TALKS Stille Post Vom Bauch
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Vom Bauch

In aller Unschuld

„Die Welt ist ein Bauch“, das habe ich gedacht. Ich erinnere mich genau. Ich war ungefähr zehn Jahre alt und ich war in der Grundschule. Wir packten damals die ersten Russischstunden an. Damals sagte man nicht „erste Fremdsprache, die Sprache erster Wahl“, denn diese Sprache hatte einen ganz eigenen Platz und nicht nur im Unterricht. Sie war eine Kategorie für sich, mit einem eigenen, unstrittigen Platz. Fremd und überall gegenwärtig.

Ohne die Frage der Wahl konnte man sich völlig auf ihren Erwerb einlassen, es gab keine Alternative. Sie weckte unsere Neugier. Am Anfang mussten wir das kyrillische Alphabet lernen, es entziffern, lesen und schreiben. Ich persönlich fand die Schrift sehr schön. Ein bisschen skurril. Die Sprache hatte Zeichen für Laute, die in meiner eigenen Sprache unbekannt waren. Die mir bekannten drückte sie anders aus. Um ehrlich zu sein, öffnete mir der Zugang zu dieser neuen Sprache neue Horizonte.

Das Vokabellernen war selten eintönig, oft sogar recht leicht, da sich unsere Sprachen ähneln, beide sind slawisch. Dann trat eine gewaltige Überraschung ein, als ich „falsche Freunde“ entdeckte. Schon die Freundschaft mit der Sowjetunion war generell problematisch, die Dinge wurden im Bereich der Sprache noch komplizierter.

Falsche, offiziell anerkannte Freunde, Wörter, die sich fast gleich aussprechen ließen und überhaupt nicht dasselbe bedeuteten. Es war verstörend, dieser Eindruck zu verstehen und unrecht zu haben oder ganz falsch zu liegen.

Zum Beispiel das Wort Bauch, das auf Tschechisch nicht besonders schön ist, es ist eher ein lustiges Wort, dickbäuchig, wenn ich das so sagen darf, und vor allem für viele Fremde unaussprechbar wegen des Buchstabens ř, der eine wahre Mundgymnastik verlangt. Von diesem Wort hat man den Mund voll, es muss mit dem Bauch ausgesprochen werden. Urteilt selbst über die Schönheit des Wortes „břicho“. Die Kinder lachen oft darüber. Es ist anders für die Diminuitive „břiško“ oder „břoušek“, die liebkosen, obwohl ihre Aussprache genauso schwierig ist.

Der Bauch heißt also auf Russisch „život“, gesprochen „schiwot“, und das heißt auf Tschechisch „das Leben“. Das Leben auf Russisch heißt (ich schreibe es in phonetischer Umschrift) „schisni“.

Ich, begeistert von der intellektuellen Tätigkeit, eine neue Sprachwelt zu entdecken, verwechselte „das Leben“ und „die Welt“. Also war für mich der russische Bauch zur tschechischen Welt geworden.

Stellt euch vor, man vertauscht in den Sätzen das Wort „Bauch“ mit dem Wort „Leben“. Und ersetzt das Wort „Bauch“ durch das Wort „Welt“! Sehr ihr, was ich meine?

Ich wüsste gern, wie viele Kriege gewonnen oder verloren wurden wegen des Hungers. Mir scheint, der Hunger vernichtet die Armeen gewisser als der an Zahl oder Ausstattung mächtigere Feind, oder der gerissenere, er wirft den tapfersten Krieger nieder  und schafft es, an der Richtigkeit des Kriegsgrundes zweifeln zu lassen. Vielleicht sichern sich diejenigen den Sieg, denen es gelingt, an einem Kiesel zu lutschen, überzeugt, mit diesem Trick satt zu sein, als wäre es ein recht saftiges Stück Fleisch.   

Wenn der Mensch darauf reduziert ist, nur Magen zu sein, wenn sein Denken vom Hunger verzehrt wird, wird seine Menschlichkeit auf die des wilden und ungezähmten Tiers reduziert. Ist der Mensch noch zu einem Opfer für das Überleben seiner Spezies in der Lage, wenn zu essen sein einziges Ziel ist?

Ich denke an ein Inuit-Märchen, das ich in meiner Kindheit gelesen habe und das mich noch heute belastet und beunruhigt.

