Eine komische Geschichte
Tuba war zehn Jahre alt, als sie in ihrer Einsamkeit ankam.
Sie stand vor der Haustür, ihre Tränen unterdrückend, der schwere Schulranzen auf dem Rücken, die Beine müde von der Last, die auf ihrem Herzen lag.
Ihre Mutter Aynur öffnete die Tür. Und Tuba die Schleusen, an denen sich die Tränenströme angestaut hatten, die ihr nun endlich über die runden Wangen flossen. Aynur erschrak beim Anblick ihrer schluchzenden Tochter. Am ganzen Leibe zitternd holte sie Tuba herein, tastete sie ab, drehte sie, wendete sie, zog ihr die Schuhe aus, wusch ihr das Gesicht, den Dreck von den Händen und traute sich nicht zu fragen, was geschehen war. Tuba weinte inzwischen immer lauter, ihre Unterlippe bebte. In Aynurs Kopf lief sich ein Schreckensszenario nach dem anderen ab. Ihr Herz drohte ihr aus der Brust zu springen. Ihr Kopf rauschte. Heiß wurde ihr, kalt und heiß und kalt.
»Du hättest nie Mutter werden dürfen«, sagte eine Stimme in ihrem Kopf, die seit zehn Jahren zum Rauschen ihres Alltags gehörte. Seit dem Moment, als sie panisch – gerade aus der Narkose erwacht – realisierte, dass Stunden seit dem Kaiserschnitt vergangen waren und sie ihre Tochter nicht ein einziges Mal berührt, in den Armen gehalten hatte. Die Stimme räusperte sich und setzte an. Sie habe versagt, ihre Tochter allein gelassen. Keine Bindung aufgebaut. Seither kämpfte Aynur gegen diese Stimme an. Heute hatte sie keine Kraft, der Stimme zu widersprechen. Dieses kleine Wesen war ihr alles. Sie hatte ihm alles gegeben – oder es hatte ihr alles geraubt, so genau wusste es Aynur nicht mehr. Nur dass all ihre Hoffnung, Liebe, unausgesprochenen Wünsche und unerfüllten Träume in diesem Kind waren. Und dieses Kind lebte einfach. Erlebte einfach. Unabhängig und losgelöst von ihr. Mitsamt all ihrer, Aynurs, Verletzlichkeiten lief es unbeirrt durch die Welt. Und ließ Aynur noch ängstlicher, noch verwundbarer werden, an Stellen, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie weh tun konnten. Und an Stellen, von denen sie dachte, sie seien verheilt. Tuba aber lief weiter und weiter durch diese für Aynur unbekannte, bedrohliche Welt. Diese dunkle Welt mit dieser groben Sprache, den harten Regeln, den ungewohnten Gewohnheiten und dem ganzen »Nein, nein, nein!«, durch das sie sich vorsichtig, verschreckt und verunsichert ihren Weg bahnte.
Die Dinge, die Aynur sagte und tat bewirkten nicht das, was sie sich wünschte. Die Menschen reagierten hier anders, als sie es gewohnt war. Ihr Lächeln, der Kuchen und das Essen auf Tellern, die sie ihren Nachbarn überreichte, die holprigen Gesprächsversuche, sie wurde nie aufgenommen. Nie verstanden. Und in diese Welt, die sie nicht begriff, nicht verstand, in diese Dunkelheit sollte sie ihre Tochter also begleiten, ihr einen Weg bahnen, den sie selbst doch kaum sah. Und jetzt lag dieses kleine Wesen in ihrem Armen und weinte bitterlich. Aynurs Herz drohte ihr aus der Brust zu springen, sie zitterte und fragte, was Tuba zugestoßen war.
