Hügel und Giebel
Zu den polnischen Neuübersetzungen von Ulysses & Anne Of Green Gables
Das Phänomen ist uns schmerzlich vertraut: Aktuelle Ereignisse aus der Welt der Übersetzung sind kaum je Gesprächsthema, es sei denn unter unmittelbar Betroffenen. In Polen ist jedoch in jüngster Zeit gleich zwei Neuübersetzungen von Klassikern dieses Kunststück gelungen. Die eine hat sogar einen kleinen Eklat hervorgerufen, inklusive des unvermeidlichen Schlagabtauschs in den Social-Media-Kanälen.
2021 erschien nach siebenjähriger Arbeit Maciej Świerkockis Neuübersetzung des Ulysses von James Joyce. Zahlreiche Artikel zur Tätigkeit des Übersetzens und zur Übersetzung selbst, sowie ausführliche Interviews mit dem Übersetzer waren in der Kultur- und Tagespresse zu lesen. Świerkocki wurde mit mehreren Preisen bedacht. Und er legte einen viel beachteten Führer durch seine Neuübersetzung unter dem Titel Łódź Ulissesa vor, in dem er Einblicke in die Übersetzerküche und sein Ringen mit dem Textmaterial gewährt.
Die zweite Übersetzung, die es ins Licht der Öffentlichkeit geschafft hat, ist die im Januar 2022 erschienene neue polnische Version von Anne of Green Gables aus der Übersetzerinnenfeder von Anna Bańkowska. Sie war es auch, die für einigen Wirbel sorgte. In Polen kennt das Buch von Lucy Maud Montgomery jede Leserin (und auch ein Gutteil der Leser). Und vielen liegt es sehr am Herzen. Daher kochten schon bei der Ankündigung des neuen Titels durch den Verlag die Emotionen über.
Anne Of Green Gables war in Polen bislang als Ania z Zielonego Wzgórza geläufig, „Ania vom Grünen Hügel“. Die Autorin der Neuübersetzung wollte mit diesem Fehler aufräumen, der seit der Erstübersetzung aus dem Jahr 1911 immer wieder reproduziert worden war. Rozalia Bernsteinowa hatte den Titel damals in Anlehnung an die schwedische Übersetzung geprägt, die sie als Ausgangstext nutzte. Der „grüne Hügel“ bürgerte sich in Polen dermaßen ein, dass in den gut ein Dutzend nachfolgenden Übersetzungen niemand daran zu rühren wagte. Dabei steht gable lediglich für die charakteristischen Giebel in der Region Kanadas, in der die Geschichte angesiedelt ist. Wohl wissend, welchen Widerspruch die Änderung hervorrufen würde, hatte die Übersetzerin dem Verlag ursprünglich die Verwendung des Titels der Netflix-Serie Anne with an E vorgeschlagen. Dass es dann doch die Giebel wurden, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Autorin selbst in ihren Tagebüchern und in mehreren Gedichten ihre Sympathien für dieses Fassadenelement bekundet hat. Sie soll die in zahlreiche Übersetzungen eingegangene Verfremdung sehr bedauert haben.
