Und jetzt ein Manifest
Zufallsberührung
Dass meine Berührung mit Najat El Hachmis Büchern derart intensiv wurde, war Zufall. Als Schriftstellerin kannte ich sie, seit sie 2015 mit dem Roman La filla estrangera – der Emanzipationsgeschichte einer jungen marokkanischstämmigen Migrantin – in Katalonien und Spanien einen viel diskutierten Bestseller gelandet hatte.
Vier Jahre später, im Herbst 2019, kam ich mit dem Verlag Orlanda in Kontakt. Ich moderierte und dolmetschte zwei Lesungen mit der mallorquinischen Autorin Llucia Ramis, von der Orlanda einen Roman veröffentlicht hatte. Am zweiten dieser Abende, im Literaturhaus Berlin, ergab sich nach der Veranstaltung ein längeres Gespräch mit Annette Michael, der Verlegerin. Sie hatte gerade die deutschsprachigen Rechte für Najat El Hachmis La filla estrangera erworben, doch ihr war die Übersetzerin abhanden gekommen. Ob ich mir vorstellen könne, einzuspringen?
Ich konnte es mir einerseits gut vorstellen, denn La filla estrangera ist ein Roman, den ich bewundere, für seine Kraft, seine Sprache, seine Schonungslosigkeit. Andererseits war auch 2019 die Debatte, wer für wen sprechen kann oder darf, schon so akut, dass ich unwillkürlich fragte: Ist es denn kein Problem, wenn ich als weißer Mann eine marokkanischstämmige Autorin übersetze? Mit einem Buch über den doppelten Kampf einer jungen Frau gegen die Zwänge ihrer Herkunftsgemeinschaft und den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft?
Ich bin froh, dass ich mich habe überreden lassen. Nach Eine fremde Tochter habe ich auch Najat El Hachmis jüngsten Roman, Am Montag werden sie uns lieben, übersetzt, und aus dem Anlass verfasste ich ein TOLEDO-Journal1, in dem ich unter anderem auf die Frage »Darf ich das überhaupt?« zurückkam. Am Ende des entsprechenden Abschnitts schrieb ich: »Ich habe überlegt, Najat El Hachmi selbst zu fragen, wie sie es findet, dass ein weißer Mann sie übersetzt. Aber was sollte sie darauf in diesem Rahmen schon antworten, ich habe sie als einen sehr höflichen Menschen kennengelernt. Lieber frage ich es sie ganz direkt, wenn wir – hoffentlich – gemeinsame Veranstaltungen machen können mit Am Montag werden sie uns lieben.«
So lange musste ich nicht warten. Noch ehe zur Frankfurter Buchmesse 2022 endlich unser erster gemeinsamer nicht-virtueller Auftritt anstand, hatte ich Gelegenheit, Najat El Hachmi in Barcelona zu treffen. Mir war dort ein Aufenthaltsstipendium des mit uns Übersetzer·innen aus dem Katalanischen allzeit großzügigen Institut Ramon Llull zugesprochen worden, und zwar für meine Arbeit mit einem dritten El-Hachmi-Buch.
Eisenschmelze
Das heißt, es kam zum persönlichen Austausch gerade in dem Moment, als meine Berührungsangst am größten sein musste. Denn der Text, den ich nun übersetzte, war kein Roman, sondern ein feministisches Manifest. Eine Streitschrift, die sich gleichermaßen gegen islamischen Fundamentalismus und seine Maskerade als vermeintlich dekoloniale Bewegung richtet wie gegen eine Strömung innerhalb der europäischen Linken, die sich – auf Kosten der »muslimischen Frauen« – zur Komplizin dieses Etikettenschwindels macht. Ein Aufschrei gegen die Wiederkehr der sexistischen »Gesetze des Vaters« durch postmoderne Hintertürchen und eine leidenschaftliche Absage an das Konzept eines »islamischen Feminismus«.
