In der gleichnamigen, oscarprämierten Verfilmung von Ryūsuke Hamaguchi wird Tschechows Klassiker in Hiroshima ganz alteuropäisch, geradezu altväterlich inszeniert (das Bühnenbild, die Kostüme), aber avantgardistisch besetzt: die Schauspieler·innen stammen unter anderem aus Japan, Taiwan/USA oder Südkorea und agieren jeweils in ihrer Muttersprache, die taubstumme Koreanerin in Zeichensprache. Ein berückend babylonischer Universal-Tschechow – das ist mir von diesem überhaupt sehr sehenswerten Film vor allem in Erinnerung geblieben.
Umso größer meine Freude, als ich beim koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han – der bereits vor zwanzig Jahren über diese Fragen nachdachte – diese bis heute gültigen Zeilen lese:
„Aneignung heißt abstrakt, daß ich etwas vom Anderen zum Inhalt meines Seins mache. So ist sie auch ein Prozeß des Lernens und der Bildung. Ich eigne mir etwa die Fremdsprache, die Sprache des Fremden, an. Dabei habe ich nicht den Anderen seiner Sprache beraubt. Im Gegenteil spreche ich mit ihm seine Sprache. Aneignung der Fremdsprache macht eine besondere Nähe zum Fremden erst möglich. Sich die Sprache des Anderen aneignen heißt gerade, sich um den Anderen, um dessen Sprache bemühen. […] Aneignung in diesem Sinne übt auf den Anderen keine Gewalt aus. […] Aneignung der Fremdsprache bedeutet nicht, daß ich meine Sprache auf die Sprache des Anderen projiziere oder diese auf jene reduziere. Diese Projektion macht gerade jedes Lernen, jede Bildung unmöglich. Ursprüngliche Aneignung ist dagegen weltbildend. Nur ein Idiot oder Gott lebt ohne Aneignung.“6
Selbst wenn wir wollten, könnten wir kein kulturelles Reinheitsgebot einhalten (im Kleinen hieße es ja, unseren Gewürzschrank leerräumen, die Balkonpflanzen – oder Rosensträucher! – ausreißen, den Obstkorb auskippen, das Gemüsebeet einebnen). Ohnehin sollte die Geschichte, eine lange Geschichte von Unterdrückung und Vernichtung, uns gelehrt haben, wo solche Bestrebungen hinführen. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht, denn diese – oft, aber nicht immer unreflektiert erhobenen – Vorwürfe machen auch mir bewusst, wie fließend die Grenzen sein können, zwischen künstlerischer Inspiration und materieller Ausbeutung. Dabei lassen sich durchaus klare Grenzen ziehen: Verwerflich sei nicht, dass eine Band wie die Beatles ihr geballtes Knowhow einem Künstler wie Blind Willie Johnson verdankt, zitiert Ralph Leonard den politischen US-Dichter Amiri Baraka, sondern dass Blind Willie Johnson nach wie vor als Liftführer in Jackson, Mississippi arbeitet (während die Beatles Millionen scheffeln). Das Problem sei die Ungleichheit, nicht die vollkommen natürliche kulturelle Aneignung. So tritt der philosophisch versierte Musikjournalist Jens Balzer nicht von ungefähr für eine Ethik der Appropriation ein, die die jeweils herrschenden Machtverhältnisse berücksichtigt, und hebt damit das Niveau der Debatte konstruktiv an:
„Eigentlich müsste man einen Imperativ formulieren: Appropriiere! Eignet euch an, was euch in die Quere kommt – aber tut es respektvoll. Oder tut es so, dass die unterschiedlichen angeeigneten Kulturen darin sichtbar bleiben und eure Perspektiven darauf deutlich sind, dass ihr verstanden habt, wo das politisch-historisch herkommt.“7
Diesen Imperativ lasse ich mir (im Gegensatz zu vielen anderen) gern gefallen, aber das liegt vielleicht daran, dass ich ihm schon so lange folge. Weil Übersetzen ohne Respekt vor dem Original undenkbar ist und wir Übersetzer·innen seit Jahren zunehmend die eigene und die fremde Perspektive reflektieren, nicht nur still am Schreibtisch, sondern öffentlich, im Austausch mit anderen, die sich tagtäglich ähnlichen Problemen stellen, und dieser Austausch erfolgt auch interdisziplinär, künstlerisch wie wissenschaftlich, mit wachsendem Widerhall und Niederschlag. Immer häufiger werden Vor- oder Nachworte verfasst, um unsere Perspektive, unsere Auseinandersetzung mit dem politisch-historischen Kontext des Ausgangstextes, dem aktuellen Rezeptionskontext in der Zielkultur und dem eigenen Standpunkt offenzulegen. Wer aus einstigen Kolonialsprachen übersetzt, kann nur begrüßen, dass man sich nun auch hierzulande öffentlichkeitswirksam mit der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzt, solange die Debatte nicht zu Denk- und Sprachverboten führt, sondern uns generell offener, zugänglicher, durchlässiger macht für das, was wir übersetzen beziehungsweise rezipieren. Wenn wir durch so behutsame wie beherzte Aneignung fremdsprachiger Literatur Wortschatz, Klangfülle, Rhythmenreichtum, syntaktisches Repertoire des Deutschen erweitern, Mehrsprachigkeit wagen, die im Ausgangstext selbstverständlich ist. Das Deutsche auf friedfertige, kreative Weise kolonisieren, nach dem Vorbild einer die Grenzen jeder nationalen Identität und nationalen Literatursprache sprengenden Wortkünstlerin wie Dagmara Kraus: „Ich pollackiere. Ich pollackiere Dich, Deutsch. Kolonisiert, polonisiere ich zurück. Ich pollagiere nach Dir, mein Deutsch.“8 Das setzt voraus, dass wir unsere Berührungsängste überwinden, aber ich möchte sie – bei nie endender Überlegung – nicht missen. Sie regen zum Nachdenken und Nachforschen an, schulen das Feingefühl, lassen uns genauer hinsehen und hinhören, tragen also zu einem ethischen Handel(n) mit Sprache bei.
Werden diese Voraussetzungen erfüllt, ist nach Aneignung der Fremdsprache im Sinne Byung-Chul Hans auch das Übersetzen kein Akt der Gewalt, sondern zärtliche Zuwendung. Kein Plündern und Geiern, sondern wundersame Vermehrung, ein Mit-teilen. Das Original bleibt unangetastet, während seine fremdsprachige Fassung mehr und mehr Menschen erreicht und im besten Fall Neugier weckt, Lust macht – auf noch mehr kulturelle Annäherung, Aneignung, moralisch unbedenkliche Bereicherung.
Bamberg