TALKS RundUmschau Auf der Suche nach einem gewaltfreien Übersetzen
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Auf der Suche nach einem gewaltfreien Übersetzen

Zur soeben erschienenen Anthologie Violent Phenomena

Eine neue Anthologie zum Thema Literaturübersetzung sorgt gerade für Aufregung in der englischsprachigen translation community. Violent Phenomena: 21 Essays on Translation1, herausgegeben von Kavita Bhanot und Jeremy Tiang bei Tilted Axis Press in England – der Titel ein Zitat aus Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde – versammelt Beiträge, die aus verschiedenen Blickwinkeln kolonialistische Impulse in der Geschichte des Übersetzens ausleuchten und erste Schritte leisten, sie abzubauen. „Vor allen Dingen“, schreiben die Herausgeber, stelle das Buch „die althergebrachte Vorstellung von der Neutralität des Übersetzens und der Übersetzenden“ in Frage, denn die Übersetzung sei „in jeder Hinsicht politisch“.2 Fast alle Autoren sind selber als literarisch Übersetzende tätig. Unter den Beiträgen findet man sowohl theoretische und historische Ansätze wie auch textnahe Analysen der (oft eigenen) Übersetzungsarbeit. Es geht um die strukturellen Schwierigkeiten in der Übersetzung zwischen Ländern, die früher in einer kolonialen Beziehung zueinander standen, um Unübersetzbarkeit (unwillkürliche bzw. gewollte), um die Schwierigkeiten und Freuden der Zusammenarbeit in und durch die Übersetzung, und mitunter auch um die Verweigerung, sich übersetzen zu lassen. Dem alten Glauben, nur in die Muttersprache hinein lasse sich kunstvoll übersetzen, wird schnell den Garaus gemacht. Überhaupt wird der Begriff „Mutterspache“ einer Neuerwägung unterzogen, zumal die meisten Menschen weltweit mehrsprachig aufwachsen; und die Sprache, in der viele schriftstellerisch tätig sind, entspricht nicht unbedingt der zuerst gelernten. Das ist hier nachzulesen bei den Übersetzenden Anton Hur („The Mythical English Reader“) und Lúcia Collischonn („Freed from the Monolingual Shackles: A Mongrel Crônica for the Mutt Translator“). Mehrere Autoren erzählen von der Erfahrung, als nicht-weiße Übersetzende im Literaturbetrieb ausgegrenzt zu werden. Dahingegen schreibt Layla Benitez-James in „Proust’s Oreo“ von der Gefahr - auch für translators of color – zu viel von eigenen Erfahrungen der Diskriminierung auf die zu übersetzenden Autoren und Texte zu schließen. In „‘Blackness‘ in French: On Translation, Haiti, and the Matter of Race“, erörtert Kaiama L. Glover die Schwierigkeiten, Elemente eines Romans von René Depestre ins Englische zu übersetzen, die sich mit im englischen Sprachraum längst geläufigen rassistischen Stereotypen überschneiden: „Der Vorgang des Übersetzens kann genauso gut zur Exotisierung und zu unfreiwilligem Verstummen als zu Vereinigung und Subversion führen“.3 Sofia Rehman beschreibt die Art und Weise, wie „aufgezwungener Patriarchalismus“4 in der Übersetzung von alten islamischen Texten die Grundlagen für eine feministische Deutung der Texte systematisch ausschloss („Seeking Hajar: Decolonising Translation of Classical Arabic Texts“); sie schlägt vor, statt manhandling („grob behandeln“), eine womanhandling des zu übersetzenden Textes einzuführen. „Considering the Dystranslation of Zong!“ – ein Gespräch zwischen der kanadischen Lyrikerin M. NourbeSe Philip und Barbara Ofosu-Somuah – beschreibt ein gescheitertes Übersetzungsprojekt, nachdem ein langes, als historische Trauerarbeit entstandenes Gedicht in der Übersetzung aus (weiß-)europäischer Sicht umgedeutet wurde und darum von der Dichterin abgelehnt wurde. Andere Autoren berichten von den Schwierigkeiten, denen sie als translators of color, Übersetzende mit Behinderung, bzw. Übersetzende Dalit-Autoren begegnen, und von der sprachlich-literarischen Sachlage etwa in Armenien, Mozambik, Singapur, und Wales. Überhaupt wird in diesen sehr klug zusammengestellten Essays viel und spannend vom Übersetzerhandwerk erzählt. Violent Phenomena bietet reichlich Gedankenstoff auch für deutschsprachige Übersetzende (insofern sie den Text auf englisch lesen können). Heiß empfohlen!

18.10.2022
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Susan Bernofsky ist Autorin und Übersetzerin aus dem Deutschen. Sie übersetzte viele Werke von Robert Walser und schrieb seine Biographie (deutsche Übersetzung voraussichtlich 2024 bei Suhrkamp Verlag). Für ihre Übersetzungen von Yoko Tawada, Jenny Erpenbeck, Franz Kafka, Hermann Hesse u.a. wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderen mit dem Helen und Kurz Wolff-Übersetzerpreis, dem Calwer Hermann-Hesse-Übersetzerpreises, dem John Simon Guggenheim-Stipendium, dem Independent Foreign Fiction Prize, und dem Schlegel-Tieck Prize. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Columbia University, New York, wo sie das Programm für Literarisches Übersetzen leitet.

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