Lauter verdammt heiße Eisen, wenn einer wie ich sie ins Deutsche übertragen soll:
– Die innerfeministische Debatte, ob Freiheit und Gleichstellung universelle Ziele sind oder Parolen einer ethnozentrischen Agenda.
– Der Kampf von Mädchen und Frauen aus muslimisch geprägten Gemeinschaften gegen die multiple Unterdrückung, der sie ausgesetzt sind.
– Die Frage nach einer kohärenten linken Haltung gegenüber dem Anspruch, der Islam sei Teil einer diskriminierten, schützenswerten Identität.
Zum Glück verstanden Najat und ich uns analog sogar noch besser als digital; eine sehr angenehme Premiere von Eine fremde Tochter im Pandemieformat hatte mich in dieser Hinsicht schon optimistisch gestimmt. Bei unserem zweiten Treffen in Barcelona sprachen wir ausführlich über das Thema »Wer kann, wer darf?«, und Najat gab mir einen Satz mit auf den Weg, der mir sehr geholfen hat: »Wenn du mich nicht übersetzen könntest, hieße das, ich wäre als Autorin gescheitert.«
Ein Satz mit Tragweite. Natürlich schmeichelt er mir, denn er drückt großes Vertrauen in meine Arbeit aus. Vor allem aber formuliert er ein Selbstverständnis: Die Autorin richtet ihr Schreiben nicht an eine bestimmte Community. Sie möchte sich nicht unter Voraussetzungen, sondern für alle verständlich oder zumindest verstehbar machen. Universalität ist der Anspruch oder wenigstens das Ziel. Wenn nur eine ihr identitär ähnliche Person imstande wäre, sie so gründlich zu lesen wie für eine Übersetzung nötig, hätte sie ihr Ziel verfehlt. Entsprechend geduldig war sie mit meinen Fragen bei der Arbeit mit ihrem Text.
Dringlichkeit
Najat El Hachmi beließ es nicht dabei, mir einen erbaulichen Satz zu schenken. Drei Wochen nach unserem Gespräch widmete sie dem Thema ihre Kolumne in der spanischen Tageszeitung El País. Sie gab ihr den Titel ¿Quién puede traducirme? (»Wer kann mich übersetzen?«), und der Vorspann besteht aus dem besagten Satz in einer drastischeren Formulierung: Si yo, como escritora, no consigo ser comprendida por alguien cuya experiencia no tiene nada que ver con la mía, habré fracasado estrepitosamente en mi empeño de expresarme (»Wenn es mir als Schriftstellerin nicht gelingt, von jemandem verstanden zu werden, dessen Erfahrung nichts mit meiner eigenen gemeinsam hat, bin ich in meinem Streben, mich zu artikulieren, krachend gescheitert«).
Noch ein Zitat aus der Kolumne: Pero, por absurda que sea, la visión identitaria se ha impuesto y no es raro que a un traductor varón se le pregunte cómo ha sido capaz de traducir un libro escrito por una mujer. Como si habláramos idiomas distintos y el sexo, el color de piel, la clase social o la procedencia del autor fueran automáticamente las del texto que escribe. (»Doch so absurd sie sein mag, hat sich die identitäre Sichtweise durchgesetzt, und nicht selten wird ein männlicher Übersetzer gefragt, wie er imstande war, ein von einer Frau geschriebenes Buch zu übersetzen. Als würden wir unterschiedliche Sprachen sprechen und als wären Geschlecht, Hautfarbe, soziale Klasse oder Herkunft des Autors automatisch auch die des Textes, den er schreibt.«)
Najat El Hachmi ist nicht nur Schriftstellerin, sie ist eine streitbare politische Denkerin mit klaren Haltungen. Der emanzipatorische Universalismus zählt zu den Positionen, die sie vehement verteidigt. Sie sieht sich als Linke in einer aufklärerischen, laizistischen Tradition. In ihrem nun von mir weißem Mann übersetzen Manifest schildert sie eindringlich, wie die »universellen Prinzipien der Aufklärung« sie bei ihrer persönlichen Revolte gegen die »Gesetze des Vaters« und bei ihrem Ausbruch aus dem »religiösen Patriarchat« angeleitet haben.