Und dann erzählte sie, endlich. Von der neuen Schule und ihren ehemaligen Freundinnen, die nicht mehr ihre Freundinnen waren. Davon, dass sie »wirklich niemand, überhaupt niemand« mochte. Erleichterung und Wut zugleich machten sich in Aynur breit. Erleichterung über alles, was doch nicht geschehen war. Und Wut, Wut, Wut über ihre Verunsicherung, ihre Machtlosigkeit. Wut, Wut, Wut über all die Frauen, die durch spitze Bemerkungen diese Ängste in ihr gesät hatten. Solche, die vor diesem »Jimmy Lazım« gewarnt hatten. Vor den Klassenausflügen, Drogen und Dingen, die Aynur nicht einmal in ihren Gedanken auszusprechen wagte. Auf dieses »Jimmy Lazım«, das eigentlich Gymnasium hieß, so erfuhr sie irgendwann, durften nur die klügsten Kinder gehen. »Nicht einmal Fatmas Tochter war länger als ein Jahr auf dieser Schule, sagten sie. Wie sollte es Tuba schaffen? Fatmas Tochter hatte keinen Namen, kein Gesicht, nur grüne Augen, für die sie alle lobten. Fatmas Tochter hatte keinen Mund, nur Hände. Sie half fleißig im Haushalt, widersprach nie. Der große Stolz, das Glück der Frauen, die nebeneinander und auf dem Boden saßen mit übervollen Tellern auf ihrem Schoß. Jetzt war Fatmas Tochter auf einer Schule gemeinsam mit all den anderen Kindern aus der Nachbarschaft. Im Visier der scharfen Augen und noch schärferen Urteile der Frauen.
Natürlich würde es Tuba dort schaffen. Aynur hatte es schließlich auch geschafft. Zwar in einem anderen Land, in einer anderen Sprache, aber sie wusste, dass ihr Wissensdurst auch in diesem kleinen Wesen war. Tuba würde es schaffen auf dieser Schule. Das wusste ihr Mutterherz.
Und jetzt lag Tuba schluchzend auf ihrem Schoß und klagte über Freundinnen, die sie angeblich nicht mehr mochten. Aynur atmete tief ein.
»Das stimmt nicht, Tubacım. Es lieben dich so viele Menschen. Ich liebe dich. Baba liebt dich. Babaanne liebt dich. Dede liebt dich. Anneanne liebt dich.« Aynur zählte sie alle auf. All die Menschen, die ihre Tochter bedingungslos liebten. Wirklich liebten. Sie war der Sonnenschein der Familie, brachte Licht in die Dunkelheit. Und ihre Tochter wurde ruhiger. Hörte auf zu schluchzen. »Aber Anne, meine Freundinnen. Sie mögen mich nicht mehr.« »Bist du sicher?« »Ja. Sie spielen nicht mehr mit mir.« Und dann erzählte sie von den großen Pausen, die sie alleine auf der Schultoilette verbrachte. Wie sie bei Zweier-Gruppen immer alleine blieb, in dieser ungeraden Klasse. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Anne.« Dann weinte sie, ohne zu schluchzen. Der Kopf auf dem Schoß ihrer Mutter, tief einatmend, ihren Schmerz teilend, während die Mutter ihr die schwarz leuchtenden Haare streichelte, so wie sie es immer tat, wenn sie traurig war oder weinte.
Aynur war ratlos. Was macht eine Mutter in einer solchen Situation? Sie hatte nie weinend auf dem Schoß ihrer Mutter gelegen. Würde eine Mutter die Eltern der Mädchen anrufen? Was sollte Aynur ihnen sagen? Oder vielmehr, wie? Sie hatte noch nie mit ihnen gesprochen. Und was könnten die Eltern ausrichten? Sie können ihre Töchter ja nicht zwingen, Tuba zu mögen. Tuba, sie musste sich ändern. Aushalten, dass es Menschen gibt, die sie nicht mögen werden. »Sie ist zehn, verdammt nochmal!«, rief eine andere Stimme in ihrem Kopf. »Sie muss gar nichts.« Ich muss ihr aber helfen. Vielleicht könnten sie gemeinsam einen Kuchen für die Klasse backen?
»Na gut. Ich habe eine Idee, wie wir es hinkriegen, dass sie dich wieder mögen. Wir machen ihnen ein Geschenk, ja?«
Tuba richtete sich auf, ihre Augen geschwollen und gerötet, aber leuchtend vor Begeisterung. »Oh ja, Anne! Eine super Idee!«
»Also gut, ein Kuchen?«
»Nein, nein, nein, Anne. Das ist doch überhaupt nicht besonders.« Tuba hatte schon über Wochen erfolglos ihr Pausenbrot verschenkt.
