Stille Post
Ein deutsch-französisches Schreibprojekt über die Kraft der Missverständnisse
„Stille Post“ heißt das legendäre Kinderspiel, das auf dem Verhören, der Veränderung von Nachrichten basiert, begleitet von der Lust, der Freude am Missverstehen durch die mehrfache Weitergabe von Worten. Wird im Spiel eine Ausgangsnachricht flüsternd an den jeweiligen Nachbarn weitergegeben, überträgt das deutsch-französische Literaturprojekt „Stille Post“ diesen Ausgangsimpuls auf ein Schreibprojekt. Ergibt sich im Spiel das Vergnügen durch die Auflösung der Missverständnisse, sind diese in unserem Alltag bisweilen nicht auflösbar und eher selten Quell der Freude. Im Literaturspiel „Stille Post“ jedoch führte das Weiterreichen der Texte zu überraschenden Korrespondenzen und Auffächerungen von Missverstehen. Sechs Beiträge sind in der genannten Reihenfolge während des Projekts, zwischen Februar und Juli 2022, entstanden, von Sami Tchak (Französisch) – Kübra Gümüşay (Deutsch) – Lenka Horňáková Civade (Französisch) – Anja Utler (Deutsch) – Cécile Wajsbrot (Französisch) – Alida Bremer (Deutsch). Sie machen Verhören, Missverstehen, Fehldeuten produktiv. Sprachliche Ähnlichkeiten und Differenzen werden zum Anlass, um über Beziehungen zwischen Menschen, Sprachen und Ländern nachzudenken. Häufig sind es Erfahrungen der Kindheit und Jugend, auf die die Autor·innen zurückgehen – eine Zeit, in der Sprache spielerisch, aber auch schmerzhaft erfahren wird. Der Übersetzungsprozess, den die entstandenen Essays und Erzählungen auch thematisieren, ging in das Spiel selbst ein, indem die Texte, bevor sie weitergereicht wurden, in die andere Sprache übersetzt wurden (Annette Bühler-Dietrich und Françoise Joly).
Am 19. Juli 2022 lasen die Autor·innen ihre Texte im Literaturhaus Stuttgart, der Abend ist auf Dichterlesen.net nachzuhören.
Das Literaturprojekt am Literaturhaus Stuttgart wurde gefördert von der Dr. Karl Eisele und Elisabeth Eisele Stiftung und dem Institut français de Stuttgart.
Ein deutsch-französisches Schreibprojekt über die Kraft der Missverständnisse
„Stille Post“ heißt das legendäre Kinderspiel, das auf dem Verhören, der Veränderung von Nachrichten basiert, begleitet von der Lust, der Freude am Missverstehen durch die mehrfache Weitergabe von Worten. Wird im Spiel eine Ausgangsnachricht flüsternd an den jeweiligen Nachbarn weitergegeben, überträgt das deutsch-französische Literaturprojekt „Stille Post“ diesen Ausgangsimpuls auf ein Schreibprojekt. Ergibt sich im Spiel das Vergnügen durch die Auflösung der Missverständnisse, sind diese in unserem Alltag bisweilen nicht auflösbar und eher selten Quell der Freude. Im Literaturspiel „Stille Post“ jedoch führte das Weiterreichen der Texte zu überraschenden Korrespondenzen und Auffächerungen von Missverstehen. Sechs Beiträge sind in der genannten Reihenfolge während des Projekts, zwischen Februar und Juli 2022, entstanden, von Sami Tchak (Französisch) – Kübra Gümüşay (Deutsch) – Lenka Horňáková Civade (Französisch) – Anja Utler (Deutsch) – Cécile Wajsbrot (Französisch) – Alida Bremer (Deutsch). Sie machen Verhören, Missverstehen, Fehldeuten produktiv. Sprachliche Ähnlichkeiten und Differenzen werden zum Anlass, um über Beziehungen zwischen Menschen, Sprachen und Ländern nachzudenken. Häufig sind es Erfahrungen der Kindheit und Jugend, auf die die Autor·innen zurückgehen – eine Zeit, in der Sprache spielerisch, aber auch schmerzhaft erfahren wird. Der Übersetzungsprozess, den die entstandenen Essays und Erzählungen auch thematisieren, ging in das Spiel selbst ein, indem die Texte, bevor sie weitergereicht wurden, in die andere Sprache übersetzt wurden (Annette Bühler-Dietrich und Françoise Joly).
Am 19. Juli 2022 lasen die Autor·innen ihre Texte im Literaturhaus Stuttgart, der Abend ist auf Dichterlesen.net nachzuhören.
Das Literaturprojekt am Literaturhaus Stuttgart wurde gefördert von der Dr. Karl Eisele und Elisabeth Eisele Stiftung und dem Institut français de Stuttgart.