Im Original erschien das Buch bereits 2019, unter dem Titel Sempre han parlat per nosaltres (wörtlich: Immer haben sie für uns gesprochen). Der mittelbare Anlass, es zu schreiben – so erklärt die Autorin in ihrem Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe –, waren die dschihadistischen Terroranschläge in Barcelona und Cambrils im Sommer 2017; der unmittelbare Anlass aber die Reaktion der spanischen Öffentlichkeit auf die Attentate: »Was speziell uns Frauen betrifft, verblüffte mich, wie sowohl die Politik als auch die Medien beschlossen, die beste Antwort auf den Fanatismus der Terroristen sei, dem Islam zu größerer Sichtbarkeit zu verhelfen – und dies gelinge am ehesten, indem überall der Hidschab gezeigt werde. Bilder von verhüllten Frauen im öffentlichen Raum, so argumentierten linke Parteien, seien der unumstößliche Beweis für eine integrative, die Diversität achtende Gesellschaft.«
Najat El Hachmis Manifest reagiert auf den Moment, in dem für sie das »optimistische Bild vom unaufhaltsamen Fortschritt in Sachen unserer Rechte und Freiheiten« zerbricht, weil sich eine vermeintlich antirassistische Linke in den Dienst einer gewalttätig misogynen religiösen Strömung stellen lässt. In diesem Moment gerät der universalistische Anspruch – die Überzeugung, dass jedes Mädchen, jede Frau auf der Welt, egal, welcher Herkunft, die »vollständige, nicht in die Grenzen einer Religion eingepferchte Freiheit« verdient – von drei Seiten unter Beschuss. Von rechts ja ohnehin, vonseiten der religiösen Fanatiker eh, nun aber auch von weiten Teilen der Linken. Zum Verzweifeln.
Wir wollen die ganze Freiheit! So lautet der Titel, den wir in Absprache mit der Autorin der deutschsprachigen Fassung des Manifests gegeben haben. Wie dringlich diese Forderung ist, zeigt seit September die Revolution der Frauen in Iran. Der Befreiungskampf gegen das religiöse und politische Patriarchat wird für Millionen von Menschen zum Kampf ums Überleben. Die mörderischen Repressionen des Regimes gegen Protestierende und Missliebige – Straßenterror, Massenverhaftungen, Todesurteile wegen »Kriegsführung gegen Gott« – sind der Grund, warum der Verlag die Veröffentlichung von Wir wollen die ganze Freiheit! vorgezogen hat. Fast vier Jahre nach seiner Publikation im Original ist Najat El Hachmis Buch wieder einer der Texte zur Stunde.
Transferprobleme
Doch weder mit dem Argument der Dringlichkeit noch mit dem Vertrauensbeweis der Autorin lösen sich die Probleme beim Übertragen des Manifests. Es handelt sich um einen katalanischen Text, um einen Text, der auf spanische Realitäten reagiert. Sein Ausgangspunkt ist eine Gesellschaft, in der die »marokkanische Immigration« den weitaus größten Teil der muslimisch geprägten Bevölkerung ausmacht. Und um eine politische Kultur, in der linke oder linksliberale Kräfte zum Ausweis ihrer Wokeness Plakate kleben, »auf denen ein Mädchen mit Afro neben einem Mädchen mit Kopftuch abgebildet ist«.
Solche Eigenheiten müssen in der deutschsprachigen Fassung erhalten bleiben. Und nicht zuletzt untermauern sie performativ-praktisch ein wichtiges Argument des Textes: dass es eben nicht, wie die Fundamentalisten behaupten, den »einen, wahren Islam« gibt, sondern unzählige Auslegungen und Erscheinungsformen der Lehre Mohammeds. Der Transfer einer spanischen Realität in eine des deutschen Sprachraums, in dem die muslimisch geprägte Bevölkerung vielerorts eher Wurzeln in der Türkei, in Staaten den Nahen Ostens oder in Afghanistan hat, sollte für die Leser·innen keine Hürde sein. Um das zu gewährleisten, muss die Übersetzung eine schlüssige Kombination aus Texttreue und Zugänglichkeit schaffen.