Im Iglu erwartet die Familie, das heißt die Großmutter, die Mutter, der Vater und der Säugling, das Ende des Winters, der so kalt und lang ist, dass es unmöglich ist, auf die Jagd zu gehen, um alle zu ernähren. Die Vorräte sind beinahe aufgebraucht und eine Entscheidung muss getroffen werden. Also geht der Vater fort. Er isst zu viel, das ist der erste gute Grund sich seiner zu entledigen, und dann wird er mit ein wenig Glück draußen überleben, weil er die Waffen zu verwenden weiß. Er ist stark und hält sich noch gut. Übrigens hat er ein Recht auf eine doppelte Portion bei seiner letzten Mahlzeit mit der Familie, bevor er geht. Und dann gibt es immer noch die Hoffnung, dass er für alle etwas zum Essen bringt, wenn er zurückkehrt. Die Frauen und das Baby werden sich zurechtfinden, hoffend auf seine Rückkehr wie auf die des Frühlings.

Der Mann kehrt zurück. Nach Tagen, Wochen vielleicht – niemand zählt die Zeit, die er auf der Jagd verbracht hat – erschöpft und geschwächt, mit doch ein paar Stücken gefrorenen Fleischs, die er sich vom Mund abgespart hat, wo er doch schrecklichen Bedingungen während seines Zwangsexils in der feindlichen Natur ausgesetzt war. Was für eine Überraschung ist es doch, seine Mutter noch guter Gesundheit vorzufinden; er hätte gewettet, sie stürbe als erste. Sie hält ihm das Kind hin, ein gut genährtes, lächelndes, glückliches Baby. Der Mann weint vor Freude. Dann fragt er nach seiner Frau, der Mutter des Kindes. Die Antwort seiner Mutter überrascht ihn: „Umarme dein Kind fest, es ist, als hieltest du sie in den Armen.“

Ich habe begonnen, die Bäuche der Menschen um mich herum aufmerksam zu beobachten. Ich hatte die Achtung bemerkt, die mein Vater für den Bauch meiner Mutter hatte, besonders wenn dieser begann dicker zu werden, bis man uns die baldige Ankunft meiner kleinen Schwester verkündigte. Eine Zeitlang betrachtete ich ihn wie einen ganz undankbaren Verdauungstrakt, bevor ich mich selbst wie ein großer gefühlloser Bauch fühlte, und ich betrachtete meine Mutter als mögliche Mahlzeit. Ich war froh darüber, in einer Gegend zu leben, wo die Winter endeten, bevor es im Laden an der Ecke nichts mehr zu kaufen gab, und ich beruhigte mich damit, dass unser Keller voller Marmeladen war. Plötzlich verstand ich ihre Notwendigkeit. Sie bewahrten mich vor diesem letzten Äußersten, meine Mutter essen zu müssen, um zu überleben.

Abgesehen davon sind die anderen Märchen, weniger exotisch als das von jenseits des Polarkreises, auch nicht gerade zimperlich. In Hänsel und Gretel sind die Kinder die mögliche Mahlzeit und in Rotkäppchen ist der Wolf nicht abgeneigt, aus der Großmutter ein Festmahl zu machen. Und was ist mit all den Märchen und Fabeln, in denen der mehrköpfige Drache vor Lust brennt, die schöne Prinzessin zu kosten?

Mich persönlich ließen diese Art Märchen nicht einschlafen, sondern sie ließen meine Vorstellungskraft brodeln und machten mich nebenbei hungrig. Ich fühlte etwas in meinem Körper und meiner Seele. Und dieses „etwas“, unnennbar, weil mir die Worte und die Lebenserfahrung fehlten, verursachte Angst.

Ich schloss daraus, dass die Welt vom mächtigen Bauch-Gott beherrscht wurde, in guten wie in schlechten Zeiten. Und dieser ganz heidnische Gott hatte zwei Königinnen, zwei Dienerinnen: meine Großmütter.

Ja, daran denke ich, wenn ich den dritten Teller in Butter und Crème Fraîche badenden Kartoffelgratins betrachte, den meine Großmutter vor mich hinstellt. Nicht möglich abzulehnen, wie höflich auch immer. Wie kann man sich der maßlosen Liebe dieser Frau widersetzen? Alles, was sie nicht mit Worten ausdrücken kann, ist auf diesem Teller, und ich, ich kann ihr meine eigene Liebe nur zeigen, wenn ich alles verschlinge, was sie für mich zubereitet. Ihr zu sagen, dass ich sie liebe, macht keinen Sinn. Das sind nur Worte. Essen, das ist ein Beweis. Und essen schläfert diese tief sitzende, unnennbare Angst ein, eine Eingeweideangst, bei ihr wie bei mir. Und morgen wird das gleiche Liebesritual vor meinem üppig beladenen Teller bei der anderen Großmutter wieder begonnen werden müssen, Gleichheit ist Pflicht.

