Oft ist man zu schnell fertig
Doppelpremiere von JUNIVERS und RENGA am 12. Januar 2023 im Haus für Poesie
Für mich, seit 30 Jahren in Sachen Poesie unterwegs, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ich Bücher mit und Bücher zu Übersetzungen mache. Poesie liebt Übersetzung. Damit hat es sich aber auch schon mit den Selbstverständlichkeiten. Je älter ich werde, desto mehr schätze ich alles, was nicht selbstverständlich ist. Was sich von selbst versteht, wird schnell langweilig und öde. Mit dem, was sich von selbst und was man selber versteht, ist man schnell fertig. Je älter ich werde, weiß ich aber auch: Oft ist man zu schnell fertig. Oft verstehen wir vorschnell. Wir glauben, verstanden zu haben, haben aber vielleicht nichts erkannt. Das Oberflächenerkennen ist besser entwickelt als das Tiefenerkennen. Für den Alltag reicht es, eine Ahnung von etwas zu haben und sich so ungefähr auszukennen und zurechtzufinden. Aber für die Poesie? Keine Frage: Ahnungen sind für die Poesie wichtig. Aber genauer hinschauen, genauer hinhören ist wichtiger. Damit man auf den ungesicherten Wegen, die die Poesie mit Vorliebe wählt, nicht in die Irre geht. Statt schnell gehen, öfter stehen bleiben, sich umsehen. Die Schwierigkeiten beim Verstehen, die uns die Poesie bereitet, helfen dabei. Dafür sind die Schwierigkeiten da, fürs langsamer gehen, länger stehen bleiben, sich genauer umsehen. Dafür macht die Poesie Schwierigkeiten. Die Poesie liebt Schwierigkeiten. Wer könnte das besser wissen als die Übersetzerinnen von Gedichten? Sie treffen in jedem Wort eine Schwierigkeit an, und mit der Verbindung der Wörter potenzieren, poetisieren sich die Schwierigkeiten. Auch deshalb schätze ich die Arbeit von Übersetzerinnen. Sie haben es mit lauter Schwierigkeiten zu tun, die sie einerseits lösen und andererseits zu neuen Schwierigkeiten machen. Damit wir etwas zu lesen haben. Damit wir etwas zu lösen haben. Sollte diese meine kleine Rede einmal übersetzt werden, wird die Übersetzerin Schwierigkeiten haben mit der Verbindung von lesen und lösen.
Elke Erb hat mir einmal ein Editionsprojekt für Gedichte in einer anderen Sprache als der deutschen vorgeschlagen, ich weiß nicht mehr, um welche Gedichte in welcher Sprache es gehen sollte, ob überhaupt um konkrete Gedichte in einer konkreten Sprache und nicht vielmehr um alle Gedichte in jeder Sprache. Elke halt. Dieses Buch sollte zu den Gedichten keine Übersetzungen geben, keine Lösungen also, die sich aus den spezifischen Lesungen von Übersetzerinnen ergeben haben, sondern Wortlisten zu allen Wörtern eines Gedichts. Sehr viele, sehr lange Wortlisten. Ich war mir damals nicht sicher und ich bin es mir heute nicht, ob diese List der Übersetzerin Elke Erb zielführend wäre. Aber ihre Listen hätten bestimmt zu Schwierigkeiten geführt, und die Schwierigkeiten zu Diskussionen, und die Diskussionen hätten Anlass gegeben, auf dem Weg stehen zu bleiben, sich umzusehen und ein paar Schritte nach links, ein paar Schritte nach rechts zu gehen, wobei dies und das in den Blick geraten und erwogen worden wäre, bestimmt eher ahnungshaft zu Beginn und mit jeder Drehung und Wendung etwas sicherer. Demokratie halt, und das ist mindestens so gut wie jedes Ziel.
Vorgetragen von Urs Engeler am 12. Januar 2023 im Haus für Poesie im Rahmen der Veranstaltung Translation Games – Vom Kosmos eines Verses und der Gemeinschaft im Übersetzen.