Doch damit ist der Titelskandal nicht etwa zu Ende. Es gibt ja noch den Namen der Titelheldin, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Polen Ania hieß. So fest war dieser Name verwurzelt, dass selbst der Serientitel in der polnischen Netflixversion Ania, nie Anna lautet (Ania, nicht Anna), was in gewissem Widerspruch zum Original steht, indem es der verniedlichenden Koseform den Vorzug gibt. Der Aussage der Titelheldin widerspricht es obendrein: „Anne spelled with an e […] looks so much nicer. When you hear a name pronounced can’t you always see it in your mind, just as if it was printed out? I can; and A-n-n looks dreadful, but A-n-n-e looks so much more distinguished.” 1
Die mediale Aufregung beschränkte sich fast ausschließlich auf die Titelfrage, dabei hört die Übersetzung doch nicht beim Cover auf. Anna Bańkowska gab sämtlichen Figuren die originalen Namen zurück, in der ersten Übersetzung waren sie teilweise polonisiert worden, ohne erkennbares Konzept. Gilbert blieb Gilbert, Prissy Prissy, aber aus Matthew wurde Mateusz, aus Marilla Maryla und, das ist nun wirklich der Giebel: aus Rachel Małgorzata. Offenbar befürchtete man, der Figur könnte sonst eine jüdische Herkunft unterstellt werden. Die Neuübersetzung arbeitet zudem mit den originalen geografischen Bezeichnungen. Im Gespann mit fachkundigen Gewährsleuten hat die Übersetzerin auch die Namen von Pflanzen korrigiert, insbesondere von Blumen, die in der Welt der Protagonistin eine so wichtige Rolle spielen. Sie tilgte die Namen von Pflanzen, die in Kanada überhaupt nicht vorkommen. Andere erhielten neue Namen, so wurde mayflower, wofür es bislang im Polnischen keine Entsprechung gab, zu majownik.
Anna Bańkowska (geb. 1940), die über 100 Übersetzungen vorgelegt hat, schreibt in ihrem Vorwort: „ich bin mir des ‚Verrats‘ bewusst, den ich an der Generation ihrer [d.s. die Leserinnen und Leser, Anm. IN] Mütter und Großmütter begangen habe. […] ich bekenne mich schuldig: Ich habe Ania getötet, den Grünen Hügel zerstört […]. Ich bitte jedoch als strafmildernden Umstand zu berücksichtigen, dass sich irgendwer eines Tages dieser undankbaren Aufgabe annehmen musste.“ Nicht alle sind ihrer Bitte gefolgt. Im Internet hagelte es Kommentare, in denen Ausdrücke wie „Entweihung“ oder „Herumtrampeln auf der Kindheit“ fielen, sogar sexistische Texte fanden sich, die auf die gemeinsame Wurzel von szczyt (Giebel) und szczytowanie (Höhepunkt, Orgasmus) zielten. Die Übersetzerin wurde als gefallsüchtig und sensationslüstern diffamiert. In einem Interview für die Zeitschrift Wysokie obcasy äußerste sie sich dazu wie folgt: „Die Aggressivität, die in jüngster Zeit allenthalben zu spüren ist, findet auch in den Diskussionen um die Übersetzung ihren Ausdruck.” Besonders häufig tritt sie zutage, wenn von der sogenannten Tradition die Rede ist (was immer damit gemeint sein mag). Die hier auf getreue Einhaltung der Tradition pochen, kritisieren die Treue zum Original. Das Fremde klinge fremd, lautet ihr Vorwurf. Sie beharren auf der Treue zum Altbekannten, das sie zum Kanon der eigenen Kultur erhoben haben.
Sicher nicht einfordern werden diese Treue diejenigen, an die sich der Titel eigentlich richtet, die Generation der jungen Leserinnen, die „das Buch noch nicht kennen und die noch nicht durch Ania oder den Hügel ‚verdorben‘ sind. Also kann die Änderung sie auch nicht verletzen oder empören“, so Anna Bańkowska in einem Interview für die Gazeta Wyborcza. Aber ist das Buch für jugendliche Leserinnen heute überhaupt noch eine lohnende Lektüre? Auf diese Frage antwortete mir Joanna Żygowska vom Centrum Sztuki Dziecka in Poznań, die zu Kinder- und Jugendliteratur forscht: „Die Diskussion zeigt doch, dass erwachsene Frauen diese Ania brauchen, für die das Buch eine wichtige Kindheitslektüre war. Verglichen mit heutigen literarischen Mädchenfiguren, ist Anne/Ania keine so revolutionäre Gestalt mehr. Die neuen Geschichten über das Mädchensein sind längst ganz woanders.“