Ich habe irgendwo gelesen, dass man unter den unzähligen Hieroglyphen, derer sich Ägypten rühmen kann, unter anderem den alltäglichen Gruß entziffert hat. An Stelle des „Guten Tag“, das wir uns für gewöhnlich wünschen, sorgten sich die alten Ägypter um den Zustand der Leber ihres Gesprächspartners. Wenn es der Leber gut geht, geht es dem Menschen gut. Weder Herz noch Seele noch Kopf, nein, die Leber. Das Zentrum des Wohlergehens sitzt laut ihnen in diesem geheimnisvollen Organ, dem einzigen, das sich in unserem Körper regenerieren kann. Man schneidet sich einen Finger ab, er wächst nicht wieder. Man schneidet einem ein Stück Darm ab, es ist endgültig, das gilt auch für die Lungen. Aber die Leber regeneriert sich. Was für ein Organ der Hoffnung, Vorzimmer der guten Verdauung, großartige Fabrik, die ihren Eigentümer mit Wohlergehen versorgt. Was für eine Geduld muss sie mit uns haben.

Im Vergleich dazu hört sich ein „wie geht es dir?“ banal an. Aber täuschen wir uns nicht; der Ausdruck ist wohl älter als die Beschauung des königlichen Nachttopfs bei dessen Aufwachen, galt doch schon im Mittelalter diese Frage den Alten, um zu erfahren, ob sie den Darm richtig entleert hatten.

Wenn sich die Ägypter für den Anfang der Verdauung interessieren, bevorzugen andere Gegenden ihr gutes Ende. In jedem Fall sind die geheimnisvoll mäandernden Wege des Bauchs von höchster Wichtigkeit.

Da meine Großmütter den Krieg gekannt haben (ganz gleich welchen), ähneln sie sich, sie kennen den Preis jedes Gerichts auf dem Tisch. Sie leben mit der Angst im Bauch, dass das Biest jeden Moment auftauchen könnte und die Ihren verschlingen. Das Lieblingssprichwort meiner Großmutter war: „In Kriegszeiten werden die Dicken dünn sein und die Dünnen tot.“ Zu sehen, wie dünn wir waren, zerriss ihnen das Herz.

Oft frage ich mich am Ende der Mahlzeit, ob aus meinem Leben mit der gut gestrafften Haut eines Tages ein Bauch hervorkommen wird, der meine Welt sein wird, ob mein Bauch rund läuft, ob die Welt am Leben ist und ob das Leben eines Tages in meinem Bauch seinen Anfang nimmt.

©Lenka Horňáková Civade

Dieser Text erschien im Rahmen von Stille Post, ein deutsch-französisches Schreibprojekt über die Kraft der Missverständnisse. Das Literaturprojekt am Literaturhaus Stuttgart wurde gefördert von der Dr. Karl Eisele und Elisabeth Eisele Stiftung und dem Institut français de Stuttgart.

20.12.2022
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©Mathias Caumont

Lenka Horňáková Civade, geboren 1971 in Prostějov, Tschechien, ist Malerin und Schriftstellerin. Gebürtige Tschechin, lebt sie ab 1994 in Frankreich. Nach einem Studium an der Karls-Universität Prag erwirbt sie eine Licence in Bildender Kunst an der Université Paris I La Sorbonne. Seit 2010 veröffentlicht sie literarische Texte, zunächst auf Tschechisch und ab 2016 auf Französisch und in Eigenübersetzung auf Tschechisch. Sie erhält 2016 den Prix Renaudot des Lycéens für Giboulées de soleil (dt. Das weiße Feld, 2017) und 2018 den Prix Richelieu de la Francophonie für Une verrière sous le ciel. Seit 2007 werden ihre Bilder in Tschechien und Frankreich in Ausstellungen präsentiert. Sie ist Mitglied der Kommission des Centre National du Livre für die Übersetzung französischsprachiger Texte in andere Sprachen.

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