Damit hatte Aynur nicht gerechnet. Was könnten sie verschenken? »Ein Bild…? Oder eine Geschichte?«
Tuba dachte nach, bis Aynur sie irgendwann begeistert ausrufen hörte: »Ja, Anne! Eine komische Geschichte.«
Aynur war erleichtert und gleichzeitig unsicher, wie sie eine komische Geschichte schreiben sollten. Noch dazu auf Deutsch. Aber ihr würde sicher etwas einfallen, einfach loslegen. Sie eilte zum kleinen weißen Schrank im Flur, auf dem das Haustelefon stand, mit Zetteln und Stiften in der Schublade. Sie schnappte sich Stift, einen Block mit liniertem Papier und setzte sich zu ihrer Tochter auf den Boden.
»Auf diesem linierten Papier, Anne?« »Ja. Gefällt es dir nicht?« »Nein, Anne, das sieht dann doch nicht schön aus.« Aynur war verwirrt. »Na gut, dann such du das Papier aus.« Tuba holte aus demselben Schrank ein paar lose Zettel Blankopapier. Aynur nahm sich einen Zettel und begann zu schreiben. »Es war einmal«, so hatte sie es gelernt im Deutschkurs. So fangen Geschichten für Kinder an.
»Nein, nein, nein, Anne! Es soll komisch sein!«
»Geduld, mein Schatz.« Sie schrieb weiter. »Es war einmal eine P–.«
»Anne, nein, nein, nein! Was machst du da? Es soll doch komisch werden!«
»Tuba, Geduld! Es wird schon noch komisch.«
»Anne! So geht komisch nicht.«
»Meine Güte, warte doch einfach ab! Du hast dir doch eine komische Geschichte gewünscht.«
»Ich hab mir keine komische Geschichte gewünscht, sondern einen Comic.«
Tuba hatte »Comic« gesagt. Aynur aber hatte »komik« verstanden. »Komik« war Türkisch und bedeutete »komisch«. Ihre Tochter hatte aber Deutsch gesprochen. Sie hatte sich eine Comic-Geschichte gewünscht. Eine komische Geschichte, hatte Aynur geglaubt verstanden zu haben.
Aynur wurde es eng ums Herz. Sie verstand ihre Tochter nicht. Das kleine Wesen war ihr in der Dunkelheit aus der Hand geglitten. Sie war zu spät. Wäre sie doch bloß früher aus der Narkose erwacht. Hätte sie es doch sofort an die Brust gelegt. Sich sofort mit dem kleinen Wesen verbunden.
Tuba betrachtete ihre Mutter, als würde sie sie das erste Mal sehen. Ihre Mutter war plötzlich so klein, verletzlich, zerbrechlich. Nicht allwissend. Nicht stark. Kein Felsen, an den sie sich lehnen könnte. Vor ihr saß ein verunsicherter, ängstlicher Mensch, der sie irritiert anblickte. Ein kleines, unscheinbares Missverständnis schrie in voller Lautstärke die Wahrheit durch den Raum: Sie war einsam.
Aynur streckte die Hand nach Tuba aus. Hinter Tubas glasigen Augen stürzte aber gerade eine Welt ein. Ihre Mutter streckte und streckte ihre Hand, doch sie erreichte sie nicht mehr. Es reichte nicht mehr aus.
Tuba drehte sich um und stampfte weiter durch die Dunkelheit, durch die sie jetzt schon besser sehen konnte, als Aynur es jemals tun würde. Und ließ ihre Mutter zurück.
Aynur war 32 Jahre alt, als sie in ihrer Einsamkeit ankam.
Dieser Text erschien im Rahmen von Stille Post, ein deutsch-französisches Schreibprojekt über die Kraft der Missverständnisse. Das Literaturprojekt am Literaturhaus Stuttgart wurde gefördert von der Dr. Karl Eisele und Elisabeth Eisele Stiftung und dem Institut français de Stuttgart.