Gewisse Eingriffe scheinen mir hingegen unvermeidlich, wenn zum Beispiel ein Wort wie tribu (Stamm) im Original unmarkiert im Text steht: Hier lässt sich das Problem der in beiden Sprachen unterschiedlichen, im Deutschen stärker abwertenden Konnotationen nur durch Anführungszeichen oder Kursivierung lösen. Oder wenn rassistische, nicht nur angeblich, sondern tatsächlich islamfeindliche Haltungen im katalanischen Text der ultradreta, also der extremen Rechten zugeordnet werden, während solche Positionen in Deutschland auch bei Parteien der sogenannten bürgerlichen Mitte gang und gäbe sind: Hier muss die Übersetzung den Eindruck vermeiden, dass struktureller Rassismus verharmlost werde. Und wenn die Neigung zum Bündnis mit Islamisten im Schafspelz polemisch der politischen Linken als Ganzer unterstellt wird, finde ich es wichtig zu berücksichtigen, dass sich diese Pauschalisierung auf das hiesige linke Spektrum nicht übertragen lässt: Es ist in seinem Umgang mit Versuchen, ein »System sexistischer Herrschaft« als »diskriminierte Identität, die es zu schützen gelte«, zu verkaufen, ja deutlich differenzierter.
Die Berührungsängste, was einen politischen Diskurs, seine Geschichte und Gegenwart, seine unausgesprochenen Regeln betrifft, sind für das Übersetzen dieses Manifests ebenso wichtig wie die Berührungsängste angesichts der Frage, ob ich mich überhaupt heranwagen darf. Wo immer auf der Welt interne Streitigkeiten der Linken auftreten, sind sie ein Wespennest. In Spanien, mit seiner im Vergleich zum deutschsprachigen Raum traditionell offener unsachlichen Debattenkultur, steht bei Najat El Hachmis Positionen außer Frage, dass es linke Positionen sind – auch da, wo sie kein gutes Haar an »der Linken« zu lassen scheint. Würde ihre Haltung in der deutschsprachigen Fassung nicht mehr links wirken, wäre ich als Übersetzer gescheitert.
Die für mich größte Herausforderung bei der Arbeit mit Wir wollen die ganze Freiheit! waren tatsächlich die Passagen über den Flirt der Linken mit dem Islamismus. Und die Passagen über den Disput zwischen einem Feminismus mit universellem Anspruch und einer Strömung, die dem »weißen westlichen Feminismus« eine ethnozentrische, kolonialistische Agenda vorwirft. An diesen Stellen kann ich nur hoffen, dass mir der Transfer gelungen ist.
Vieles beeindruckt mich an Najat El Hachmis furchtlosem und brillant argumentiertem Text. Zu seinen Stärken eher auf den zweiten Blick zählt für mich die Leidenschaft, mit der er das Ringen zwischen einer strikt laizistischen, dem Prinzip der Gleichstellung und Herrschaftsfreiheit ohne Wenn und Aber verpflichteten Linken und einem für identitätspolitisch begründete Ausnahmen vom emanzipatorischen Konsens empfänglichen Teil der Linken abbildet. Und ja, manche Zuspitzung hat auch mich aufgeschreckt, und ich bin gespannt auf die hiesigen Reaktionen.
So oder so: Das Buch muss Najat El Hachmis Stimme behalten. Auch an potentiell heiklen Stellen darf ich ihm nicht meine Stimme aufdrängen. Vor allem in dieser Hinsicht sind Berührungsängste nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig. Es ist ein Glück, dass wir Najats Texte haben, ihre Bücher, Kolumnen, Interventionen, in diesen Zeiten massiver ideologischer und religiöser Zombie-Attacken. Und es ist mein Glück, dass ich sie übersetzen darf. Mein schwieriges Glück.