- Verfasser·in
- Alida Bremer
- Kübra Gümüşay
- Lenka Horňáková Civade
- Sami Tchak
- Anja Utler
- Cécile Wajsbrot
- Autor·in
- Sprache Beitrag
- Deutsch
- Französisch (français)
- Land
- Frankreich
- Schlagworte
- Stille Post
Un jour, dans le village de Tèdi, un bélier blanc disparut. Rapidement, les soupçons se tournèrent vers un homme : le Vieux Amadou. Le voleur, c’était lui, ça ne pouvait être que lui. Le chef du village le convoqua au tribunal pour qu’il soit jugé.
Eines Tages verschwand im Dorf Tèdi ein weißer Widder. Rasch kehrten sich die Verdächtigungen einem Mann zu: dem Alten Amadou. Er war der Dieb, es konnte nur er sein. Der Dorfoberste lud ihn vor Gericht, damit ihm der Prozess gemacht würde.
Tuba war zehn Jahre alt, als sie in ihrer Einsamkeit ankam. Sie stand vor der Haustür, ihre Tränen unterdrückend, der schwere Schulranzen auf dem Rücken, die Beine müde von der Last, die auf ihrem Herzen lag.
Tuba avait dix ans lorsqu’elle rejoignit sa solitude. Elle était debout à la porte de la maison, ravalant ses larmes, son lourd cartable dans le dos, ses jambes chancelant sous le fardeau qui pesait sur son cœur.
En toute innocence
« Le monde est un ventre », voilà ce que j'ai pensé. Je me rappelle très bien. J’avais à peu près dix ans et j’étais dans une classe qui correspond en France au CM2. On abordait alors les premières leçons de russe.
In aller Unschuld
„Die Welt ist ein Bauch“, das habe ich gedacht. Ich erinnere mich genau. Ich war ungefähr zehn Jahre alt und ich war in der Grundschule. Wir packten damals die ersten Russischstunden an.
Erst als ich zu studieren anfing, habe ich auch ernsthaft damit begonnen, slavische Sprachen zu lernen. Meine Vorstellungen davon, wie sich 'die anderen Sprachen' wohl anhören, hatten sich bereits gebildet, am Englischen und den romanischen Sprachen. Denn obwohl ich in großer geographischer Nähe zur Tschechoslowakei aufgewachsen war, war der Klang slavischer Sprachen in meiner Kindheit abwesend: Wir führten gerade alle zusammen das Stück Eiserner Vorhang auf.
C’est seulement en commençant mes études que je me suis mise sérieusement à étudier les langues slaves. Je m’étais déjà formé, au contact de l’anglais et des langues romanes, une idée de la manière dont s’entendent les « autres langues ». Et bien que j’aie grandi tout près de la Tchécoslovaquie, la sonorité des langues slaves avait été complètement absente de mon enfance. Tous autant que nous sommes, nous étions alors les acteurs d’un spectacle qui s’appelait Rideau de fer.
Je me souviens, j’avais quatre ou cinq ans. Avec mes parents nous passions les vacances d’été en Italie et je jouais avec une petite fille italienne de mon âge. Je me souviens, sur la plage, je lui disais – et je me vois près de la mer, pieds nus, et j’entends la rumeur des vagues. Si je ne suis pas sûre de l’image, je suis sûre du son. Je disais, tu vois, ça, c’est une chaussure. Eh bien en français, ça se dit chaussure.
Ich erinnere mich, ich war vier oder fünf Jahre alt. Mit den Eltern verbrachten wir die Sommerferien in Italien und ich spielte mit einem kleinen italienischen Mädchen meines Alters. Ich erinnere mich, am Strand sagte ich ihr – und ich sehe mich nahe dem Meer, barfuß, und ich höre das Rauschen der Wellen. Selbst wenn ich mir des Bildes nicht sicher bin, bin ich es doch des Tons. Ich sagte, siehst du, das, das ist ein Schuh. Also auf Französisch heißt das „chaussure“.
Es war eine Liebesgeschichte, die mich nach Deutschland führte, kein Krieg und keine wirtschaftliche Not. Ich war eine aufstrebende Literaturwissenschaftlerin, die in ihrer jugendlichen Naivität glaubte, dass es genügt, fleißig zu sein, und dann wird schon alles gut gehen, das Gefühl der Fremdheit wird sich legen, man wird mir Professuren anbieten, und ich werde nicht nur über Frauenliteratur forschen, sondern unvergessliche Bestseller schreiben, in welcher Sprache auch immer.
C’est une histoire d’amour qui m’a amenée en Allemagne, pas une guerre et pas la détresse économique. J’étais une ambitieuse spécialiste de la littérature qui, dans la naïveté de sa jeunesse, croyait qu’il suffisait de bien travailler pour que tout aille bien, je pensais que le sentiment d’étrangeté se dissiperait, qu’on me proposerait un poste de professeur à l’université et que non seulement je travaillerais dans la recherche sur la littérature féminine, mais aussi que j’écrirais d’inoubliables bestsellers, dans une langue ou une autre, peu m’importait.